Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind - Wilhelm Thöring


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„Die Rosa wird das ihr Leben lang ertragen müsse, Malchen, denn sie wird nie Kinder bekommen; kannst du dir einen Mann vorstellen, der einen Menschen wie die Rosa nehmen wird?“

      „Sag das nicht, sie ist ein guter Mensch.“

      „Ja, das ist sie. Aber der Mann müsste dann auch von demselben Holz sein. Und zwei Schwachsinnige? Wie soll das gehen? Und wenn ein anderer, ein Normaler, ein Gesunder sie nimmt, Malchen, dann wird sie es haben wie ein Hund.“

      Er lässt sich den Teller noch einmal füllen, und während er zu essen beginnt, fragt sie ihn endlich: „War es ein gutes Gespräch mit deinem Bruder?“

      Er nickt; damit muss sich die Frau erst einmal zufrieden geben. Später, als er auf der Ofenbank sitzt, sagt er: „Ich bin zum Umfallen müde. Was ist die härteste Arbeit in der Webstube oder im Feld gegen das Zuhören, das Rechnen, gegen angestrengtes Nachdenken! Und dann auf der Heimfahrt das Kind neben mir! Diese Fragerei, sein pausenloses Schwadronieren ... Der Junge wird vierzehn Jahre alt, aber der redet manchmal wie ein kleines Kind!“

      Schweigend hat die Frau neben ihm auf der Bank zugehört, wo sie Spitzen häkelt, mit denen sie ein Kopfkissen und Tischtücher einfassen will. Das, was Jendrik vom Bertel sagt, empfindet sie wie eine Stichelei gegen sich. Nach ihrer Meinung ist dieses Kind das verständigste und zuverlässigste von allen. Außerdem ist ihr keines ihrer Kinder so zugetan wie Bertel. Und auch sie liebt ihn in einer besonderen Weise. Sie liebt sie alle, aber mit Bertel ist es noch anders. Er hat ein Gespür für das, was die Mutter empfindet, denkt die Frau, und er lässt es sie auch wissen. Liebte sie ihn nicht in besonderer Weise, dann wäre sie damals nicht derart aus der Rolle gefallen, als der Webstuhl über den Jungen hinweg rutschte.

      Amalie erinnert sich, wie er nach dem Unfall ihrer Mutter zu ihr gekommen ist, um sie zu trösten. Das Kind war fünf Jahre alt, als sich dieses zutrug:

      Ihre Mutter, Anna Plaschke, stammte aus der Gegend von Plock, da wo die Weichsel sich zu einem See verbreitert und man sich von einem Fährmann helfen lassen muss, um ans jenseitige Ufer zu gelangen. Die Mutter lebte abgelegen in einem niedrigen, geräumigen Haus, das inmitten eines von einem hohen Zaun gesicherten Gartens lag, bei ihrem Sohn.

      Anna Plaschke hatte frühzeitig die Aufgaben der alten Frau auf dem kleinen Anwesen übernommen. Sie meinte sich darin nützlich machen zu müssen, dass sie bei Wind und Wetter mit einer Kiepe durch die Gegend streifte, um Brennmaterial für den Winter zu sammeln, so dass ihr Sohn sie anfangs ein wenig aufzog, später dann sogar mit der alten Frau schimpfte, weil er nicht wusste, wo die Äste und Tannenzapfen sicher vor dem Regen untergebracht werden sollten.

      An einem Spätsommerabend ist es gewesen, dass Anna Plaschke, gebückt unter der Last ihrer Kiepe, den Hof überquerte, um hinter dem Verschlag das Gesammelte abzuladen. Langsam war sie gegangen, die tiefstehende Sonne blendete sie, darum hatte sie ihr Kopftuch weit ins Gesicht gezogen.

      Im Frühjahr hatte sich ihr Sohn einen Zuchtbullen gekauft, ein wildes und kaum zu bändigendes Tier, dass er nur mit einer Stange führen konnte, die er an einem Ring befestigt hatte, den sie dem Bullen durch die Nase gezogen hatten. Außerdem war an seine Hörner eine dicke Eichenplatte gebunden, so dass er nur das sehen konnte, was er vor der Nase hatte. Ohne dass es von jemandem bemerkt worden war, hatte der Bulle im Stall die Platte vor seinen Augen zertrümmert, hatte sich losgerissen und stand in der Stalltür, verwirrt von der Weite, die er sah, vielleicht auch geblendet von der untergehenden Sonne, die er so noch nie gesehen hatte. Die alte Frau, die schräg an ihm vorüberzog, erregte ihn. Blitzschnell war er auf sie losgestürmt, schnaubend und mit gesenktem Kopf, und hatte mit der Spitze seines Hornes die Kiepe erwischt. Die alte Frau wurde einmal um die eigene Achse gewirbelt und gegen die Schuppenwand geschleudert. Dabei stieß sie mit dem Gesicht gegen einen herausragenden Nagel, der ihr das linke Auge aus dem Kopf riss. Ihr gellendes Geschrei machte den Bullen stutzig und erst einmal für einen neuen Angriff unfähig, so dass er sich wie eine harmlose und sanfte Kuh an seinen Platz führen und anketten ließ.

      Die Leute waren zusammengelaufen, und irgend jemand hatte der alten Frau das heraushängende Auge wieder in die Höhle gestopft. Sie aber stand ganz krumm und wackelig da und hielt sich die Schulter und klagte über Schmerzen, die sie im Rücken und in der Brust hatte.

      „Er hat sie im Rücken getroffen“, glaubte jemend von den Leuten zu wissen, der auf dem Anwesen von Amalies Bruder arbeitete; vorsichtig rieb der Mann die schmerzhaften Stellen, worauf die Frau noch mehr schrie und nach ihm schlug.

      „Wir brauchen den Schäfer! Der Schäfer muss her. Wenn hier jemand helfen kann, dann nur er. So lauft doch und holt ihn!“ schrie die Schwiegertochter der alten Frau.

      „Und das Auge? Mutter, was ist mit Ihrem Auge?“ fragte der Sohn. Die Alte winkte ab. Das war wohl nicht weiter schlimm gewesen. „Mutter, Ihr Auge hing heraus. Haben Sie denn da keine Schmerzen?“

      „Hier, hier“, jammerte die Mutter und fuhr sich mit den Händen über die Seiten und die Schultern.

      „Der Schäfer wird sofort kommen. Der wird Ihnen helfen, Mutter.“

      Der Schäfer war gekommen; er legte die alte Anna Plaschke auf den Lehmboden und befühlte und beklopfte sie lange, und hin und wieder bewegte er vielsagend und auch zweifelnd den Kopf dabei. „Hier muss es sein!“, stellte er fest, drehte die Alte auf die Seite und setzte sich auf ihre Hüfte und bog sie etwas.

      Anna Plaschke schrie auf und quiekte wie ein gestochenes Schwein und verlor das Bewusstsein; viele Tage lag sie da wie eine Tote. Die Kinder waren alle gekommen und saßen verzweifelt an ihrem Bett und warteten, dass sie endlich die Augen aufschlage.

      Auch Amalie war gekommen, und die vier Kinder hatte sie mitnehmen müssen, den Berthold und die Adelheid, die Rosa und den Edmund, dessen erster Geburtstag in die Zeit fiel, da sie am Krankenbett ihrer Mutter saß und wachte.

      Als Anna Plaschke erwachte, klagte sie nicht nur über ein Stechen und Reißen im Rücken, auch der Kopf tat ihr weh, und auf dem linken Auge konnte sie nichts mehr sehen. Sie war darauf blind geworden.

      Von diesem Unfall sollte sich die alte Frau nicht mehr erholen. Wenn es möglich war, dann ließ sie sich ans Fenster führen, um mit dem gesunden Auge auf die vom Wind bewegten Bäume oder die ziehenden Wolken zu starren; aber meistens lag sie mit zusammengekniffenem Mund im Bett, das Auge bewegungslos auf einen Punkt geheftet, und wenn sie angesprochen wurde, dann ließ sie sich mit der Antwort Zeit, so dass sie oft den Eindruck erweckte, als könnte sie auch noch schlecht hören.

      Die Großmutter war dem kleinen Berthold unheimlich, er fürchtete sich vor ihr und wich seiner Mutter nicht von der Seite. Wenn er nicht bei den kleinen Schwestern war, dann saß er still an Amalies Seite und wandte kein Auge von der schweigsamen, verbissen daliegenden Großmutter. Wenn es für ihn unerträglich wurde, dann schlang er seine Arme um den Hals der Mutter und versteckte sein Gesicht unter ihrer Achsel. „Mutter, bist du traurig, weil die Großmutter liegen muss?“, fragte er.

      Amalie nickte.

      „Wo tut es ihr weh?“

      „Überall. Im Kopf, im Rücken ...“

      „Aber die weint doch nicht. Die liegt doch ganz still, siehst du? Die schläft sogar; die Großmutter wird gesund! Du brauchst nicht mehr traurig zu sein. Du brauchst auch nicht mehr zu weinen.“

      „Bertel, ich weine doch gar nicht.“

      „Doch, doch!“ das Kind hatte ernsthaft genickt. „Immer, wenn du meinst, ich sehe es nicht, dann weinst du.“

      Und dieser kindliche Trost rührte sie. Oft, wenn er so zu ihr sprach, dann ließ sie ihn sitzen und ging hinaus, er sollte nicht sehen, dass er es gewesen ist, der sie mit seinen unbeholfenen Tröstungsversuchen zum Weinen gebracht hat.

      Das fällt der Frau jetzt ein, als sie neben ihrem Mann auf der Ofenbank sitzt und ihm zuhört, wie er in seiner Ungeduld das Kind beurteilt und an dem Jungen herummäkelt.

      „Willst du mir nicht sagen, was ihr besprochen habt?“ fragt sie ihn.

      „Nun, zuerst einmal dieses: ich werde für ihn arbeiten.“


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