Die Auferstehung des Oliver Bender. Hermann Brünjes

Die Auferstehung des Oliver Bender - Hermann Brünjes


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ich gerade eben eine unsichtbare Grenze überschritten.

      »Jens! Das ist nicht nur dünne Luft, das ist gar nichts! Das ist Blödsinn, Heiligengeschwafel!«

      Das Stichwort »auferstanden« hätte ich besser vermeiden sollen – und es wissen müssen. Florians Haltung zur Kirche und allem, was mit Christentum zu tun hat, ist, milde ausgedrückt, gestört. Vielleicht hat er in seiner Kindheit mal schlechte Erfahrungen mit Kirche, Gott oder dessen Bodenpersonal gemacht. Jedenfalls hält unser Chefredakteur von all dem gar nichts. Die bringen keine Anzeigen, tönt er lautstark, wollen nur, dass wir berichten und für sie werben. Und jetzt noch dies. So ein Blödsinn! So was ist ja nun völlig unter unserem Niveau!

      Ich schlucke meine Bemerkung »KB sprach zuerst mit dem Toten!« sei doch eine gute Werbung für das Kreisblatt, herunter. Stattdessen frage ich ihn kleinlaut und besänftigend, ob ich denn weiter recherchieren darf. Immerhin ginge es ja gewissermaßen um Leben und Tod!

      Florian lässt nun seinem cholerischen Ego freie Bahn. Nein, Jens, mit religiösen Themen sollen sich die Kirchenzeitung und das Wort zum Sonntag befassen, nicht wir! Er, Florian Heitmann, stünde mit seinem guten Namen für das Kreisblatt und nicht die Gebrüder Grimm, Edgar Allan Poe, Jesus oder der Papst. Nein, für so etwas würde meine Zeit nicht bezahlt!

      Das war’s. Keinen Dimple für mich Gimpel.

      Etwas benommen sitze ich kurz darauf wieder an meinem Schreibtisch. Ich habe zwar eine der wenigen festen Anstellungen für Journalisten bei dem KB, muss mir den Schreibtisch jedoch mit zwei freien Mitarbeiterinnen teilen. Die sind allerdings selten im Haus.

      Das Blatt vor mir ist noch recht leer. Ein paar Namen stehen darauf, ganz oben steht nur »Auferstehung«. Ich streiche das durch und nenne das Ganze etwas neutraler »tot oder lebendig?«. Nur so zum Spaß schreibe ich ein paar Stichworte daneben und sammle Gründe, wieso jemand aus seinem Grab heraus plötzlich wieder auftauchen könnte und gesehen wird: Scheintot, lebendig begraben, vorgetäuschter Tod, Auferstehung, Doppelgänger, Zwilling, Vision, Engels-Erscheinung, Zombie, PR-Campagne, dummer Streich, Organhandel ...

      Mehr fällt mir auf die Schnelle nicht ein. Ganz sicher fehlt noch manches. Was am Ende passiert ist, hoffe ich herauszufinden ...

      Neben dem Blatt liegt ein Stapel Auftragszettel. Für heute ist der Besuch einer Ausstellung in Lüneburg vorgesehen und am Abend die Jahreshauptversammlung des hiesigen Geflügelzuchtvereins. Ich muss das machen, sonst gibt es nie wieder Dimple. Also falte ich meinen tot-oder-lebendig-Zettel zusammen, stecke ihn in meine Brieftasche und mache mich auf den Weg nach Lüneburg.

      Unsere Verlagsgebäude mit Druckerei und Redaktion liegen nah an der Stadtumgehung, der B4. Zunächst komme ich gut voran. Mein grauer Golf IV ist zwar nicht mehr der jüngste, hat mich aber nie im Stich gelassen. Allerdings nützt das vor Melbeck auch nichts. Es staut sich. Immerhin, nach mehr als dreißig Minuten bin ich am Bahnhof vorbeigefahren und stehe nun vor der Kulturbäckerei. Hier präsentiert die Sparkassen-Stiftung die Ausstellung.

      Erst jetzt wundere ich mich, wieso mich das KB nach Lüneburg schickt. Ich schaue mir noch einmal den Flyer an und suche nach einer Verbindung zu meinem Landkreis. Werner Steinbrecher heißt der Künstler, 2008 verstorben. Ich weiß, dass ich diesen Namen bereits kenne. Aber woher? Ich google ihn im iPad. Dann atme ich tief durch. Werner Steinbrecher hat in unserem Landkreis, ja sogar im kleinen Dorf Himmelstal einen Besinnungsweg mit 14 Stationen installiert. Im Nachbardorf hat er gewohnt. Ich lasse die Luft mit einem Pfiff entweichen. Der Weg heißt »Auferstehungsweg«. Schon wieder Auferstehung! Ich komme davon nicht los, wie es scheint.

      Der Nachmittag wird kurzweilig. Die Bilder dieses Künstlers sprechen mich zugegebenermaßen nur teilweise an. Es sind wilde Darstellungen einer noch wilderen Zeit im Berlin der Achtundsechziger. Rudi Dutschke und so. Dieser Werner Steinbrecher war offenbar mittendrin. Ich spreche mit Verantwortlichen, mache mir Notizen und beeile mich dann. Bevor ich zu den Geflügelzüchtern muss, will ich noch etwas über diesen »Auferstehungsweg« wissen. Immerhin bringt mich dieser Künstler nun auch dienstlich in jenes Himmelstal, wo Auferstehung ja offenbar zum Profil des Dorfes gehört. Ob hinter diesen angeblichen Bender-Sichtungen womöglich so etwas wie eine PR-Aktion und ein Werbetrick für dieses Kunstprojekt »Auferstehungsweg« steht?

      *

      Ich fahre nicht über die breite B4 zurück, sondern nehme eine schmale Kreisstraße. Die Landschaft hier ist wunderschön. Es geht meistens durch Wald. Manchmal komme ich mir vor wie im Schwarzwald. Es ist geradezu gebirgig unter den schlanken, dunklen Kiefern. Dann wieder sattgrüner Mischwald, unterbrochen von Wiesen. Später passiere ich weite Felder. Das Getreide ist abgeerntet, die Stoppeln leuchten gelb und ich muss an Kinder und Drachensteigen denken. Einige Äcker mit Zuckerrüben und Kartoffeln werden beregnet. Zweimal bekomme ich einen Strahl auf die Windschutzscheibe. Ich betätige die Wischer. Staub und Insektenleichen verschmieren die Scheibe. Ob diese Mücken und andere Tiere auch von den Toten auferstehen? Seltsame Gedanken löst die Bender-Recherche bei mir aus.

      Wir haben schon wieder einen viel zu trockenen Sommer. Die Felder erstrecken sich kurz vor meinem Ziel fast bis zum Horizont. Unterbrochen werden sie nur von Wegen, die von Hecken und blühenden Kräutern gesäumt sind. Ein Windpark bringt gewissermaßen Bewegung ins Bild. Manche sprechen ja von »Verspargelung« der Landschaft. Ich finde, dass es in der bewirtschaften Heide, und das ist die größte Fläche bei uns im Landkreis, mit Windrädern besser aussieht als ohne.

      »Himmelstal« zeigt das Ortschild an. Eben habe ich einen Sportplatz passiert. Junge Männer in grünen Trikots liefen über den Platz, vermutlich die Fußballer des Dorfes. Die Vereins-Welt scheint hier noch zu funktionieren. Es geht jetzt tatsächlich ein wenig bergab. »Tal« würde ich das jedoch noch nicht nennen. Ich halte Ausschau nach Kunstwerken. Einige Kurven, dann sehe ich die Dorfkirche vor mir. Sie ist ein Kleinod aus Feldsteinen und roten Ziegeln und steht auf einem flachen Hügel, der am Rand von einer Feldsteinmauer begrenzt wird. Der Rasen um die Kirche herum wirkt ungepflegt, aber die Kirche mit ihrem stolzen Turm und Fenstern mit Spitzbögen zieht ohnehin die Blicke auf sich.

      Ein Schild weist auf den »Auferstehungsweg« hin. Ich parke meinen Golf neben dem Schild. An einem der Pfosten der Halterung hängt ein Prospektkasten. Ich entnehme ihm einen Flyer. Er bewirbt drei Besinnungswege in der Region, zwei davon gestaltet vom Künstler Werner Steinbrecher.

      Gegenüber steht ein großes Gebäude mit schönem Fachwerkgiebel und einer mächtigen Säuleneiche davor. Es ist das Tagungshaus, von dem Gerald Tönnies gesprochen hat. Auch dazu gibt es einen Hinweis auf der Tafel.

      Ich schaue mir das erste Bild an. Es steht an der Südseite der Kirche und ist voller Dynamik durch Licht und Dunkel. Das Kreuz aus Stein wird geradezu vom Licht gesprengt. Ich kann mir vorstellen, dass Pilger so etwas mögen. Darunter steht die Geschichte vom Kreuz und von der Auferstehung aus der Bibel.

      Ein Blick zur Uhr und ich realisiere, dass ich mich beeilen muss. Ich spüre eine seltsame Anziehungskraft. Wieder ist es nicht das Bild. Es ist die ganze Situation. Dieser Besuch vorhin, der Zusammenhang von Ausstellung und Auferstehungsweg. Irgendetwas drängt oder zieht mich in diese skurrile Recherche hinein. Natürlich weiß ich, dass es mit diesem auferstandenen Oliver Bender Unsinn ist – aber in unserer Zeitung steht auch ohne solche Sciencefiction-Geschichten manch anderer Unsinn.

      *

      Die Artikel über die Ausstellung und die Geflügelzüchter gehen mir schnell von der Hand, auch wenn es bereits spät ist, als ich endlich zuhause vor dem Computer sitze.

      Ich schreibe gerne und wenn ich nicht gerade völlig von der Rolle bin, geht es auch schnell. Die Geflügelzüchter sind zwar nicht so mein Fachgebiet, aber heute ist es Dank Internet leicht, über Zuchthühner und Rassen zu recherchieren. Ich finde es immer positiv, wenn Leute sich engagieren – und so schreibe ich gerne auch wohlwollend und positiv über jene, die sich mit dem Federvieh befassen.

      Allerdings treibt mich inzwischen etwas ganz anderes um. Was, wenn es stimmt, was Gerald mir berichtet hat? Was, wenn dieser Oliver beerdigt wurde, aber dann wieder aufgetaucht ist? Na, das wäre doch in jedem Fall eine echte Story. Egal, ob nun tatsächlich eine Auferstehung


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