Berliner Miniaturen. Attila Schauschitz
diesem Mädchen Angst haben, und hat man doch nicht. Ehemals hatte man mehr Angst. Nicht so sehr vor der Diktatur. Etwas mehr vor den Eltern. Am meisten aber vor dem kleinen Gál.
Wenn man nach dem Unterricht in der Grundschule hörte, »sie warten draußen auf dich«. Beziehungsweise nur er: der kleine Gál. Der kleine Gál, der nach der Schule auf dem Weg nach Hause ständig hinter dir ist. So lauft ihr eine Weile auf den Straßen der Josefstadt, des 8. Bezirks von Budapest, bröckelnder Fassaden entlang. Du vorne und hinter dir der kleine Gál. Merkwürdigerweise kommt er immer nur bis zur Bezirksgrenze, der Üllői Straße, niemals rüber in die Franzenstadt, den 9. Bezirk. Er kommt, kommt, und in einem beliebigen, aber unvermeidlichen Moment (freilich noch vor der Üllői Straße), tritt er dir in den Hintern. Es ist ein billiger Vergleich, und doch, der kleine Gál war wie das Schicksal. Nur hat das Schicksal keinen großen Bruder, mit dem du Freundschaft schließt, und der dann den Kleinen anherrscht, lass ihn doch endlich in Ruhe.
Vor der Medusa muss man keine Angst haben. Sie guckt eher milde, mit ihrem rechten Auge bestimmt. In ihm zeigt sich das Meer des Leidens. Denn, Kenner der griechischen Mythologie dürfen dies überspringen, was geschah eigentlich? Des Gorgo-Mädchens Schicksal war Poseidon. Und Athene? Nicht genug, dass der sexistische Poseidon Medusa verführt, nach heutiger Auffassung vergewaltigt. Und dann nur deshalb, weil es in ihrem Tempel passierte, verwandelt Athene die Haare der Medusa in Schlangen, und entstellt sogar ihre Schwester. Sie verleiht ihr einen Blick, der jeden zu Stein werden lässt. Medusa wird schließlich von Perseus getötet, da oben ist seine Hand, wie er in ihren abgeschlagenen Kopf greift. Die kleine Pointe der Geschichte, der dem Rumpf entsprungene Pegasos, ist auf der Rückseite der Skulptur zu sehen.
Die Arbeit von Anne und Patrick Poirier wurde 1987 am Henriettenplatz, am Ende des Kurfürstendammes, aufgestellt. Ein schöner Platz könnte es sein, wenn ihn der rasende Verkehr nicht in zwei Hälften schnitte. Medusa, der Obelisk und die die Bushaltestelle schmückende »dorische« Kolonnade von Heinz Mack, könnten sich zu irgendetwas zusammensetzen. In diesem Bild könnten wir sitzen, wir wären im Bilde, würden aus ihm herausschauen, heraus aus dem Bild in unseren Köpfen, und uns vorstellen, dass wir im zusammengesetzten Bild des kleinen Platzes sitzen, wenn es ihn gäbe.
Karl Pracht
Heinrich von Kleist-Herme, 1899
Viktoriapark, Achse der Monumentenstraße
Hart am Kleinen Wannsee
Wären die Lauben nicht da, und es wäre ein Wintertag vielleicht, dachte der Schriftsteller aus Ungarn, ein Staropramen vor sich, obwohl er lieber ein Guinness gewollt hätte, hätte ich sie sehen können, dort, vor dem Stimmingschen Kruge, sie scherzten im Hofe mancherley Art, er sprang über die Bretter in der Kegelbahn, komm, Henriette, mach mir nach, und dann laufen die beiden, wie der Wirt es vom Wirtshaus sieht, auf dem gegenüberliegenden Ufer des Kleinen Wannsees herum, werfen Steine in den See, wie Verliebte, denkt er, und sie schicken die Frau vom Tagelöhner Riebisch hin und her, bestellen zuerst Kaffee, dann Tisch und Stühle, einen Bleistift wollen die Herrschaften auch noch, murmelt die Frau, die nicht weiß, dass der abgedeckte Korb neben ihnen voll ist mit Pistolen, na gut, es waren nur drei, und als sie sich entfernt, zuckt sie zusammen, weil sie einen Schuss hört, läuft noch fünfzig oder sechzig Schritte, als der zweite Schuss fällt, sie treiben einen Scherz, die Herrschaften, mutmaßt sie.
Dies alles hätte ich gesehen, im Jahre 1811, obwohl ich es auch jetzt vor mir sehe mit den Augen des Wirtes und mit denen der Frau des Tagelöhners, sehe es jedoch nur mit den Augen des Heinrich von Kleist, dem die neuere ungarische Literatur, deren Vertreter hier in der Nähe als Stipendiaten des Literarischen Colloquiums von Zeit zu Zeit im kleinen Schloss weilen, soviel zu verdanken hat, dass ich die Pistole auf Henriette Vogels Brust richte, abdrücke und dann neu lade, bevor ich mir den Pistolenlauf in den Mund halte, um ein zweites Mal zu schießen, während Frau Riebisch noch fünfzig oder sechzig Schritte läuft, ich schaue also mindestens eine halbe Minute lang Henriette an, sehe sie sterben, dann kippe ich nach vorne und bleibe in einer fast knienden Stellung vor ihr, natürlich nicht ich, sondern Kleist, an dessen Brüsten ..., o weh, dafür muss ich noch ein besseres Bild finden, mehrere Größen der neuen ungarischen Literatur schlossen sich jedenfalls den Rhythmus der nicht gerade kurzen, aber mit Satzzeichen kurz gegliederten, bisweilen falschen Sätze, die Rhetorik ist manchmal wichtiger als die Grammatik!, ins Herz, dachte er in einem Satz, den er gleich zu Papier hätte bringen können, was er aber nicht tat, nur das Staropramen auf dem Tisch, das gut schmeckte, auch wenn er lieber ein Guinness getrunken hätte, wobei es ihm noch einfiel, dass sie in einer kleinen Grube lagen, auf einem Hügel hart am Kleinen Wannsee, nicht dort, wo der Grabstein, den man seitdem hin und her versetzt hat, sich jetzt befindet, und dass sie als Selbstmörder am Tatort, nicht auf dem Friedhof bestattet wurden. Da erhob er sich, um zu gehen und, sobald er in seine Unterkunft zurückgekehrt war, diesen Satz zu vergessen – ob vorläufig, sei endgültig dahingestellt.
Ayse Erkmen
Evde – Am Haus, 1994
Heinrichplatz
Hauskonjugation
Es ist offenkundig, dass in den 70ern und 80ern kaum einen geheimnisvolleren Ort auf der Welt gab als Kreuzberg. Nur noch eine Frau im reiferen Alter ist in der Lage, so viele Rätsel aufzugeben.
Die Stadt lebt in ihren Kneipen, sagt das Sprichwort und wenn nicht, dann sollte es ein solches geben. Sie bildeten das Gewebe Kreuzbergs, das man Nacht für Nacht wie besessen aufzuräufeln versuchte.
Gegen die roh verputzten Wände der alternativen Kneipen setzten weiß getünchte türkische Imbisse Kontrapunkte, ihre Theken dekorierten noch keine farbig leuchtenden Speisekarten, höchstens abstoßende und zugleich anziehende Bilder von der Brücke am Bosporus. Kreuzberg von damals war eine Subkultur, in der man es wenigstens zeitweise versuchte, das Leben selber zu gestalten. Und zweifellos tranken alle Becks aus der kleinen Flasche.
Der Heinrichplatz im Herzen von Kreuzberg war deshalb wichtig, weil in der Roten Harphe ein gewisser Max Haschisch verkaufte, und ihm gegenüber, in der Ecke, immer einer saß, der wie Solschenizyn aussah, als ob sich dieser als Rasputin getarnt hätte.
Die Erscheinungsformen der dortigen türkischen Kultur beschränkten sich meistens auf alltägliche Utensilien: Kopftuch, Rolltüte und gigantischer Kinderwagen. 1994 geschah jedoch, dass Ayse Erkmen an der Ecke des Heinrichplatzes mit den Suffixen einer besonderen Modalform der türkischen Sprache eine Hausfassade schmückte. Als ob die wispernden Endungen der Gespräche unter den Wänden aus dem Haus herausklingen würden – ohne vollständige Bedeutung, obwohl ihrem Ursprung nach unverwechselbar.
In Kreuzberg ist es ansonsten einfach, auch solche türkische Überschriften zu finden, die ganz bestimmt einen Sinn haben. Es würde allerdings nur den Genuss verderben, wenn man die wunderschönen Wörter über einem Lebensmittelgeschäft entschlüsseln wollte: GIDA PAZARI!
Karl-Friedrich Schinkel
Denkmal der Befreiungskriege, 1821
Viktoriapark
Patriotisches Eisen
Die Grundsteinlegung für das nationale Denkmal der preußischen Befreiungskriege gegen Napoleon im Jahre 1818 muss man sich so vorstellen, dass Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander I. auf einem kahlen Hügel stehen. Südlich schauen sie auf einen Exerzierplatz, nördlich auf Berlin in der Ferne, ansonsten sehen sie nur Agrarwirtschaft in der Gegend. Es gibt also noch kein Anzeichen dafür, dass diese Erhebung sich später zu jenem gemütlichen und frivolen Ort entwickeln