Sinnsuche zu Zeiten von Cholera. Albert Morava

Sinnsuche zu Zeiten von Cholera - Albert Morava


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wie man mit Wanzen fertig wird", sagte sie. "Er hat damit seine Erfahrung."

      Joschka, der Barbar und ihr selbstherrlicher Mann, erzählte dann vollmundig über seine Erfahrungen beim Militär.

      "In der Kaserne, wo ich war", sagte er, "gab es auch Wanzen. Mit den Wanzen ist das so: den einen fressen sie und den anderen nicht. Generell mögen sie junges Blut", feixte er. "Je jünger, umso besser!"

      "Somit lassen sie die alte Frau in Ruhe?" fragte Jan.

      "Könnte sein. Mich haben sie gefressen und meinen Kumpel nicht. Ich musste draußen im Freien schlafen!"

      "Und was kann man da machen?"

      "Gegen ein paar Wanzen gibt es Sprays. Aber wenn es viele sind und die ganze Wohnung verwanzt ist, muss alles raus. Die Möbel werden verbrannt und die Wohnung wird vollständig desinfiziert. Sie wird mit Chemikalien behandelt, die giftig sind, und bleibt danach einige Wochen veriegelt."

      Mit Genuss kaute er an seinem Schweinebraten und sagte: "Ich hoffe nur, dass es nicht das ist, was euch blüht!"

      Nach dem Essen gingen Jan und Ella als Ehepaar am Wenzelsplatz spazieren und setzten sich danach in den Innenhof des nostalgischen Hotels Europa, um dort einen Kaffee zu trinken. Sie saßen auf der Galerie in der ersten Etage und schauten hinunter; der Innenhof - voller Menschen, die laut redeten, - glich einem surrenden Ameisenhaufen. Von oben gesehen, bewegten sich die Köpfe leicht beim Reden und der Anblick erinnerte Jan an das Herumtreiben der Wanzen, die sie nachts unter der verkommenen Roßhaarmatratze gesehen hatten.

      Ela empfand ähnlich. "Was meinst du, Ameisen oder Wanzen?"

      Sie hatte Sinn für Humor, doch die Wanzenbisse waren noch frisch und juckten, sie kratzte sich heimlich an den Beinen und sogar oben am Hals hatte sie einen roten Stich. Jan trug ein langärmliges Hemd und versuchte, seine Wanzenbisse an den Handgelenken unter den Manschetten seines Hemdes zu verstecken.

      "Ameisen sind fleißige Arbeitstiere, die die Erde vom Unrat säubern und daraus gewaltige Bauten errichten. Sie sind fleißig und hilfsbereit. Die Wanzen dagegen leben vom Blut, das sie anderen absaugen", sagte er scherzhaft, doch mit einem Hauch von Ernsthaftigkeit.

      "Ich bin für die Ameisen! " fuhr er fort. "Auch sie beißen manchmal, aber nicht immer. Eigentlich sind sie nur lästig. Wie die Menschen!" Nach dem Kaffetrinken kehrten sie zurück, früher als geplant, jeder an seine Statt.

      Nach der Erfahrung der ersten Nacht im verwanztem Zimmer wollte Ella dort nicht mehr über Nacht bleiben.

      Auch für nur kurze erotische Treffen war das Zimmer nicht nur ungeeignet sondern eher störend, da die abstoßende Umgebung jegliches ästhetische, gefühlsbezogene oder lustvolle Empfinden zum Ersticken brachte. Nichtsdestotrotz kam Jan jeden Tag nach den Vorlesungen hierher, um den Nachttopf hinauszutragen und mit der alten Frau ein Wort zu reden.

      "Kommt die Krankenschwester nicht mehr?" fragte sie einmal.

      "Nein", sagte Jan. "Das nasskalte Wetter draußen bekommt ihr nicht. Sie ist erkältet und bei schlechter Gesundheit."

      "Aha." Er hätte ihr sonst etwas erzählen können, sie hätte alles akzeptiert, ohne Fragen zu stellen.

       Einmal kurz vor Weihnachten versuchte er, dort probeweise wieder eine Nacht zu verbringen, diesmal allein, nachdem er vorher die Matratze und den Bettkasten gesäubert und mit Desinfektionsmitteln übersprüht hatte. Es war Großmutters Empfehlung, die sich mit einer Schreckensmeldung an die Hausverwaltung noch Zeit lassen wollte.

      "Wenn ich es melde", sagte sie, "wer weiß, was sie dann tun würden? Sie könnten dich aus dem Zimmer aus fadenscheinigen Gründen wieder rausschmeissen und dann wärt ihr dort, wo ihr vorher wart. Und das wäre doch zu schade! Eine Wohnung in Prag ist Gold wert!"

      Das sah Jan ein. Nach der erfolgten Säuberung schienen die Wanzen verschwunden. Erleichtert legte er sich ins Bett, doch sicherheitshalber mit Socken und Handschuhen an, um den Wanzen keine Gelegenheit zu geben, bis zur nackten Haut durchzudringen, wo sie zubeißen könnten.

      Lange Zeit konnte er nicht einschlafen und empfand plötzlich eine seltsame Angst, ohne genau zu wissen wovor. Was mag in diesem Zimmer vorher schon passiert sein? Vielleicht war in diesem Bett und auf dieser Matratze schon jemand gestorben!

      Gelbliches Licht der Straßenlaternen vor dem Haus fiel durch das verschmutzte Fenster ins Zimmer ein, ohne es wirklich zu beleuchten, mit halb geschlossenen Augen konnte er unterhalb der Zimmerdecke wirbelnde Staubwölkchen wahrnehmen und begann zu hüsteln.

      Woher kam die Schwingung, die sie zum Wirbeln brachte? Er sah das Kreuz mit dem Leichnam Christi an der Wand, direkt dem Bett gegenüber - mit der Dornenkrone und Blutspuren im Gesicht - was wäre, wenn dieser Leichnam plötzlich lebendig werden würde?

       Irgendwann schlief er ein. Nach einer Weile wurde er durch einen leichten Stich auf der Stirn geweckt, er fasste die Stelle an und sah Blut an seinem Finger. Die Wanzen waren wieder da und bissen an der richtigen Stelle zu; im Gesicht. Er machte die Taschenlampe an und riss das Bett auf; die Wanzen waren in der Matratze versteckt; sie war morsch und an einigen Stellen aufgeplatzt. Er legte sein Unterhemd quer übers Gesicht und versuchte - so vom Kopf bis zur Sohle verpackt - zu schlafen und lag reglos da. Richtig einschlafen konnte er nicht mehr, er fragte sich, warum er sich in diesem Augenblick gerade in diesem Zimmer befinde. Zwar sah er den logischen Zusammenhang, aber wenn er Ella nicht kennengelernt hätte, hätte er mit Sicherheit die Nacht hier nicht verbracht.

      Er sinnierte über das Zusammenspiel der Ursache und der Wirkung. Zwar gibt es im Leben kausale Zusammenhänge, die für Erklärung von verwickelten Lebensereignissen stehen, doch woher kommen die Ursachen, die eine weitere Verkettung von Folgen nach sich ziehen? Die Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigte ihn schon als Kind; in Krisensituationen wie diese kam sie immer wieder auf.

      Wie und durch wen wurde das Leben auf dieser Erde verursacht? Und die Existenz des Weltalls? Vor nicht allzulanger Zeit hatten kluge Lebensforscher den Begriff des big bang erfunden; in den Eierköpfen muss es stark geknallt haben, um auf diese Erklärung zu kommen.

       Die Frage nach der Ursache ist anthropomorph; sie ist der Wunsch, die Dinge der Welt aus der Sicht der Menschen zu erklären. Klärt uns die Bibel auf? Oder vielleicht die Schriften der indischen Weisen?

       Aufgeklärte Hinduisten wissen, dass Brahma, der Schöpfer in der Morgendämmerung eines kosmischen Tages erwacht, um sich zu manifestieren, und um beim Einbruch der kosmischen Nacht in Schlaf zu versenken und sich so ins Unmanifestierte aufzulösen. Jeder einzelne kosmische Tag-und-Nacht-Zyklus soll Tausende Yugas dauern und jedes Yuga bis zu 400 000 Jahren betragen. Während der Kosmos sich kontinuierlich ausdehnt und zusammenzieht erfahren alle Lebewesen, und so auch Jan, in aufeinander folgenden Zyklen von Brahmas Manifestation ihre Geburt, ihren Tod und Wiedergeburt.

      Heureca, dachte Jan, endlich einer der etwas weiß - doch woher kommt Brahma, der Schöpfer? Das Foto von Albert Einstein mit ausgestreckter Zunge ging ihm durch den Kopf.

       Der Lebensweg ist ein Weg im Labyrinth mit vielen Spiegeln; am Ende des Weges angelangt, begreifen wir, dass der Eingang in dieses Labyrinth auch sein einziger Ausgang sein muss.

       ***********

      Da alles im Leben vergeht, verging auch diese Nacht. Frühmorgens zog er sich an und verließ das Zimmer, ohne seinen Schlafanzug mitzunehmen. Der Nachttopf der alten Frau war noch leer, sie schlief und schnarchte leise vor sich hin; in ihrer Nase pfiff es gelegentlich.

      Die Tatsache, dass er nun in dieser Wohnung als Mitbewohner und Altenbetreuer - die alte Frau war die Hauptmietrin - gemeldet war, entpuppte sich bald als eine Ursache mit weitreichenden, unerwünschten Folgen. Notgedrungen hatte er Ellas Großmutter über die Verwanzung der Wohnung und die Unmöglichkeit, dort zu übernachten, unterrichtet. Eine Meldung an die Hausverwaltung konnte nicht mehr hinausgeschoben werden.

      "Letztendlich",sagte die Oma, " müssen sie die Wohnung sanieren und sie wieder bewohnbar machen, zumal die Wanzenplage sich im ganzen Haus ausbreiten könnte. Und dann hätte ich die Verantwortung für das Verschweigen


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