KNIGGE: Über Eigennutz und Undank. Adolph Freiherr von Knigge
unglückseliger Weise, durch die mystische Kunstsprache
gewisser Gelehrten, die einfachsten, klarsten Wahrheiten,
zu deren Ergründung nichts als ein gesunder
Hausverstand erfordert wird, so entstellt würden, daß sie
einen Anstrich von neuer Weisheit erhalten. Hierdurch
gewinnen freylich die Nachahmer dieser Lehrart den
Vortheil über ihre Gegner, daß, wenn man die unter einer
so barbarischen Firma zugleich mit durchschleichenden
Irthümer widerlegt, sie vorgeben und auch würklich
glauben können, man habe sie nicht verstanden. Fragt
man aber, woher es komme, daß ein so dunkles System
so viel Anhänger findet; so ist nicht schwer darauf zu
antworten. Alles Neue reizt die Wißbegierde; dem großen
Haufen scheint nichts erhabner, als was dunkel ist; eine
Menge sonst vernünftiger Menschen schämt sich, zu
bekennen, daß sie nicht verstanden habe, was sie mit
Aufmerksamkeit gelesen hat; wem es aber gelungen ist,
nach fleißigem Studio, den Sinn jener abstracten
Abhandlungen in verlohrnen Stunden zu entziffern, der
wird nicht das Verdienst dieser Bemühung verliehren und
gestehn wollen, daß er nichts Neues daraus gelernt habe.
Allein wir, die wir immer der Meinung bleiben werden,
daß solche Wahrheiten, die allen und jeden vernünftigen
Menschen nöthig und wichtig zu wissen sind, auch so
vorgetragen werden können und müssen, daß sie allen
und jeden vernünftigen Menschen verständlich werden,
wir wollen ihnen in jener Kunst nicht nachahmen,
sondern uns bestreben, die Frage: in wie fern die
Beförderung eigner Glückseligkeit als ein erlaubter und
edler Bewegungsgrund zu moralischen Handlungen
angesehn werden könne, so deutlich wie möglich aus
einander zu setzen und zu beantworten.
2.
Um zu entwickeln, wie etwa der Mensch, ohne
Betrachtung der Würkung seiner Handlungen auf die
Verhältnisse, darinn er sich befindet, handeln würde, wird
es nicht unnütz seyn, ihn uns ganz ohne jene
Verhältnisse, isolirt, zu denken; also nicht den Menschen,
der schon mit den Rechten, Vortheilen und
Verbindlichkeiten, welche ihm die bürgerliche
Gesellschaft gewährt und auflegt, gebohren wird,
sondern den einzeln stehenden Natur-Menschen. Und da
fragt sich's dann: wie kann und wird dieser die Tugend
kennen, lieben und ausüben?
3.
Der Natur-Mensch hat mit den übrigen Thieren das
gemein, daß er durch körperliche Anreizung, durch
Gefühl, durch Instinct, zu gewissen Handlungen
hingezogen wird. Er hat aber das vor andern lebendigen
Geschöpfen voraus, daß die Vernunft ihn die
Anwendung jenes Gefühls und Instincts zu bestimmten
sichern Zwecken lehrt und ihn determinirt, gewisse
Handlungen aus gewissen Ursachen zu unternehmen,
andre hingegen zu unterlassen.
4.
Sein Gefühl treibt ihn ohne Ordnung und Gesetz, zu
Allem, was ihm einen angenehmen Genuß der ihm
bekannten Gegenstände in der Welt gewähren und
zusichern kann. Höchstens lehrt ihn sein Instinct durch
Erfahrung, sich das Uebermaß des Genusses zu versagen,
überhaupt dasjenige nicht zu begehren, was ihm einmal
unangenehme Empfindungen erweckt hat, und also
wieder erwecken kann. Auch zieht ihn sein Instinct
unwillkührlich hin, zu andern lebenden und todten
Gegenständen um ihn her, jedoch ohne deutliche
Unterscheidung der Ursachen dieser Triebe. Seine
Vernunft hingegen nützt diese Erfahrungen, ordnet sie
und zieht daraus Vorschriften ab, die seinen Willen
bestimmen und gewisse Entschlüsse für die Folge in ihm
erzeugen.
5.
Diese Entschlüsse nun können sich nicht weiter
erstrecken, als auf solche Fälle, über welche er würklich
Erfahrungen gemacht hat, und er kann nur Vorsätze
fassen, die auf diejenigen Verhältnisse anwendbar sind,
welche er kennt. Da ihn nun seine eigne Existenz jeden
Augenblick seines Lebens am mehrsten beschäftigt und
ihm das Gefühl derselben am lebhaftesten und
beständigsten gegenwärtig ist; so wird die erste Sorgfalt
seiner Vernunft auf Erhaltung und Vervollkommung
seines Daseyns gerichtet seyn und wenn er sich Gesetze
und Pflichten vorschreibt; werden diese gewiß das
Wohlbehagen seines eignen Ichs zum vornehmsten
Augenmerke haben. In dem Maße aber, in dem seine
Bedürfnisse, Erfahrungen und Verhältnisse sich
vervielfältigen, entstehen bey ihm auch neue
Ueberlegungen und Vorsätze, die ihn dann zum Handeln
bestimmen, also neue Pflichten, die er sich auflegt. Je
näher ihm dann das Interesse an irgend einem
Gegenstande liegt, desto wichtiger werden ihm die
Motive seyn, die ihn determiniren, in Rücksicht auf
diesen Gegenstand so und nicht anders zu handeln. Je
weiter entfernt hingegen, desto unwichtiger; Thorheit
würde es ihm seyn, sich Pflichten in Verbindung mit
Gegenständen aufzulegen, mit welchen er in gar keinen
Verhältnissen steht.
6.
Es giebt also nur Ein von der Natur uns eingepflanztes
allgemeines Gesetz, nämlich das: der Vernunft zu folgen.
Die Anwendung hängt von den Erfahrungen und
Verhältnissen ab. Wo diese gänzlich fehlen, da kann keine
Idee von Entschlüssen, die darauf Bezug haben, Statt
finden. Und so wie andre, neue Erfahrungen und
Verhältnisse eintreten, müssen auch die Motive zu den
Handlungen sich verändern.
7.
Ohne Zweck handelt die Vernunft nicht, denn dadurch
unterscheiden sich ja ihre Antriebe von denen, die der