In der Q-Schlinge. Manfred Hinderer

In der Q-Schlinge - Manfred Hinderer


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war er zu alt. Broschüren und Beratungsunterlagen für Existenzgründer von offiziellen Stellen, wie der Industrie- und Handelskammer, trafen für seine Situation kaum zu.

      Was sollte die Basis der Existenz sein? Kann man von Qualität, von der Begutachtung der dafür installierten Systeme, leben? Vielleicht noch hie und da ein Beratungsauftrag?

      Solide Berufsausbildung, Wissen über Normen und Regelungen, Erfahrungen im internationalen Geschäftsverkehr, technisches Know-How, Kenntnisse aus Konzernunternehmen und mittelständischen Unternehmensformen , abgelieferte Projekteergebnisse, dramatische Erfahrungen aus der Personalverantwortung - waren das ausreichende Pfunde, die einen Sprung in die Selbständigkeit aussichtsreich erscheinen ließen? Eine veränderte Lebensweise war absehbar: Viele Reisen, keine Kontinuität in der Zeitplanung, kein Freiraum für Ehrenämter oder regelmäßige Freizeitinteressen, weniger Zeit für Ehefrau und Familie, dafür viel Vorbereitung und Nachbereitung der Audits an Wochenenden, ständige Weiterbildung und regelmäßige Prüfungen zur Ergänzung und Aufrechterhaltung der Qualifikation, jedes Mal mit dem hohen Potential, zu scheitern.

      Und dann die unterschiedliche Akzeptanz des gesamten Zertifizierungsgeschehens: In den Jahren davor hatte sich der Bedarf, im Geschäftsverkehr allgemein anerkannte Regeln aufzustellen zur Förderung von gegenseitigem Vertrauen der Geschäftspartner immer deutlicher gezeigt. Das fand Niederschlag in Standards und Normen, die sich in den unterschiedlichen Branchen, Nationen, Märkten etc. entwickelten. Ein Treiber dieser Entwicklung war beispielsweise das Beschaffungswesen der amerikanischen Streitkräfte. Im nichtmilitärischen Bereich entstanden nationale Regelwerke, behördliche Normen oder Branchenvorschriften. Es zeichnete sich ab, dass es unumgänglich würde, auch auf internationaler Ebene Standards zu schaffen, die diesem Ziel dienten. Darin bestand bei allen ernstzunehmenden Gremien Konsens. Ein solches Bezugsregelwerk sollte dann die Basis für neutrale Begutachtungen bieten, die zur Zertifizierung des Qualitätsmanagementsystems dienten. Neutrale Auditoren mit Fachkenntnis in der betreffenden Branche sollten die Systeme vor Ort auditieren und der jeweiligen Zertifizierungsgesellschaft eine Empfehlung für oder gegen eine Zertifikatsverleihung unterbreiten.

      In Wirtschaft und Industrie lagen für dieses Konzept die Haltungen anfangs weit auseinander – von „endlich kommt ein vergleichbares System und man spricht eine Sprache“ bis „bürokratisches Monster und Abzocke der wirtschaftlich Schwächeren“. Auch an der fachlichen Substanz wurde genörgelt. So begründete der Repräsentant eines bedeutenden Branchenverbandes seine Ablehnung an das Normungsinstitut mit den unterstrichenen Worten: Ein Qualitätssystem kann man nicht normen! (Heute gibt eben jener Verband für seine Branche mehrere Dutzend rote Bücher zum Qualitätsmanagement heraus als „unverbindliche Normempfehlung“, in asymptotischer Annäherung an die internationalen Standards).

      Nach verschiedenen Geburtswehen hatte es schließlich auch in Deutschland zum Ende der 80-iger Jahre eine gültige Norm mit Forderungen an Qualitätsmanagementsysteme gegeben, nach der auch bald Zertifizierungen anliefen.

      Seine Entscheidung für die Auditorentätigkeit stütze F u.a. auf die Erfahrung des Zertifizierungsprozesses im eigenen Unternehmen. Dort war die Kundenliste gleichsam das „Who-is- Who“ mehrerer Branchen: Automobilzuliefergeschäft, Elektrowerkzeuge, Staubsauger, Haushaltsgeräte, Flurförderfahrzeuge, Aufzüge und andere elektrische Maschinen. Jeder Kunde war bedeutend, viele prominent. Ein Trend hatte sich bei den Kunden entwickelt, das Qualitätssystem der Lieferanten bei einem Besuch zu beurteilen, d.h. mehr oder weniger qualifiziert zu auditieren. Der interne Zeitaufwand für diese Besuche wuchs rapide, die Ergebnisse und Berichte waren völlig inhomogen und selten hilfreich. Andererseits war die Intention der Kunden verständlich, die sie mit den Besuchen verfolgten – selbst dann, wenn es sich um den üblichen Jahreausflug der Delegationen handelte. Die Ablehnung eines Kunden hätte der als Brüskierung auffassen müssen, solange nicht alle anderen Kunden gleich behandelt worden wären. Was F brauchte, war eine neutrale Beurteilung seines Systems, einen qualifizierten Bericht und – wenn möglich – ein Zertifikat, das ausdrückte, nach welchem Bezugsregelwerk die Firma mit ihren verschiedenen Standorten begutachtet worden war. Er wollte die langsam entstehende touristische Abteilung aus Vertrieb und Qualitätswesen wieder schließen. Zu dem früh eingeleiteten Zertifizierungsprozess hatte er deshalb die Unterstützung der Geschäftsführer und der der Gesellschafter. Das Zertifizierungsaudit ging nicht ohne Ehrenrunde, d.h. Nachaudit, über die Bühne, so dass das selbstgesteckte Ziel, noch in den 80-er Jahren das Zertifikat zu erlangen, um wenige Wochen verfehlt wurde. Der Effekt aber war der erhoffte - mit Vorlage des Zertifikats war es möglich, die Auditwünsche der Kunden abzulehnen. Da gab es einige Enttäuschungen und kritische Stellungnahmen, aber auch Verständnis, wenn der Zusammenhang erläutert wurde. Die Kunden konnten auf Anforderung den Bericht des Zertifizierers erhalten, obwohl der auch kritische Formulierungen enthielt. F blieb ein Jahr lang hart. Die Ressourcen wurden wieder neu fokussiert. Das kam der Arbeit für die Produkt- und Prozessqualität entgegen. Der finanzielle Effekt war nachweisbar.

      Da F viele Zulieferfirmen in der vergleichbaren Situation wusste, sah er einen wichtigen und wachsenden Markt, nicht nur national, sondern auch bei den vielen international verbundenen Unternehmen . Er wusste, dass er in dem Thema in voller Breite involviert war und dass er im Qualitätsmanagement sein Betätigungsfeld sah, seitdem Alfred H. ihn aus dem Werkstofflabor in das Qualitätswesen geholt hatte, um ihn bei der Einführung der Null-Fehler-Programme zu unterstützen. Die Entscheidung lief für ihn auf die Fragen hinaus: Wer – wenn nicht Leute wie ich? Wann, wenn nicht jetzt?

      Das war dann der Moment, der es nahe legte, das Auditieren für Zertifizierungsgesellschaften und Beratungstätigkeiten aus der Position eines unabhängigen Ingenieurbüros durchzuführen . Sein Arbeitgeber hatte Verständnis und unterstütze ihn auch bei der Gründung seiner „Small Business Corporation“ in den USA, mit der er für verdiente Dollar auch amerikanische Steuern bezahlen durfte.

      Die Schlinge zog sich zu – entrinnen aus dem Q-.Geschäft wurde immer aussichtsloser. Berufung ist wohl schon der treffende Ausdruck..

      Die Jahre als Auditor boten ihm viele Möglichkeiten, Einblick in die Qualitätsgestaltung verschiedener Organisationen zu nehmen, aber auch Impulse zu geben für zweckmäßiges Vorgehen und das Finden von Lösungen. Er fühlte sich wie ein Anwalt der Kunden und konnte deren Interesse auch auf den unterschiedlichen Hierarchiestufen der besuchten Firmen vertreten. Er lernte, wie Beziehungsgeflechte in den Unternehmen funktionierten und entwickelte ein Gespür für formelles und informelles Management. Er begegnete einer Vielzahl von engagierten und motivierten Kämpfern für solide Qualität ebenso wie einigen Fassadenmalern. Ein Unternehmen, das ein Zertifikat erhielt, sollte dieses auch verdient haben. Wo Defizite beseitigt werden mußten, half er mit seinen Möglichkeiten beim Brückenbau. Die Seriosität des Zertifizierungsgeschehens lag ihm am Herzen. Pflichtgemäß hielt er sich auf dem Laufenden was die veränderten Forderungen der Bezugsnormen betraf ebenso wie über die Zertifizierungsregeln.

      Die Auditorenarbeit war im Laufe der Jahre vielerlei Veränderungen unterworfen, speziell im Automobilsektor. Die Vorstellungen über die Interpretation der Normforderungen wurden durch die Gremien der Branche mit der Interpretationshoheit abgegrenzt. Mit schlichten Modellen halfen sie einerseits die Denkmuster über Prozesse zu kanalisieren, lösten damit aber auch eine beobachtbare Trägheit bei der Beschäftigung mit den allgemeinen Forderungen aus. Die Automobilhersteller hatten ihre „kundenspezifischen Forderungen“ und ihre spezifischen Abläufe weiter emtwickelt. Jeder baute seinen eigenen Balkon an das Regelwerk. Es ist die Aufgabe der Auditoren, die Einhaltung der kundenspezifischen Forderungen im Audit zu begutachten. Das gilt formal ohne Einschränkung, ist aber bei Organisationen, die nicht nur einen Kunden versorgen, faktisch nicht handhabbar, oder besser: wirtschaftlich nicht darstellbar im Zeitrahmen eines Zertifizierungsaudits.

      Darüber hinaus wurde das Überwachungssystem für die Auditoren zum perfekten Misstrauenssystem entwickelt. Neben der regelmäßigen Requalifikation, die alle Auditoren durchlaufen und bestehen müssen, wurden sie in einem immer dichter gewobenen Netz von „Witnessaudits“ sowohl von Vertretern der Akkreditierungsinstanz als auch der Zertifizierungsgesellschaft bei der Durchführung von Audits begleitet und bewertet. Dabei hatte jeder Auditor im Zuge seiner Eingangsqualifikation nicht nur Lehrgänge und Prüfungen nachgewiesen, die Zertifizierungsgesellschaft


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