Homo sapiens movere ~ geschehen. R. R. Alval
Klugscheißer. Kennst du doch. Teenager vermutlich.“ Ah ja… eine Gang. Sowas kam also auch bei Werwölfen vor? Wenig beruhigend. Gleichsam kam mir ein anderer verstörender Gedanke. „Wenn Roy sich verteidigt und einer aus dem Rudel stirbt, was dann?“ Meine Tante runzelte die Stirn. „Nimm’s mir nicht übel, Chantalle. Aber ein Mensch gegen Werwölfe? Da muss er schon sehr viel Glück haben. Die sind verflixt schnell. Ganz zu schweigen von deren Kraft.“
„Abgesehen von Kraft und Geschwindigkeit… äh… sind sie feuerfest? Immun gegen Eiseskälte? Und ich meine solche Kälte, die Metall brüchig macht.“ Thea lächelte verschmitzt. „Roy ist ein movere? Nun, dann könnte er tatsächlich Glück haben. Es ist Notwehr. Die gilt auch im Rudel als solche. Beantwortet das deine Frage?“ Hm. Immerhin eine gute Nachricht. Dennoch machte ich mir Sorgen um Roy. Den Exfreund meiner Freundin. Mit dem mich sonst überhaupt nichts verband. Thea mochte meine Tante sein. Doch inwiefern konnte ich ihr diesbezüglich trauen? Was, wenn Roys Schutz aufgehoben wurde, weil wir zwei nicht liiert waren? Ich entschied mich darüber Stillschweigen zu bewahren. Schadete keinem.
Umso perplexer war ich, als sie meine Zweifel aussprach. „Wir sind ganz gut über dich informiert, Chantalle. Bis vorgestern hattest du keinen Freund. Allerdings scheinst du ihn zu kennen.“ Ich atmete hörbar aus. So schnell war die Katze aus dem Sack. Schön. Also konnte ich Thea ebenso gut aufklären. „Magst du ihn?“ Ihn mögen? Dafür kannte ich ihn zu wenig. Obendrein war er ein movere. Möglicherweise – nein – ganz bestimmt gefährlich. Aber auch für mich? „Äh… mögen… naja, er ist der Freund“, ich korrigierte mich, „Exfreund meiner Freundin.“ Thea nickte. „Und? Gefällt er dir oder nicht?“ Das war eine verzwickte Frage. Eine, mit der ich mich im Moment nicht auseiander setzen wollte. Also zuckte ich nur mit den Achseln. Thea starrte mich an. Um eine Antwort kam ich wohl nicht herum. „Geht so.“, sagte ich leise, was sie glucksend lachen ließ. Warum kam ich mir wie ein ertappter Teenager vor? Als steckte hinter Theas Frage etwas anderes als das allgemein Ersichtliche.
Ein lautes Krachen der Haustür vertrieb dieses Gefühl. Unmittelbar vor dem Küchentisch kam ein riesiger Wolf zum Stehen. Mein Herz klopfte in meinen Ohren. Aus reinem Reflex sprang ich auf und versuchte mich in Sicherheit zu bringen. Erst da bemerkte ich, dass um den Wolf ein wahrer Funkenregen ausbrach. Wunderschön. Ehrfurchtgebietend. Mystisch.
Und dann stand dort meine Cousine.
Nackt.
Thea warf mir einen kurzen Blick zu, der besagte, dass ich mich daran gewöhnen würde. Ich bezweifelte das. Im selben Augenblick sah sie jedoch irritiert zu Audrey, die uns mit leiser Stimme sagte, das besprochene Notfallszenario wäre eingetroffen. Thea und auch ihre Tochter schienen erstaunlich ruhig. Ich jedoch hatte Hummeln im Hintern und stand kurz vor einem Herzkasper.
Worüber auch immer sie jetzt sprachen, ich verstand gar nichts. Vor allem erinnerte ich mich an kein besprochenes Szenario. Gleich recht keins mit dem nervenaufreibenden Zusatz ‚Notfall‘. „Glücklicherweise haben wir eine Frau hier, die hervorragend mit Waffen umgehen kann.“ Thea sah wissend in meine Richtung. Ich blinzelte. Nickte. Kam es mir nur so vor oder war die Luft im Haus plötzlich dünner. „Ruhig, Chantalle. Atmen. Wir passen schon auf dich auf.“ Es behagte mir gar nicht, dass ich mich außen vor fühlte. Ich musste mich schleunigst zusammenreißen. Herr Gott nochmal, ich war 34! „Von welchem Notfall sprecht ihr?“ Thea und Marlene wechselten einen stummen Blick. Dann sprach meine Nichte. „Genau weiß ich es nicht. Aber Papa hat das Rudel gerufen.“ Funktionierten denn hier draußen Handys?
Oder gar das Telefon?
Thea musste meine Überlegungen bemerkt haben. „Als Wölfe kommunizieren sie anders.“ Ich schluckte. Wenn Eric Verstärkung rief, waren er, drei weitere Wölfe und Roy in Bedrängnis. Richtig? Aber welcher Art? „Was könnte der schlimmste Fall sein?“ Thea holte tief Luft. „Alle denkbaren Möglichkeiten sind kein Zuckerschlecken: Das Militär. Andere Raubwesen. Wobei wir das Militär hören müssten.“ Falls sie nah genug dran waren. „Hörst du etwas?“ Thea sah ihre Tochter fragend an. Die neigte den Kopf, schloss die Augen. „Nein. Aber ich habe deutlich Papas Warnung gehört und seinen Ruf nach dem Rudel.“ So musste man sich im Krieg fühlen.
Waren wir im Krieg?
Eric hatte es vorhin angedeutet. Ich wollte ihm nicht glauben. Die Ungewissheit nagte an mir. Und da war noch etwas anderes, was mir Sorgen bereitete: Raubwesen. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was Audrey damit meinte. Um ehrlich zu sein legte ich auch keinen gesteigerten Wert darauf es leibhaftig zu erfahren. „Und jetzt? Bleiben wir hier sitzen oder gehen wir in den Keller?“
„Wir haben keinen Keller.“
„Bunker?“
„Auch nicht.“ Scheiße! „ Wie ist euer Plan?“ Audrey war bereits aufgesprungen und mit unglaublicher Geschwindigkeit aus der Küche gerast. Innerhalb weniger Sekunden war sie wieder da. In den Händen mehrere Handfeuerwaffen sowie zwei Gewehre. Das eine sah aus wie das eines Scharfschützen. Wer sowas nicht kannte, glaubte vermutlich der Schütze hätte vergessen das Visier zu öffnen. Dabei war lediglich ein kleiner Schlitz darin zu finden. Wer von den beiden Frauen war dazu in der Lage einen Scharfschützen abzugeben? Audrey befand ich dafür als zu jung. Allerdings hatte ich Thea bisher nur die Rolle der Mutter und Hausfrau zugetraut. Oder wussten sie, dass ich dazu in der Lage war?
Natürlich!
Darum hatte Thea diese Äußerung von sich gegeben. Wie war es ihnen nur gelungen das herauszufinden? Paps hatte mich inoffiziell an der Waffe ausgebildet. Noch inoffizieller war nur, dass ich die Position eines Snipers einnehmen konnte. Im Gegensatz zu einer professionellen Ausbildung, in der auch das psychologische Profil eine entscheidende Rolle spielte, hatte ich allerdings nur gelernt, wie ich mein Ziel traf. Mir blieb keine Zeit darüber nachzudenken, wie sie das herausgefunden hatten.
Keine Minute später war Audrey das zweite Mal zurück. Beladen mit Munition. „Ok, Mädels, zuhören!“ Thea klatschte in die Hände. „Audrey, du kennst das theoretische Prozedere. Trotzdem zuhören. Chantalle?“ Ich nickte, Thea sprach weiter. „Bewaffnetes, angriffsbereites Militär handlungsunfähig machen. Notfalls ausschalten. Ein anderes Rudel – für dich und mich wird es schwierig. Für dich jedoch noch schwieriger als für mich. Du kennst die Wölfe nicht. Vampire – dann sind wir im Arsch. Die sind noch einen Tick schneller, können sich außerdem teleportieren. Dämonen – hoffen wir, dass es keine sind. Dann würde uns selbst ein Flammenwerfer nichts nützen.“ Flammenwerfer klang ausgezeichnet. „Habt ihr einen?“ Audrey unterdrückte ein Kichern. Thea rollte mit den Augen. „Sollte man meinen, nicht? So mitten im Wald.“ Ach ja, Bäume… und Feuer… vertrug sich schlecht.
Es war eine Weile her, seit ich das letzte Mal eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Zumindest, um damit zu schießen.
Beinah acht Jahre, um genau zu sein.
Mehr als dass ich danebenschoss, konnte also nicht passieren. Naja, und dass ich den Löffel abgab.
„Beeilt euch!“, drängte Audrey, die ihren Kopf leicht schräg legte. Was immer sie hörte, musste sie ängstigen. Falls ich ihren Gesichtsausdruck richtig deutete. Thea zog sich rasch an. Ich ebenfalls. Als ich jedoch meinen Rucksack holen wollte, schüttelte sie den Kopf. Packte mich am Ärmel. „Keine Zeit mehr. Los!“ Na toll. Schon wieder rennen!
Aber wenn ich am Leben bleiben wollte, blieb mir keine andere Wahl. Ich folgte Thea. Hinter uns lief Audrey. Sicher konnte sie schneller laufen, aber wir mussten zusammen bleiben. Kurz vor einem dichten Gebüsch überholte sie uns, riss den linken Arm in die Höhe. Abrupt blieben Thea und ich stehen. „Sucht euch Deckung.“, flüsterte sie.
Dann reichte sie uns die Waffen und wurde zu einem Wolf. Dicht an ihre Mutter gedrängt, bugsierte sie diese hinter eine Hecke. Thea nickte. Legte sich flach auf den kalten Boden. Ich legte mich etwa zwei Meter neben sie. Thea hatte eine Pistole in der Hand. Eine andere als Ersatz neben sich liegen. Ich schnappte mir das Scharfschützengewehr, was mir ein aufmunterndes Lächeln meiner Tante einbrachte. Dann nickte sie. Ich ging in Stellung. Wir hatten genug Waffen – falls eine versagte. Plus ausreichend Munition, um ein