Von Jerusalem nach Marrakesch. Ludwig Witzani

Von Jerusalem nach Marrakesch - Ludwig Witzani


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auf Hochglanzfotografien hatte in mir schon in meiner Knabenzeit den Wunsch geweckt: Dieses Land muss ich sehen. Ich entsinne mich, wie ich in den allerfrühesten Zeiten meines Reiselebens, als ich gerade meine erste Anhaltertour durch Skandinavien plante, bereits überlegte, wie ich nach Marokko kommen könnte. Ich war noch keine sechzehn Jahre alt und saß regelmäßig an den Lesetischen der Volksbücherei Köln-Ehrenfeld, als mir der Niederlassungsleiter die schönsten Bildbände über Nordafrika zeigte: herrliche, großformatige Seiten, die sich wunderbar anfühlten und auf denen all das abgebildet war, was ich mit eigenen Augen sehen wollte: das goldene Licht des späten Tages auf der Stadtmauer von Marrakesch, das grün der Oasen am Rande der großen Wüste aber auch die harten männlichen Gesichter der Berber, die mir vorkamen wie Beispiele für ein zweites, ein härteres Menschsein in einem Kontinent, der so ganz anders war als alles, was in Europa existierte.

      Es dauerte allerdings noch geschlagene anderthalb Jahrzehnte, ehe ich diesen Wunsch in die Wirklichkeit umsetzen konnte. Die Vorgeschichte dieser Reise braucht hier nicht erzählt zu werden – wichtig war nur, dass ich endlich einen Reisepartner fand, mit dem ich in einem froschgrünen Ford Fiesta, mit einem Zelt und reichlich Konserven im Kofferraum in der Osterwoche nach Süden aufbrach, um das Land der großen Sultane und Marabuts zu besuchen. Mein Partner Wolfgang war vier Jahre älter als ich und in seinem ganzen Wesen dem meinen diametral entgegengesetzt. Er war verbindlich, wo ich schroff war, er war geschickt und geduldig, wo ich fahrig wurde, er war Familienvater, ich war Single, er war vorsichtig, wo ich draufgängerisch war, und er zögerte, wo ich mich schnell entschied - kurz: wir waren eine Mischung aus lauter Gegensätzlichkeiten, die sich gut ergänzten. Unsere Tour nach Marokko sollte die erste Etappe einer lebenslangen Reisepartnerschaft werden; wir waren anschließend zusammen in Algerien, Vietnam, in China, dem Iran, Alaska, Patagonien und an der Seidenstraße und haben Seite an Seite einen Großteil der Welt gesehen. Im Laufe dieses Reiselebens blieb die Welt sich nicht gleich, sie drehte und verwandelte sich nach ihrem eigenen Rhythmus und ist heute eine ganz andere als vor einer Generation. Auch Wolfgang veränderte sich, wurde grauer und gütiger und mir auf diese Weise von Reise zu Reise das unübersehbare Spiegelbild meines eigenen Alters.

      Aber davon war damals noch nichts zu ahnen. Wie zwei wild gewordene Buben rasten wir dem Süden entgegen, passierten die Eifel, die Vogesen, das Rhonetal, die endlosen Küsten der iberischen Halbinsel, ehe wir schließlich nach zwei Tagen in der Nähe von Gibraltar die Fähre nach Marokko erreichten. Die Überfahrt von Tarifa nach Tanger vollzog sich wie in einem Rausch. So viele neue Farben und Düfte, fremdartige Gestalten und Geräusche erfüllten die Luft, die Berber sprachen französisch und tranken Bier, manche lachten, andere schimpften, und die meisten trugen merkwürdig bunte Gewänder.

      Aber schon an den Kais von Tanger veränderten sich die Eindrücke. Marokko war erreicht, aber von Tausendundeiner Nacht war nichts zu spüren. Tanger war eine Millionenstadt mit überfüllten Straßen, hupenden Autos, sperrigen Obstständen, fahrenden Händlern und – wohin das Auge blickte – mit Kapuzenmännern. Als verfügten diese Kapuzenmänner über unendlich viel Zeit und Raum, bewegten sich mit ihrem eingeschränkten Gesichtsfeld wie im Zeitlupentempo über die Plätze, so dass man fast um ihr Leben fürchten musste. Damals wusste ich noch nichts von den Feinheiten der islamischen Männermode und konnte die Djellaba, das marokkanische Kapuzengewand, noch nicht von der ägyptischen Galabija, dem Kaftan ohne Kapuze, geschweige denn vom Shalwar Qamiz, dem knielangen Hemd aus Pakistan unterscheiden. Aber auch ohne die Kapuzenmänner war das Straßenbild beängstigend: Obst und Mensch, Vieh und Kind, Früchte und Salate, Karren, Tische und Bänke verbanden sich zu regelrechten Bandwurmmärkten, die kein Ende nehmen wollten. An Straßenecken und vor den Geschäften warteten Krüppel und Bettler, lauter erbärmliche Figuren, die ihre Prothesen und Stümpfe den Passanten entgegenhielten und um Almosen baten. Die Geräuschkulisse hatte etwas Heulendes, eine heruntergedimmte Kakophonie aus Klagen, Hupen und Kreischen lag wie eine Glocke über der Stadt.

      Der Gran Socco von Tanger war ein palmengesäumter Platz mit Rundbänken, Brunnen und wenig grün. Jugendliche in westlicher Kleidung umkreisten den Platz mit ihren knatternden Motorrädern, als hätte man sie wie Spielzeugfiguren aufgezogen. Trotz des Lärms saßen alte Männer in ihren Kapuzenkaftanen mit gesenktem Kopf im Dauermodus des Dösens auf den Bänken. Als der Muezzin zum Gebet rief, standen sie auf und machten sich auf ins Gotteshaus. Uns wurde der Eintritt verwehrt. Hier war Raum nur für die, die an Allah glaubten.

      Im Umkreis des Gran Socco hatte Paul Bowles in dem fiktiven „Cafe Eckmühl-Noiseux“ seinen Roman „Himmel über der Wüste“ beginnen lassen, die Geschichte eines amerikanischen Ehepaares, das gelangweilt die Welt durchstreifte und schließlich ins Innere Afrikas aufbrach, um durch neue Erfahrungen ihre Ehe zu retten. Einer der beiden, Port Moresby, sollte dabei umkommen, Kit, seine Gattin, kehrte am Ende des Romans alleine nach Tanger zurück. Die Fremde hatte sie nicht gerettet sondern vernichtet.

      Wir verließen Tanger und fuhren nach Süden. Tausend Kilometer bis zur Grenze der Westsahara. Rechts die Berge, links der Ozean, zersiedelte Regionen ohne Zentrum und Gesicht. Dazwischen alle naselang alleine und wie vergessen am Straßenrand herumstehende Marokkaner. Dort stand ein Marokkaner an der einer Kreuzung, hier ein anderer unter einer Palme, ein Dritter saß in einem Graben, andere kauerten, lagen, standen oder saßen auf Feldern, Steinen oder Brüstungen – alle so merkwürdig weit voneinander entfernt, als sorge eine verborgene Kraft der Abstoßung dafür, dass sie nicht zu eng zusammenrückten. Wie Statisten in einem bizarren Menschenverteilungsprogramm, bevölkerten die Leute die Landschaft - verhüllt mit ihren Kapuzen blickten sie den Reisenden teilnahmslos hinterher, als sei es ihnen egal, wohin sie fuhren oder woher sie kamen. Als wir endlich eine menschenleere Gegend kurz vor Asilah erreichten und ich am Straßenrand einfach nur austreten wollte, stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen ein Kapuzenträger neben mir.

      In den kleineren Orten am Wegesrand wiederholten sich immer die gleichen Szenen. In den Straßencafés saßen die Kapuzenmänner auf kleinen Schemeln und blickten uns an, als wären wir soeben vom Mars zur Erde heruntergefallen. Ungläubig und abweisend waren die Mienen der älteren Männer, ölig und voller Schleim die Annäherung von drei jungen Burschen, die sich ungefragt an unseren Tisch setzten und sich in gebrochenem Französisch als unsere „Freunde“ zu erkennen gaben. Einer von ihnen bot uns an, uns in dem Ort herumzuführen, und marokkounerfahren wie wir waren, nahmen wir an. Unser selbst ernannter Führer hatte aber weder von Moscheen oder Medresen eine Ahnung, sondern er schleppte uns sofort in das Teppichgeschäft seines Bruders und verlangte am Ende ein Vielfaches des Entgeldes, das wir ihm freiwillig geben wollten. Als er unser Zögern bemerkte, verwandelte sich sein subalternes Gehabe in ein aggressives Fordern.

      Asilah – eine blitzsaubere Stadt, so hell als bewege man sich in einem überbelichteten Foto. Hier waren Künstler zuhause, und viele Fassaden waren mit surrealistischen Gemälden bedeckt. Saubere Straßen, geordnete Märkte, ein zivilisatorisch durchgelüftetes Marokko. In einer Grundschule saßen lachende Knirpse, mitunter zwei auf einem Stühlchen. Diese kleinen Marokkaner waren fröhlich, sie kniepten und winkten, Neugier und Freundlichkeit weste aus ihren Poren. Dafür lief mir im nächsten Ort ein dreister Schlacks hinterher und verlangte zwei Dirham dafür, dass ich einen Truthahn abgelichtet hatte. Sie alle waren Teil einer gewaltigen Kinder- und Jugendwelle, die die Bevölkerung dieses Landes in der nächsten Generation verdoppeln würde.

      Das römische Lixus. Totes Gestein, ein Universum von allem entfernt, was an Rom erinnerte. Überwachsene Ruinen ohne Aura. Wohnort der Legionäre, die der Kaiser als Kolonisten an das Ende der Welt verbannt hatte. Später kamen die aus Spanien vertriebenen Moslems hinzu. Alles verband sich mit allem, bis der Marokkaner entstand. Als wir neben den Ruinen hielten, beäugten uns kleine Mädchen aus sicherer Entfernung. Wie scheue Kätzchen ließen sie sich nicht anlocken, noch nicht einmal, als ich ihnen Knäcke und Käse anbot.

      Abends liefen die Kinder durch die Gassen. In den Händen trugen sie offene Schachteln, aus denen sie einzelne Zigaretten verkauften. In der Ökonomie der Armut dominierte die kleine Portion. Marokkanische Männer, auch die westlich gekleideten, hielten sich an den Händen und küssten einander. Paare sah ich selten, aber die wenigen Frauen, die unseren Weg unverschleiert kreuzten waren schön. Braune Haut mit einem Bronzeton, hohe Backenknochen, lange, unafrikanische Nasen, breite Münder mit vollen Lippen und weißen


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