Summer of 86. Anja Kuemski

Summer of 86 - Anja Kuemski


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bei der Erinnerung. Der Türsteher vom Sam's war ein Kumpel gewesen, der ihn schon durchgewunken hatte, als er noch nicht einmal volljährig war.

      »Was grinsen Sie denn so?«

      »Ach, nur so. Mir war gerade wieder eingefallen, dass ich früher oft hier in der Ecke gewesen bin.«

      »Früher? Mit Ihrer werten Gattin?«

      »Nee, noch früher. Als Halbstarker.«

      Nun grinste Schücking ebenfalls.

      »Sie und halbstark? Etwa so ein Rocker mit Lederjacke und Moped?«

      »Nee, mit Jeansjacke und Fahrrad.«

      Schücking schmunzelte. Dann runzelte er die Stirn, als sei ihm etwas eingefallen, das nicht ins Bild passte. Er schüttelte sich, als müsse er den Gedanken loswerden, und nahm einen Schluck Kaffee.

      »Wo sind Sie denn so hingegangen als Teenager?«, fragte Kattenstroth. Er wollte nicht noch einmal auf das Thema Julius Schücking zurückkommen. Jetzt nicht. Auf Dauer würde es sich natürlich nicht vermeiden lassen. Aber er wusste inzwischen ganz gut, wann ein Themenwechsel bei seinem Mitbewohner angebracht war.

      »Ich bin nicht ausgegangen.«

      »Nie?«

      Wieder runzelte Schücking die Stirn, als müsse er mühsam einzelne Bilder aus der Vergangenheit hervorholen. Oder verdrängen. Das wusste man bei ihm nie so genau.

      »Nein, nie. Das gesellige Herumgehopse war noch nie nach meinem Geschmack.«

      »Dabei kann ich Sie mir sehr gut vorstellen, so im Gothic Look der 80er. Blass geschminkt, Haare hochtoupiert, minimalistische Bewegungen auf der Tanzfläche. Ich wette, die Mädels standen Schlange. Einige Typen sicher auch.«

      Wie aus dem Nichts hatte Kattenstroth auf einmal das Bild eines ernsten, blassen Jungen vor Augen, das so real war, als stünde er hier vor ihm.

      »Womit haben Sie denn die Pubertät durchgestanden? Die ersten Computerspiele? Atari und so?«

      »C64. Aber ich habe nicht viel Zeit mit Spielen verbracht.«

      »Womit dann?«

      »Wissen Sie, Kattenstroth, da gibt es so ein Ding, da wird Papier zusammengeheftet und darauf sind Zeichen aufgedruckt, die man Wörter nennt. Alles in allem ist dieses Buch-Ding eine recht nützliche und unterhaltsame Sache. Sie sollten es einmal probieren.«

      Kattenstroth schnaubte verächtlich.

      »Nee, das soll ganz schlecht für die Augen sein.«

      Er deutete vielsagend auf Schückings Brille, dann auf sein eigenes, brillenloses Gesicht.

      »Und Sie wollen mir wirklich weismachen, dass Sie die ganze Zeit nur Bücher gelesen haben, während die Hormone verrückt spielten?«

      Schücking schaute mit gerunzelter Stirn in seine fast leere Kaffeetasse.

      »Mag sein, dass ich mich nicht an alles erinnere. Ich war 14 als meine Mutter sich umgebracht hat, um die Zeit herum fehlen mir ziemlich viele Dinge.«

      Kattenstroth hätte sich ohrfeigen können. Er hätte nicht so drängeln dürfen.

      »Sorry. Und ich Idiot bohre auch noch nach.«

      Schücking zuckte mit den Schultern und starrte in die Kaffeetasse.

      »Wollen wir gehen? Ich müsste noch eben schnell hier nebenan ins Reformhaus.«

      Schücking nickte und zückte sein Portemonnaie.

      »Nee, lassen Sie mal stecken. Ich bin dran.«

      Anstatt wie üblich zu widersprechen, steckte Schücking die Geldbörse wieder ein. Anfangs hatte er darauf bestanden, immer zu bezahlen, weil Kattenstroth so wenig Geld verdiente. Aber inzwischen hatten sie eine Routine entwickelt, abwechselnd zu zahlen, was sich auch beim Einkaufen im Supermarkt sehr bewährt hatte, weil sie sich dann viel seltener an der Kasse vor aller Ohren stritten.

      Sie verließen das Kachelhaus und bogen in die Goldstraße ein. Plötzlich beschleunigte Schücking, sodass Kattenstroth ihm kaum folgen konnte. An der Kreuzung zur Ritterstraße wäre er beinahe von einem Radfahrer umgefahren worden, der laut schimpfend weiterfuhr.

      »Mensch, Schücking! Passen Sie doch auf!«

      Kattenstroth rannte ein paar Schritte, um aufzuholen. Er warf einen Seitenblick auf Schücking, der stur eine bestimmte Stelle in der Straße ansteuerte. Abrupt blieb er vor einem Hauseingang stehen und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe.

      »Darf man fragen, was das gerade sollte?«, maulte Kattenstroth.

      »Ich war schon mal hier.«

      »Ach, was Sie nicht sagen? Sie wohnen schon Ihr ganzes Leben in dieser Stadt. Wir gehen seit Wochen regelmäßig in dieses Café. Wir sind bestimmt schon mal hier durch die Notpfortenstraße gegangen.«

      »Nein, sind wir nicht. Wir gehen immer den Weg in die andere Richtung, durch die Goldstraße zurück oder Richtung Niedernstraße.«

      »Dann waren Sie eben aus einem anderen Grund schon mal in dieser Straße.«

      »Ich rede von diesem Hauseingang.«

      »Vielleicht kannten Sie mal Leute, die hier wohnten.«

      »Ich sagte nicht, dass ich je durch diese Haustür geschritten bin. Hören Sie besser zu, Kattenstroth.«

      Schücking ging ein Stück die Straße zurück bis zur Kreuzung und blickte in die Ritterstraße. Wieder runzelte er ein wenig ratlos die Stirn.

      »Da gegenüber vom Parkhaus und hier vorne die Ecke, sah das alles nicht früher anders aus?«

      »Hier war mal der Eingang zu einer Disco. Eine oben, eine im Keller, wenn ich mich recht erinnere. Eher was für die Popper. Nicht mein Fall.«

      Schücking schloss die Augen und nickte langsam.

      »Ja, ich erinnere mich.«

      »Also waren Sie doch tanzen?«

      Schücking hatte sich die Arme um den Leib geschlungen, als sei ihm kalt, was bei den aktuellen Temperaturen nicht verwunderlich war. Aber dann begann er, sich merkwürdig zu bewegen, als höre er Musik in seinem Kopf.

      »Äh, Schücking?«

      Er öffnete die Augen und blickte Kattenstroth skeptisch an.

      »Ist es meine eigene Erinnerung oder habe ich das in einem Film gesehen?«

      »Keine Ahnung, Mann. Was machen Sie denn in der Erinnerung?«

      »Ich … nun, tanzen wäre vielleicht zu viel gesagt.« Er schloss erneut die Augen. »Da ist eine blonde Frau. Sie ist viel zu nahe.«

      »Oha. Sind Sie sicher, dass Sie mir das hier mitten auf der Straße erzählen wollen?«

      Schücking sah ihn irritiert an.

      »Wieso denn nicht?«

      »Tja, na gut, wenn es Sie nicht stört? Intime Einzelheiten können Sie mir aber ersparen.«

      Ungebeten tauchten in seinem Kopf Bilder von Schücking und einer Blondine auf, einem sehr jungen Schücking, so wie er ihn sich gerade eben noch vorgestellt hatte, im Gothic Look. Wieder wirkte diese Vorstellung erstaunlich real.

      »Vielleicht sind wir uns mal begegnet in jungen Jahren«, mutmaßte er.

      »Meinen Sie nicht, dass wir uns daran erinnern würden?«

      »Nicht, wenn es eher eine flüchtige Begegnung war. Außerdem habe ich viel gekifft damals.«

      Schücking schüttelte energisch den Kopf.

      »Ich aber nicht.«

      »Ihr Gedächtnis ist aber ohnehin etwas lückenhaft. Es wäre also denkbar.«

      »Dann ist meine Erinnerung an das Tanzen mit dem


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