Silas Marner. George Eliot
war schon vier Uhr morgens. Wie kam es, daß Wilhelm ihn nicht abgelöst hatte? In großer Sorge ging er fort, um Hilfe zu suchen, und bald waren mehrere Freunde, darunter der Pfarrer, im Hause versammelt, während Silas an die Arbeit ging, nachdem er vergebens auf Wilhelm gewartet hatte, um von ihm den Grund seines Ausbleibens zu hören.
Aber um sechs Uhr, als er schon daran dachte, seinen Freund aufzusuchen, kam Wilhelm und der Prediger mit ihm. Sie forderten ihn nach dem Betsaal, wo die Mitglieder der Gemeinde auf ihn warteten, und auf seine Frage nach der Ursache gaben sie nur die Antwort: »das sollst Du schon hören«. Weiter wurde nichts gesagt, bis Silas in der Sakristei saß, dem Prediger gegenüber, und die Augen derer, die für ihn Gottes Volk waren, mit feierlichem Ernst auf ihn geheftet. Der Prediger holte ein Taschenmesser hervor, zeigte es Silas und fragte ihn, ob er wisse, wo er das Messer gelassen habe. Silas antwortete, er wisse nicht, daß er es wo anders gelassen habe als in seiner eigenen Tasche, aber er zitterte bei diesem seltsamen Verhör. Dann ermahnte man ihn, er solle seine Sünde nicht verbergen, sondern gestehen und bereuen; das Messer sei in dem Schreibtisch neben dem Bett des verstorbenen Vorstehers gefunden, und zwar an der Stelle, wo der kleine Beutel mit der Kirchenkasse gelegen habe, den der Prediger selbst noch den Tag vorher gesehen; jemand habe diesen Beutel entwendet, und wer könne das anders gewesen sein, als der, dem das Messer gehöre? Eine Zeit lang saß Silas stumm vor Staunen; dann sagte er: »Gott wird mich reinigen von diesem Verdacht; ich weiß nichts davon, daß das Messer da war, oder daß das Geld fort ist. Durchsucht mich und meine Wohnung; ihr werdet nichts finden, als drei Pfund von meinen eigenen Ersparnissen, die ich – Wilhelm kann es bezeugen – schon sechs Monate habe.« Bei diesen Worten stöhnte Wilhelm, aber der Prediger sagte: »der Beweis ist stark gegen Euch, Bruder Marner; das Geld ist letzte Nacht weggekommen, und niemand ist bei unserm verstorbenen Bruder gewesen als Ihr, denn Wilhelm Dane ist durch ein plötzliches Unwohlsein verhindert worden, Euch zur gewöhnlichen Stunde abzulösen, und Ihr selbst gebt zu, daß er nicht dagewesen ist.«
»Ich muß eingeschlafen sein«, meinte Silas, und nach einer Pause fügte er hinzu: »oder ich habe wieder eine Heimsuchung gehabt, wie damals hier vor Euer aller Augen; da wird der Dieb gekommen sein, während ich nicht im Leibe, sondern außer dem Leibe war. Aber ich wiederhole, durchsucht mich und meine Wohnung, denn ich bin sonst nirgendwo gewesen.«
Man suchte nach und das Suchen endete damit, daß Wilhelm Dane den wohlbekannten Beutel leer hinter der Kommode in Silas Stube fand! Nun ermahnte Wilhelm seinen Freund, seine Sünde offen zu gestehen. Silas warf ihm einen Blick voll bitteren Vorwurfs zu und sagte: »Wilhelm, neun Jahre sind wir Tag für Tag zusammen gewesen, hast Du mich je eine Lüge sagen hören? Aber Gott wird mich reinigen.«
»Bruder«, antwortete Wilhelm, »wie kann ich wissen, was Du in Deinem Herzenskämmerlein getan haben magst, um dem Satan Gewalt über Dich zu geben?«
Noch immer blickte Silas den Freund an; plötzlich überzog eine tiefe Röte sein Gesicht, und er war schon im Begriff, heftig loszufahren, als ihn ein innerer Kampf zurückzuhalten schien, der die Röte vertrieb und ihn zittern machte. Endlich sagte er mit matter Stimme, indem er Wilhelm ansah:
»Jetzt erinnere ich mich – das Messer war nicht in meiner Tasche.«
Wilhelm erwiderte: »ich weiß nicht, was Du meinst«; aber die andern Anwesenden fingen an sich zu erkundigen, was Silas damit sagen wolle; doch wollte er keine weitere Erklärung geben und sagte nur: »ich bin tief betrübt; sagen kann ich nichts: Gott wird mich reinigen.«
Bei der Rückkehr in den Betsaal wurde weiter beraten. Gerichtliche Maßregeln zur Entdeckung des Verbrechers widersprachen den Grundsätzen der Gemeinde; Verfolgung galt ihnen für unchristlich, selbst wenn es sich nicht zugleich um ein Ärgernis für das Volk Gottes gehandelt hätte. Sie beschlossen zu beten und zu losen – ein Beschluß, der nur die überraschen kann, die mit den religiösen Vorgängen unbekannt sind, welche im Stillen in den Gassen und Winkeln unserer Städte sich ereignen. Silas kniete mit den Brüdern nieder; er war gewiß, seine Unschuld würde durch unmittelbare Einwirkung von oben bestätigt werden, aber Schmerz und Trauer, das fühlte er, warteten doch auf ihn; sein Glaube an die Menschheit war grausam zerstört. Das Los erklärte, Silas Marner sei schuldig. Er wurde feierlich aus der Kirchengemeinde ausgestoßen und aufgefordert, das gestohlene Geld herauszugeben; nur wenn er gestände und dadurch Reue bewiese, könne er als verirrtes Lamm wieder in die Herde aufgenommen werden. Schweigend hörte Marner das an. Endlich, als alle sich erhoben, um fortzugehen, trat er auf Wilhelm Dane zu und sagte mit einer Stimme, die vor Aufregung bebte:
»Das letzte Mal, als ich mein Messer gebrauchte, das war, als ich für Dich den Riemen schnitt. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich’s wieder in die Tasche steckte. Du hast das Geld gestohlen und Du hast mich in ein Netz verstrickt, daß die Schuld auf mich fällt. Aber trotzdem mag’s Dir wohl gut gehen; es gibt keinen gerechten Gott, der die Erde rechtschaffen regiert, – nur einen Gott der Lüge, der Zeugnis ablegt wider den Gerechten.«
Ein allgemeiner Schauder ging bei dieser Gotteslästerung durch die Gemeinde.
Wilhelm erwiderte sanft: »die Brüder mögen urteilen, ob das die Stimme des Satans ist, oder nicht. Silas, ich kann nur für Dich beten.«
Der arme Silas ging fort, im Herzen die Verzweiflung, den erschütterten Glauben an Gott und Menschen, der für eine Natur voll Liebe an Wahnsinn grenzt. In der Bitterkeit seines verwundeten Gemüts sagte er sich: »jetzt wird sie mich auch verstoßen«, und er überlegte sich, wenn sie ihn nicht auch für schuldig halte, so müsse ihr ganzer Glaube ebenso zerstört sein, wie der seinige. Wer gewohnt ist, über die Formen nachzudenken, in denen sein religiöses Gefühl sich verkörpert hat, der kann sich kaum in den einfachen natürlichen Seelenzustand versetzen; wo die Form und das Gefühl nie durch einen Akt der Reflexion getrennt sind. Man sollte meinen, ein Mensch in Marners Lage müsse notwendig die Frage aufgeworfen haben, ob denn auch eine Berufung auf die Entscheidung Gottes durchs Los verläßlich sei, aber das wäre für ihn ein Akt geistiger Freiheit gewesen, wovon er nichts wußte, und er hätte diesen Aufschwung in einem Augenblick nehmen müssen, wo seine ganze Kraft sich in den tiefen Jammer eines gestörten Glaubens verloren hatte. Wenn es einen Engel gibt, der die Leiden der Menschen so gut verzeichnet wie ihre Sünden, dann weiß er, wie mannigfach und tief die Leiden sind, die aus falschen Vorstellungen entspringen, für die kein Mensch die Schuld trägt.
Marner ging nach Haus und saß einen ganzen Tag allein, betäubt von Verzweiflung, ohne daß es ihn trieb, zu Sarah zu gehen und sie von seiner Unschuld zu überzeugen. Den zweiten Tag suchte er vor dem erstarrenden Unglauben bei der Arbeit am Webstuhl Zuflucht, und wenige Stunden nachher kam der Prediger mit einem der Vorsteher und kündigte ihm an, Sarah betrachte ihre Verlobung als aufgelöst. Schweigend nahm Silas die Nachricht hin und wandte sich wieder an die Arbeit. Einen Monat darauf heirateten sich Sarah und Wilhelm Dane, und nicht lange nachher erfuhren die Brüder in der Laternengasse, Silas Marner sei nicht mehr in der Stadt.
Zweiter Abschnitt
Selbst die Menschen, denen Bildung das Leben verschönert und bereichert, finden es bisweilen schwer, an ihren hergebrachten Lebensanschauungen festzuhalten, an ihrem Glauben an den Unsichtbaren, ja an dem Gefühl, daß sie ihre vergangenen Freuden und Leiden wirklich erlebt haben, – wenn sie plötzlich in ein neues Land versetzt werden, wo ihre Mitmenschen ihre Geschichte nicht kennen, ihre Begriffe nicht teilen, wo der Mutterschoß der Erde anders aussieht und das Leben der Menschen sich in andern Formen bewegt, als die, an denen ihre Jugend sich genährt hat. Wie mußte es erst auf einen einfachen Weber wie Silas Marner wirken, als er aus seiner Heimat und seiner Freundschaft wich und sich in Raveloe niederließ! Nichts hätte seiner Vaterstadt, die in einer großen Ebene zwischen fernen Hügeln lag, unähnlicher sein können, als diese Waldgegend, wo ihm die Bäume und Hecken selbst den Himmel zu verdecken schienen. Wenn er in der stillen Morgenfrühe aufstand und hinausblickte auf die vom nächtlichen Tau feuchten Brombeerbüsche und die üppigen Grasbüschel, dann fand er nichts, was irgendeine Beziehung zu dem Leben zu haben schien, welches in der Laternengasse seinen Mittelpunkt hatte. Die weiß angestrichenen Wände, die kleinen Betstühle, wo wohlbekannte Gestalten mit leisem Rauschen eintraten, und wo zuerst eine wohlbekannte Stimme und dann eine andere, jede in einem eigentümlichen Ton halb hörbare Wendungen äußerte,