Silas Marner. George Eliot

Silas Marner - George Eliot


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niemand bezweifelte, und in altgewohnter Weise sich hin und her bewegte und das Buch handhabte, – die Pausen selbst zwischen den Strophen des Lobgesangs und das Steigen und Fallen der Stimmen, – aus alle dem hatte einst der Himmel zu Marner gesprochen – all das hatte einst seine religiösen Empfindungen gehegt und genährt – war für ihn Christentum und das Reich Gottes auf Erden gewesen.

      Und was konnte wohl diesem Bethause unähnlicher sein als das Dorf Raveloe? – Obstgärten, so üppig, daß der Reichtum darin verkam; die große Kirche auf dem weiten Kirchhof, die die Leute anstarrten, wenn sie um die Zeit des Gottesdienstes vor ihren Türen herumlungerten; Pächter mit hochroten Gesichtern, die über die Feldwege trabten oder im »Regenbogen« einsprachen; Bauerhäuser, wo die Männer mächtig zu Abend schmausten und beim Scheine des nächtlichen Herdfeuers schliefen, und wo die Weiber einen Vorrat von Leinen aufhäuften, als wär’s für die Ewigkeit. In Raveloe konnte von keiner Menschenlippe ein Wort fallen, welches den erstarrten Glauben Silas Marners in schmerzliche Erregung hätte versetzen können. In früheren Zeiten glaubten die Menschen, jedes Gebiet werde von besonderen Göttern bewohnt und beherrscht, und wenn man über die angrenzenden Hügel ginge, so sei man außer dem Bereich seiner heimatlichen Götter, deren Gegenwart auf die Flüsse, Wälder und Hügel beschränkt sei, zwischen denen man aufgewachsen war. Der arme Silas hatte eine dunkle Vorstellung, die dem Gefühl jener Zeiten nicht unähnlich war, wo die Menschen aus Furcht oder Trotz vor einer unfreundlichen Gottheit flohen. Die Macht, auf die er in den Straßen und in den Betstunden seiner Heimat vergebens vertraut hatte, schien ihm sehr weit entfernt von seiner jetzigen Zufluchtsstätte, wo die Leute in sorglosem Überfluß lebten und von dem Gottvertrauen, welches bei ihm in Bitterkeit verkehrt war, nichts wußten noch verlangten. Das wenige Licht, das ihm geblieben, beleuchtete einen so schmalen Raum, daß getäuschter Glaube ein hinreichend breiter Vorhang war, um rings um ihn her nächtiges Dunkel zu breiten.

      Sein erster Antrieb nach dem Schicksalsschlage war gewesen, an seinem Webstuhl zu arbeiten, und unablässig hielt er sich dazu, ohne dabei zu fragen, weshalb er hier in Raveloe bis in die Nacht arbeite, um das Tischzeug für Frau Osgood fertig zu machen, obwohl er noch nicht mal wisse, wieviel sie ihm dafür geben würde. Er schien wie eine Spinne aus reinem Naturtrieb ohne Überlegung zu weben. Jede Arbeit, die man stetig betreibt, wird auf diese Weise schließlich Selbstzweck und hilft über die harten Klüfte des Lebens hinüber. Marners Hand fand eine Befriedigung darin, das Weberschiffchen hin und her zu schleudern, und sein Auge freute sich, die kleinen Muster in dem Gewebe sich vollenden zu sehen. Dann kamen die Bedürfnisse des täglichen Lebens, und in seiner Einsamkeit hatte Silas selbst für Frühstück, Mittag- und Abendbrot zu sorgen, sich selbst das Wasser aus der Quelle zu holen und den Kessel aufs Feuer zu setzen, und alle diese Forderungen der Existenz mit der Arbeit des Webens zusammen brachten sein Leben allmählich zu der gedankenlosen Tätigkeit eines spinnenden Insekts herab. Er haßte den Gedanken an die Vergangenheit; die Fremden, unter denen er jetzt lebte, hatten keinen Anspruch auf seine Liebe und Freundlichkeit, und die Zukunft war leeres Dunkel, denn es gab keinen Gott der Liebe, der sich um ihn bekümmerte. Sein Denken war in voller Verwirrung, seit ihm das alte schmale Geleise verschlossen war, und seine Menschenfreundlichkeit schien dem harten Schlage erlegen zu sein, der sie an der zartesten Stelle getroffen hatte.

      Endlich war das Tischzeug für Frau Osgood fertig und Silas erhielt seine Bezahlung in Gold. In seiner Vaterstadt, wo er für einen Fabrikanten arbeitete, hatte er viel weniger verdient; er war wochenweise bezahlt worden und hatte diesen Wochenlohn zum großen Teile für kirchliche und wohltätige Zwecke verwendet. Jetzt hielt er zum ersten Mal in seinem Leben fünf blanke Goldstücke in der Hand; niemand erwartete davon sein Teil, und er hatte keinen Menschen auf der Welt, dem er etwas davon hätte anbieten mögen. Aber was waren denn die Goldstücke für ihn, der keine Aussicht im Leben vor sich sah, als eine endlose Reihe von Arbeitstagen am Webstuhl? Das brauchte er nicht zu fragen, eine solche Freude war es ihm, die Goldstücke in der Hand zu fühlen, ihre glänzenden Flächen anzusehen, die ihm ganz allein gehörten; es war ihm ein neues fremdes Lebenselement zu seinem Weben und Essen. Was sauer erworbener Verdienst ist, hatte seine Hand erfahren, schon ehe sie ihre Mannesbreite erreicht hatte; zwanzig Jahr lang war ihm das Geld ein Symbol irdischer Güter und das nächste Ziel der Arbeit gewesen; er hatte sich nicht viel daraus gemacht als noch jeder Groschen für ihn seinen Zweck hatte, denn damals fragte er eben nach dem Zweck. Aber jetzt, wo er keinen Zweck mehr hatte, reizte der Anblick und die Berührung des Geldes, im Bewußtsein einer gelungenen Anstrengung, Freude und Verlangen wieder auf, und als er in der Dämmerung über die Felder nach Haus ging, nahm er das Geld heraus und meinte, in dem zunehmenden Dunkel glänze es noch heller.

      Um diese Zeit trug sich etwas zu, was die Möglichkeit eines Verkehrs mit seinen Nachbarn zu eröffnen schien. Eines Tages, als er ein Paar Schuhe ausbessern lassen wollte, sah er die Frau des Schuhflickers am Feuer sitzen und an den schrecklichen Symptomen einer Herzkrankheit leiden, die er von dem Sterbebette seiner Mutter als Vorläufer des Todes kannte. Bei diesem Anblick und dieser Erinnerung erwachte sein Mitleid, und da ihm einfiel, wie gut seiner Mutter ein einfacher Trank von Fingerhut bekommen sei, so versprach er der armen Sally Oates, er wolle ihr etwas zur Erleichterung bringen, da ihr der Doktor doch nicht helfen könne. Bei dieser menschenfreundlichen Handlung hatte Silas zum ersten Mal, seit er nach Raveloe gekommen, ein Gefühl der Einheit zwischen seinem vergangenen und gegenwärtigen Leben, und vielleicht hätte ihn dies aus der insektenartigen Existenz, in die seine Natur versunken war, allmählich retten können. Aber Sally war durch ihre Krankheit zu einer sehr interessanten und bedeutenden Person geworden, und die Tatsache, daß ihr ein Tränkchen von Silas Marner geholfen hatte, wurde allgemein besprochen. Wenn Doktor Kimble Medizin gab, so war es natürlich, daß die half, aber wenn ein Weber, von dem niemand wußte, wo er her sei, mit einer einzigen Flasche von braunem Getränk Wunder wirkte, so war es klar, daß das nicht mit rechten Dingen zuging. So etwas hatte man nicht erlebt, seit die weise Frau in Tarley gestorben war, und die verstand sich auf Besprechungen so gut wie auf Tränkchen; alle Leute gingen zu ihr, wenn die Kinder Krämpfe hatten. So einer mußte Silas Marner auch sein; denn wie hätte er wohl wissen können, was Sally Oates ihren Atem wiedergebe, wenn er nicht ein gut Teil mehr wüßte? Und die weise Frau hatte gewisse unverständliche Worte vor sich hingemurmelt, und wenn sie dabei dem Kinde ein Stückchen roten Faden um die Zehe band, so schützte das gegen den Wasserkopf. Es gab Frauen in Raveloe, die ein kleines Beutelchen von der weisen Frau um den Hals getragen und in Folge dessen nie ein blödsinniges Kind gehabt hatten. Auf so was verstände sich Silas Marner gewiß auch und wohl noch auf mehr, und jetzt sei es auch ganz klar, weshalb er so aus der Fremde hergekommen und so kurios aussähe. Aber Sally Oates müsse sich wohl hüten und dem Doktor nichts davon sagen, denn der würde gewiß wild auf Marner; auch gegen die weise Frau sei er immer böse gewesen und habe oft gedroht, wer zu ihr ginge, dem verschreibe er nichts mehr.

      So fand Silas plötzlich sich und seine Hütte von Müttern belagert, denen er die Milch wieder geben oder deren Kindern er den Keuchhusten besprechen sollte, und von Männern, die Mittel gegen Rheumatismus und Warzen verlangten, und, um sich gegen eine abschlägige Antwort zu sichern, hielten die Kunden immer Geld in der offenen Hand. Silas hätte ein vorteilhaftes Geschäft mit Zaubermitteln und seinen paar Tränkchen machen können; aber ein solcher Verdienst lockte ihn nicht; Falschheit und Heuchelei war ihm immer zuwider gewesen, und mit steigendem Zorn trieb er einen nach dem andern aus dem Hause, denn die Kunde von dem neuen Wunderdoktor hatte sich schon auf die umliegenden Dörfer verbreitet, und noch lange Zeit kamen die Leute von weit her, um bei ihm Hilfe zu suchen. Aber endlich verwandelte sich die Hoffnung auf seine Wunderkraft in Furcht und Angst; denn daß er von Zaubereien nichts wisse und keine Kuren machen könne, wollte ihm niemand glauben, und alle Leute, die eine Krankheit oder einen neuen Anfall hatten, nachdem sie bei ihm gewesen waren, legten ihr Unglück seinem bösen Willen und bösen Blicken zur Last. So kam es denn, daß das Mitleid für Sally Oates, welches ihn vorübergehend in freundlichen Verkehr mit seinen Mitmenschen gebracht hatte, schließlich die Kluft zwischen ihm und den Nachbarn noch erweiterte, so daß er vollständig vereinsamte.

      Allmählich wuchsen die Goldstücke, die Kronen und die halben Kronen zu einem Haufen, und Marner wurde immer sparsamer in seinen Bedürfnissen, indem er sich möglichst billig bei Kräften zu halten suchte, um sechszehn Stunden des Tages zu arbeiten. Haben nicht Gefangene ein Interesse daran gefunden, die Zeitabschnitte mit graden Strichen von


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