Nesthäkchens Jüngste. Else Ury
Nase‹ – –« begann sie aus dem »Freischütz« zu trällern.
»Du weißt nicht, was für Klippen, was für Intrigen im Theaterleben einem das Leben vergällen können, Ursel. Du kannst ein viel zufriedenerer, glücklicherer Mensch werden, wenn du deine Zukunft auf solide Arbeit und Pflichterfüllung aufbaust.«
»Ach, das ist ja tranig. Bei den Büchern und Rechnereien halte ich's einfach nicht aus. Paß auf, ich fange mitten bei der Arbeit an zu singen, bis sie mich wegen Ruhestörung aus der Bank rausschmeißen, Muzi.«
»Ursel, sei doch bloß mal einen Augenblick vernünftig. Sieh, ich habe dir doch noch nicht mal sagen können, was ich beim Vater für dich durchgesetzt habe«, begann die Mutter von neuem.
»Na?« Ursel schien nicht mehr viel Hoffnung in die Mission der Mutter zu setzen.
»Er erlaubt, daß du Gesangstunde nehmen darfst – –«
»Wirklich, Muzi? Ach, du bist mein allerliebstes, kleines Muzichen! Ich wußte es ja, daß du mich nicht im Stich lassen würdest.« Das junge Mädchen erdrückte die Mutter vor Seligkeit.
»Ja, Ursel, aber unter der Bedingung, daß du ebenfalls seinem Wunsche Folge gibst und zur Bank gehst. Der Gesangunterricht soll die Belohnung für die Mußestunden sein«, stellte die Mutter vor.
Ursel machte ein Gesicht, als ob sie ihren Kopf mit Ergebung auf den Henkerblock legen sollte. »Also meinetwegen! Aber ihr werdet schon sehen, was ihr euch damit einbrockt. Ehre wird Vater bei dem befreundeten Bankdirektor ganz gewiß nicht mit mir einlegen.«
»Ja, Ursel, wenn du es dir gleich so vornimmst. Man geht an ein neues Amt mit dem festen Willen, sein Bestes zu geben.«
Der Märtyrerblick der jungen Dame verwandelte sich in einen verschmitzten. »Werd' ich auch. In den Gesangstunden ganz gewiß. Und nun wollen wir mal sehen, was stärker ist. Die dämliche Bank oder die Opernbühne. Ach – –« sie breitete die Arme aus – »immerhin die erste Sprosse auf der Leiter der Kunst.«
»Ei, Ursel, die Leiter steht recht wackelig. Ich bedaure bereits, wenn du es so auffaßt, beim Vater ein gutes Wort für dich eingelegt zu haben. Ja, ich weiß nicht einmal, ob ich es überhaupt vertreten kann, dir Gesangstunde geben zu lassen. Meine Pflicht als Mutter ist es, derartigen Hirngespinsten nicht noch Vorschub zu leisten.« Frau Annemaries Gesicht wurde zweifelhaft besorgt.
»Als Mutter sollst du ja gar keine Notiz von meinen Mitteilungen nehmen, Muzi. Die braucht überhaupt nichts davon zu wissen. Aber als meine aller-allerbeste Freundin mußt du dich mit mir freuen, daß ich wenigstens ein paar Stunden in der Woche Gesang studieren darf. Und wenn ich's erreiche – ach Muzi, dann ist ja keiner stolzer auf mich als du!«
»Ich werde immer stolz auf meine Kinder sein, wenn sie als brave Menschen was Tüchtiges leisten. Auf welchem Gebiet ist gleich – –«
»Siehst du, Muzi, da sagst du es ja selbst. Ich will was Tüchtiges leisten – ich will!« Das ganze schmale Persönchen war von Energie durchströmt. Freilich meinte Ursel ein anderes Gebiet als die Mutter. »Und nun, Muzi, wollen wir zur Beruhigung der Gemüter beide einen Spaziergang machen, ja? Die Sonne gibt gerade wieder eine Gastrolle. Und Cäsar, das arme Vieh, kratzt sich die Pfoten draußen an der Tür ab, ohne daß man von ihm Notiz nimmt. Ja, meine geliebte Töle, wir kommen ja schon. Soll ich dir deine Sachen bringen, Muzi?«
»Und meine Ausbesserwäsche, Ursel? Was wird aus der?«
»Die läuft nicht weg. Heute Abend helfe ich dir, wenn – wenn ich nicht bereits im Bett liege.« Lachend lief Ursel davon, die Sachen zu holen.
Cäsar hatte die gute Gelegenheit benutzt, sich durch die offengebliebene Tür in das Biedermeierzimmer, für das er nun mal besondere Vorliebe hatte, durchzuquetschen. Jetzt blinzelte er halb erwartungsvoll, halb mißtrauisch zu seiner Herrin hin. Warum jagte Frau Annemarie ihn denn nicht wie sonst hinaus?
Annemarie nahm keine Notiz von Cäsars Anwesenheit, die sonst ihr Gemüt stets in Erregung zu versetzen pflegte. Sie schaute mit langem Blick ihrer Jüngsten nach. Ja, die Ausbesserwäsche lief nicht davon. Aber die Kinder liefen davon, wenn man sie nicht zu halten wußte. »Ich will dir stets die allerbeste Freundin bleiben, meine Ursel«, gelobte sie sich wortlos. Das Vertrauen, das Ursel zu ihr hatte, durfte sie niemals enttäuschen. Nie!
Bald darauf sah man Mutter und Tochter, goldhaarig wie Schwestern anzusehen, Arm in Arm durch die Villenstraße des Berliner Vorortes wandern. Cäsar, in großen Sätzen auf die Spatzen Jagd machend, voraus.
3. Kapitel
Banklehrling
Nun war der Frühling doch eingekehrt – allen Aprillaunen zum Trotz. Rosenrote Blütenschleier hatte er über Nacht über die Pfirsich- und Mandelbäume gehängt. Die Kirschbäumchen vermochten ihre schneeige Blütenlast kaum zu tragen. Die Kastanien brannten mit unzähligen Blütenkerzen zu Ehren seines Einzuges. In der Fliederhecke flötete die Amsel.
Das Stubenmädchen hatte den Frühstückstisch zum erstenmal wieder auf der Veranda gedeckt.
»Das ist recht, Trude«, lobte die Hausfrau, in den strahlenden Frühlingsmorgen mit ebenso strahlenden Augen schauend. »Rasch den Kakao für Ursel. Damit sie den Zug nicht versäumt.«
»Wäre auch kein Unglück!« klang es aus dem Garten, in dem Ursel unbedingt noch vor dem Frühstück Veilchen, Primeln und Krokus für sämtliche Vasen pflücken mußte, herauf. »Ach, Muzi, ein Verbrechen ist es geradezu, mich an einem solchen Frühlingstag ins Gefängnis zu sperren.«
»Nun, Ursel, solch Gefängnis wie die Bank, in welche du heute eintreten sollst, kann man sich halt gefallen lassen«, ließ sich der Vater aus einem der offenen Fenster heraus vernehmen. »Meinst du, Krankenstubenluft ist angenehmer? An seine Pflicht muß ein Jedes. Und nun eil dich, Kind, sonst erreichst du den Zug nimmer.«
Ursel beeilte sich durchaus nicht. Die hatte sogar noch Zeit, zu überlegen, ob sich die Primeln wohl schöner in der blauen Vase oder in dem roten Rubinglas ausnehmen würden. Sie befestigte noch mit Gemütsruhe ein Sträußchen duftender Blauveilchen an ihrer hellen Waschbluse.
»So, mein Herzchen, ich habe dir deine Brötchen schon zurechtgemacht. Hier ist auch noch ein frischgelegtes Ei für dich. Komm und frühstücke. Wer weiß, wie das Essen dort in der Bankkantine sein wird. Da ist es schon besser, du legst ordentlich vor«, riet die Mutter vorsorglich.
Ursel, die noch eben fest entschlossen gewesen, den Zug, der sie zum erstenmal in ihr neues Amt befördern sollte, zu versäumen, schämte sich bei dem liebevollen Ton der Mutter plötzlich ihres Vorhabens. Sie kam, wenn auch nicht gerade eilig, der Aufforderung nach.
»Ei, Urselchen, wie schaust du in den wonnigen Morgen? Sieh doch nur das Blühen ringsum, hör nur das Jubilieren in Baum und Strauch, und ein Duft ist heute – –« Frau Annemarie genoß nach langem Winter in durstigen Zügen den kosenden Lenzhauch.
Der mißmutige Zug in dem hübschen Gesicht ihrer Jüngsten wollte nicht weichen.
»Um so krasser ist der Gegensatz zu den düsteren Mauern, in denen ich heute lebendig begraben werden soll«, sagte sie mit Pathos.
»Hahaha, Ursel übt bereits die Kerkerszene für die Rolle zum ›Fidelio‹«, neckte Hans die Schwester.
»Dummer Bengel!« Ursel bedauerte längst schon, ihren zukünftigen Opernplan vor dem Bruder geäußert zu haben, da dies eine unversiegbare Quelle für seine Neckereien geworden war.
Hans hatte den Ehrentitel nur mit halbem Ohr gehört. Er hatte wichtigeres zu tun, nämlich die von der Mutter belegten Schulbrote einer eingehenden Kontrolle zu unterziehen. »Kommste mit?« Trotz aller Pomadigkeit besaß er seines Vaters Pünktlichkeit. Während Ursel auch hierin Annemaries echte Tochter war, und mit der Zeit ebensowenig rechnete, wie mit andern Dingen.
Längst stampfte Hans dem Bahnhof zu, als Ursel es endlich doch für angemessen hielt, sich vom Frühstück zu erheben.
»Leb