Sturmhöhe. Emily Bronte
ihr Nähzeug beiseite und erhob sich. Ich aber konnte mich vom Feuer nicht hinwegrühren und war durchaus wach.
»Bleiben Sie sitzen, Mrs. Dean, noch eine halbe Stunde! Ich liebe es sehr, eine Geschichte so ausführlich zu hören, wie Sie sie erzählt haben. Sie müssen sie in der gleichen Art und Weise fortsetzen. Ich bin mehr oder weniger für jede Person interessiert, die darin vorkommt.«
»Die Uhr schlägt elf, Herr.«
»Das macht nichts, ich bin gar nicht gewöhnt, früh schlafen zu gehen. Ein oder zwei Uhr ist das Richtige für jemanden, der bis zehn Uhr im Bett bleibt.«
»Sie sollten nicht so lange liegen. Die schönste Zeit des Morgens geht vorbei! Wer bis zehn Uhr nicht die Hälfte seiner Arbeit getan hat, muß fürchten, daß die andere Hälfte ungetan bleibt.«
»Aber morgen werde ich die Nacht sogar bis zum Nachmittag verlängern, denn ich prophezeie mir mindestens eine heftige Erkältung. Darum setzen Sie sich wieder in Ihren Stuhl, Mrs. Dean.«
»Erlauben Sie mir nur, etwa drei Jahre zu überschlagen. In dieser Zeit war Mrs. Earnshaw –«
»Nein, nein, das erlaube ich nicht. Denken Sie daran, wie eine Katze vor uns ihre Jungen ableckt und wir sehen so gespannt zu, daß wir es unbedingt vermissen würden, wenn sie auch nur ein einziges kleines Ohr vernachlässigte!«
»Ist das nicht pedantisch?«
»Im Gegenteil, es ist unterhaltsam. Ebenso geht es mir mit den Einzelheiten Ihrer Erzählung. Denken Sie daran, wieviel wertvoller eine Spinne im Gefängnis für den Gefangenen ist als die Spinne in einem beliebigen Hause für dessen Bewohner. So erscheinen mir die Menschen in dieser Gegend merkwürdiger als die in den Städten. Aber dies liegt nicht nur an mir, dem Zuschauer: sie leben auch wirklich ernsthafter, innerlicher, tiefer, ohne die Sucht nach Abwechslung und leichtfertigen Äußerlichkeiten. Hier würde ich eine Liebe fürs Leben beinahe für möglich halten; früher hätte ich kaum an Verliebtheiten für die Dauer je eines Jahres geglaubt! Jene Liebe ist mit dem Zustand eines hungrigen Menschen zu vergleichen, der sich vor ein einziges Gericht setzt, seine ganze Eßlust darauf richtet und sie wirklich stillen kann. Die vielen Verliebtheiten aber führen den Menschen an einen üppigen, von französischen Köchen bestellten Tisch, und er wird dem Ganzen vielleicht ebensoviel Genuß abgewinnen wie jener andere, aber jeder einzelne Gang hinterläßt in seiner Empfindung und Erinnerung nur einen atomhaft flüchtigen Eindruck.«
»O nein, wir sind hier ganz die gleichen Menschen wie anderswo, wenn Sie uns erst kennengelernt haben!« entgegnete Mrs. Dean, etwas verlegen über meine Betrachtungen.
»Entschuldigen Sie, meine Beste, Sie selbst sind ein schlagender Beweis. Sie hier haben bestimmt tiefer nachgedacht als die Menschen Ihrer Klasse im allgemeinen anderswo. Sie haben ganz einfach Ihre geistigen Fähigkeiten sorgfältiger gepflegt, da Sie keine Gelegenheit hatten, Ihr Leben in Nichtigkeiten zu verzetteln.«
Mrs. Dean lachte. »Ich halte mich allerdings für eine solide, vernünftige Person. Nicht gerade deshalb, weil ich zwischen diesen Hügeln gelebt und die gleichen Gesichter und Geschehnisse von einem Ende des Jahres zum anderen gesehen habe. Aber ich mußte eine strenge Zucht durchmachen, und dadurch lernt man! Außerdem habe ich mehr gelesen, als Sie vielleicht glauben, Mr. Lockwood. In dieser Bibliothek können Sie kein Buch aufschlagen, in das ich nicht hineingesehen und aus dem ich nicht etwas herausgeholt hätte, abgesehen von den Reihen griechischer, lateinischer und französischer Werke. Auch diese kann ich immerhin voneinander unterscheiden; mehr soll man von der Tochter eines armen Mannes nicht erwarten. – Also wenn ich meine Geschichte so erzählen soll, daß ich auf die Einzelheiten eingehe, will ich nicht drei Jahre, sondern nur den nächsten Sommer übergehen. Es war der Sommer 1778, vor dreiundzwanzig Jahren.
Achtes Kapitel
An einem schönen Junimorgen wurde mein erster kleiner Pflegling, der letzte Earnshaw, geboren, Hindleys hochwillkommener Sohn. Wir waren auf einem abgelegenen Feld mit Heuen beschäftigt, als das Mädchen, das gewöhnlich unser Frühstück brachte, eine Stunde zu früh über die Wiese gelaufen kam. Sie rief nach mir und keuchte:
»Oh, was für ein großes Kind! Der hübscheste Junge, der jemals gelebt hat! Aber der Doktor sagt, die gnädige Frau müsse sterben! Sie habe schon seit Monaten die Schwindsucht, wie er Mr. Hindley erklärte. Jetzt hat sie nichts mehr, was sie noch zurückhält, und vor dem Winter wird sie tot sein. Du sollst sofort nach Haus kommen. Du sollst es pflegen, Nelly, es mit Zucker und Milch ernähren und es Tag und Nacht warten, und ich wünschte, ich wäre du. Denn es wird ganz dir gehören, wenn keine Frau mehr da ist!«
»Leidet sie sehr?« Ich warf den Rechen hin und setzte meine Haube auf.
»Ich glaube ja, obwohl sie gut aussieht. Und sie redet, als würde sie es noch erleben, daß ihr Junge ein Mann wird. Ganz außer sich vor Freude ist sie, über ihr prächtiges Kind. An ihrer Stelle würde ich bestimmt nicht sterben, bei seinem bloßen Anblick ginge es mir besser, dem Doktor Kenneth zum Trotz. Ich war so wütend auf ihn! Frau Archer brachte das Engelchen zum Herrn hinunter, und Mr. Hindleys Gesicht leuchtete auf. Da geht der alte Unglücksrabe auf ihn zu und krächzt: ›Earnshaw, es ist ein Segen, daß Ihre Frau noch am Leben blieb, bis Sie den Jungen bekommen haben. Bei ihrer Ankunft war ich überzeugt, wir würden sie nur noch kurze Zeit behalten, und jetzt muß ich Ihnen in der Tat sagen, im Winter wird es wohl mit ihr zu Ende gehen. Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen; es ist nicht zu ändern. Übrigens hätten Sie sich nicht ein so gebrechliches Mädchen aussuchen sollen.‹«
»Und was antwortete der Herr?«
»Ich glaube, er fluchte. Aber ich achtete nicht auf ihn, weil ich gespannt darauf war, das Kindchen zu sehen.«
Wieder begann sie, es begeistert zu beschreiben. Nicht weniger eifrig lief ich nach Haus, um es meinerseits zu bewundern, obwohl mir Hindley leid tat. Sein Herz hatte nur Raum für zwei Götzen: für seine Frau und für sich. Er war von beiden eingenommen und betete den einen an. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er den Verlust ertragen würde.
Er stand am Eingang von Wuthering Heights. Ich fragte beim Eintreten: »Wie geht es dem Baby?«
»Es kann schon fast laufen, Nell!« Er lächelte strahlend.
»Und die gnädige Frau?« wagte ich weiter zu fragen. »Der Doktor sagt, sie –«
Er wurde rot. »Der verdammte Doktor! Frances ist ganz in Ordnung. Nächste Woche um diese Zeit ist sie wieder gesund. Gehst du hinauf? Dann sage ihr, daß ich zu ihr komme, wenn sie verspricht, kein Wort zu reden. Ich ging hinaus, weil sie den Mund nicht halten wollte. Sie muß – sage ihr, Mr. Kenneth hat angeordnet, daß sie ruhig sein muß.«
Ich überbrachte seine Botschaft Mrs. Earnshaw. Sie schien ganz gut aufgelegt und erwiderte heiter: »Ich habe kaum ein Wort gesprochen, Ellen, und sogleich ist er weinend hinausgegangen, zweimal! Also ich verspreche ihm, nicht zu reden, aber das wird mich nicht hindern, über ihn zu lachen!«
Armes Ding. Noch in der Woche vor ihrem Tode bewahrte sie ihre Fröhlichkeit, und ihr Mann bestand hartnäckig, ja wütend darauf, ihr Befinden bessere sich mit jedem Tag. Als Kenneth ihm mitteilte, seine Arzneien seien in diesem Stadium der Krankheit nutzlos, und man brauche ja für die Behandlung keine völlig unnötigen Ausgaben zu machen, antwortete Hindley:
»Sie sind allerdings unnötig, ich weiß es, denn sie ist gesund und braucht Ihre Behandlung nicht mehr! Sie hat niemals die Schwindsucht gehabt. Es war ein gewöhnliches Fieber, das vorbei ist. Ihr Puls schlägt jetzt so langsam wie meiner, ihre Wangen sind ebenso kühl.«
Das gleiche Märchen erzählte er seiner Frau; sie schien ihm zu glauben. Doch eines Abends, als sie, an seine Schulter gelehnt, gerade sagte, morgen würde sie aufstehen können, bekam sie einen Hustenanfall, einen ganz leichten. Er richtete sie in seinen Armen auf, sie legte noch beide Arme um seinen Nacken – ihr Gesicht veränderte sich, sie war tot.
Wie das Mädchen vorausgesagt hatte, gab man den kleinen Hareton ganz in meine Pflege. Solange Mr. Earnshaw das Kind gesund sah und nicht schreien hörte, war er insoweit zufrieden.