Stieg Larsson lebt!. Didier Desmerveilles
es noch einmal klipp und klar: Mein Anteil an diesem Buch ist der allergeringste und allerunbedeutendste, den man sich in dieser Schriftstellerwelt nur erdenken kann. Mein ganzes Verdienst besteht darin, eines Abends mit einem Kollegen, der später zur Legende werden sollte, in der Kneipe gesessen und mit ihm ein bisschen rumgesponnen zu haben. Und, na gut, mein Gedächtnis arbeitet vielleicht ganz gut und die Geschichte hat Stieg quasi überlebt, und das zufällig in meinem Geist. Aber ansonsten? Stieg allein die Ehre! Und wenn das Buch von David Lagercrantz nicht so unglaublich unlarssonhaft (unlarssonlike, kann man das ins Deutsche so übersetzen?) geworden wäre, hätte ich vielleicht wirklich mit Norstedts Kontakt aufgenommen, wie du schon damals in Bozen rietest, und wir hätten heute so was wie den achten Harry Potter auf dem Markt. Aber man muss sich mit Recht fragen, ob Stieg an diesem ganzen Rummel und nicht zuletzt an den finanziellen Dimensionen, die der Umgang mit seinem Werk angenommen hat, überhaupt seine Freude gehabt hätte. Sicher, jeder lebt gern gut und Stieg hätte ohne Frage viele sinnvolle Ideen gehabt, hätte Amnesty unterstützen oder das Geld in sozialpolitisch bedeutende Projekte stecken können, aber im Kern seines Wesens war er immer ein schlichtes Gemüt ohne Allüren. Und dazu passt diese Independent-Produktion, die du anvisierst, perfekt! Lieber D., lass es mich wissen, wenn du noch irgendetwas brauchst. Ich habe dir mit Fragen zu Details der Geschichte oft nicht weiterhelfen können, aber ich finde, was du daraus gemacht hast, wirklich gelungen. Und ich sage dir ganz offen: Ich liebe die Internatsgeschichte und überhaupt den zweiten Teil und ich sehe nicht, wie Stieg gerade die ersten Kapitel des zweiten Teils besser hätte schreiben können. Und ich liebe Alfred Eisenkrug. Der Mann hat das Zeug zum Kult! Das ist, neben aller Kritik, die ich dir bisher während des Schaffensprozesses zugemutet habe, doch auch mal ein Ansporn, oder? Danke nochmals für das Herzblut, das du bisher schon in das Projekt hast einfließen lassen, ohne zu wissen, ob sich der Aufwand je auszahlen wird. Meine besten Wünsche begleiten dich und wenn du mal nach Schweden kommst... Du weißt ja...
In herzlicher Verbundenheit
Henrik
Prolog
Sie floh. Niemals zuvor hatte sie so etwas empfunden, so eine totale, umfassende, existentielle Angst. Es war die Angst vor dem Nichts, dem Ausgelöschtsein, dem Dunkel der unendlichen Nacht. Aus ihr schöpfte sie die geradezu übermenschliche Kraft, mit der es ihr gelang, sich von ihrem Peiniger loszureißen. Blindlings, richtungslos hastete sie durch das Dickicht. Eine aus ihrer Nachtruhe aufgescheuchte Krähe schwang sich mit einem ärgerlichen Krächzen in die kühle Luft empor. Zwischen den düsteren Wolken ließ sich das blasse Antlitz des Mondes sehen. In der Ferne irgendwo heulte ein Uhu. Sie hatte keine gute Stelle gewählt. Dichtes Gebüsch und die Zweige eng stehender Bäume wehrten sich gegen ihr Eindringen mit fauchenden Peitschenhieben. Fichtennadeln zerkratzten ihr Hände und Gesicht. Schließlich stolperte sie und fiel. Sie fühlte die widerliche Hand des Peinigers ihren Fußknöchel umklammern. Dann stürzte er sich auf sie, und ihr Herz schien stillzustehen. Noch einmal wehrte sie sich verzweifelt, schlug um sich, kratzte, biss. Dabei verhedderte sich ihre Hand in einem Metallband, das ihr Feind um den Hals trug. Als sie sich davon freizumachen versuchte, bekam sie etwas Festes zwischen die Finger. Aus einem Impuls heraus zerrte sie daran. Es gab nach. Sie verschloss es in ihrer Faust, als könnte darin eine letzte Rettung liegen wie von einem magischen Amulett. Dann trafen sie auf einmal überall schmerzhafte Schläge, Schläge wie von einer Keule, so hart, so grausam, eine wüste, wütende Kanonade, die ihren Widerstand zertrümmerte. Eine monströse Klinge blitzte eine Zehntelsekunde lang über ihrem geschundenen Körper im fahlen Mondlicht auf, ein rötliches Schimmern. Blut. Ihr Blut. Nein, nein, schrie sie. Oder dachte sie es nur? Konnte sie noch schreien? Jetzt erst begann ein grausam stechender Schmerz in Bauch und Brust zu wüten. So viel Schmerz ist Tod. Das spürte sie und spürte den Tod in ihre Glieder kriechen, den kalten, finsteren, den unwillkommenen Gast. War das das Ende? Ach nein, bitte nicht! Sie liebte das Leben so sehr. Sollte sie wirklich den Tag nicht wiedersehen? Sollte in einer solchen Nacht alles enden? Ach, lieber Gott, falls du dort irgendwo bist, bitte, bitte, bitte nicht!
1 Der Fund
Auf einer Länge von exakt 98,7 Kilometern durchschneidet an ihrem südlichen Ende der Nord-Ostseekanal die Halbinsel Jütland und auf ihr das nördlichste deutsche Bundesland. Von der Kieler Bucht schlängelt sich die künstliche Wasserstraße, die eine der meistbefahrenen der Welt ist, an Rendsburg vorbei südwestwärts durch die norddeutsche Landschaft, gesäumt von Feld, Wald und Wiesen, wird dabei von zwei Autobahnen sowie der einzigartigen Rendsburger Schwebebahn überbrückt und an ihrem Endpunkt bei Brunsbüttel schließlich, die Türme eines maroden Atomkraftwerks im Rücken, eins mit der Elbe. Wie an der Hand einer großen Schwester strömt sie nach dieser Vereinigung hinaus in die unendliche Weite der rauen, nicht selten stürmischen Nordsee.
Natürlich haben sich die Schleswig-Holsteiner in ihrer schlichten Art nach hundert Jahren längst an dieses künstliche Gewässer in ihrem Binnenland gewöhnt. Keiner lebt mehr, der noch wüsste, wie es ohne den Kanal einmal war. Aber irgendwie ein komisches Ding, das der Ordnung der Natur gemäß hier nicht hingehört, ist es doch. Das spürt jeder, besonders dort, wo Wald an den Kanal grenzt. Hier kann es nämlich einem Wanderer, der sich im Wald verlaufen hat, durchaus passieren, dass in der Lichtung, der er sich hoffnungsvoll zu nähern meint, aus herbstlichen Nebelschwaden, wie von Geisterhand bewegt, ganz unvermittelt gespenstische Ozeanriesen vor seinen Augen auftauchen, und er wird Mühe haben, diesen zu trauen. Wer rechnet schließlich damit, mitten im Wald auf riesige Frachter und Passagierschiffe zu stoßen? Wüsste nicht jeder um die wirtschaftliche Notwendigkeit, der der Kanal seine Entstehung verdankt, er hielte diesen Giganten mitten im schleswig-holsteinischen Binnenland beim ersten Anblick für eine verrückte Laune der Natur.
Gerade der Kontrast zwischen typischer Binnenlandvegetation und der wie aus dem Nichts dahergekommenen wunderbar weiten Welt der Meere, die der Kanal verbindet, macht jedoch seinen eigentümlichen Reiz aus, und deswegen liebte es Tim, sich in seiner Nähe in Begleitung von Cano, einer Hirtenhund-Straßenhund-und-noch-was-anderes-Mischung, so ausgedehnten Spaziergängen hinzugeben. Aus dem Dickicht des Waldes, aus einem Knick oder dem Gebüsch am Rand einer Wiese hervorzutreten und urplötzlich vor leise plätschernden Wassermassen zu stehen, das hatte etwas Unvergleichliches. Manchmal, wenn der Übermut ihn stachelte, kam es auch vor, dass er sich auf einem einsamen Feldweg, der kilometerlang parallel zum Kanal verlief, Wettrennen mit langsam vor sich hin tuckernden Frachtern lieferte, ehe er, zermürbt vom lächerlich geringen, aber stur und unbeirrbar gleichmäßigen Tempo des Schiffes, schließlich aufgeben musste. Zu Fuß hatte nur Cano, schnell wie der Wind und nur durch einen entschlossenen Pfiff seines Herrn zu bremsen, eine Chance mitzuhalten. Mit dem Fahrrad hatten dagegen Herr und Hund, beide, schon so manches Schiff, das sich schwerfällig durch die neun bis elf Meter tiefe und mehr als doppelt so breite Fahrrinne seinen Weg bahnte, hinter sich gelassen – zumindest bis zu dem Punkt, wo sie, von einer Wegbiegung oder der trivialen Kategorie Zeit in eine andere Richtung genötigt, es doch ziehen lassen mussten und ihm auf seinem unaufhaltsamen Weg hinaus in die wunderbar weite Welt der Meere nur nachwinken konnten, gefangen in den Zwängen und Schranken ihrer kleinen Festlandwelt, vielleicht etwas Fernweh im Herzen.
Cano war sein treuer Begleiter auf allen Wegen. Ihm allein galt seine ganze Liebe und Zuwendung. Manchmal schlief der Hund sogar am Fußende seines Bettes und wärmte Tim die Füße. Langeweile blieb Cano erspart. Sein Herr war in der dankbaren Lage, immer genug Zeit für ihn erübrigen zu können. Er konnte sich in der Regel seinen Tag nach Belieben einteilen. Sein wöchentliches Arbeitspensum bei einem Hamburger Verlag für Bildbände, der nicht auf Anwesenheit im Büro bestand, sofern die Arbeit auch anderswo erledigt werden konnte, schaffte er spielend. Und andere Verpflichtungen gab es nicht. Eigentlich war Tims Leben mit dem alten Bauernhof seines Großvaters als Basis eine ausgesprochene Idylle.
Als Herr und Hund an einem trüben Donnerstagmorgen im Oktober ihrer Gewohnheit gemäß um acht Uhr früh das Haus verließen, konnte Tim nichts ahnen von den schicksalhaften