Stieg Larsson lebt!. Didier Desmerveilles

Stieg Larsson lebt! - Didier Desmerveilles


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– tat Tim, was manch anderer gewiss schon längst getan hätte: Er griff zum Telefonhörer. Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme. »Polizeirevier Kiel-Mitte«, sagte sie. »Was kann ich für Sie tun?« Tim zögerte. Er brachte kein Wort heraus. Irgendetwas schoss ihm durch den Kopf, et­was, das er nicht in Worte zu fassen vermocht hätte. Ein Impuls, dem er nachgab. Er legte auf. Von sich selbst überrascht starrte er auf das reglose Telefon. Und dann war ihm auf einmal klar: Die Geschichte, die sich hinter diesem Knochenfund verbarg, wollte er sich von niemand anderem erzählen las­sen. Tim griff erneut zum Hörer. Diesmal meldete sich die Kieler Universitätsklinik.

      »Ja, guten Abend, mein Name ist Rasmussen. Ich hätte gern mit Frau Dr. Meisenberg gesprochen. – Ja – vielen Dank.« Das Ausharren am Hörer wurde belohnt. Da war sie schließlich, die vertraute Stimme, vertraut aus vergangenen Uni-Tagen. »Ja, Freya? Kleine Überraschung, hier ist Tim, Tim Rasmussen. – Ja, das wird sich vielleicht bald ändern. Ich hab' hier nämlich ein kleines Problem, bei dessen Lö­sung du mir be­stimmt behilflich sein kannst, hoffe ich zu­mindest. – Es geht um ein paar Knochen, die ich heute bei einem Spaziergang im Wald gefunden hab'. Die sind mir nicht ganz geheuer. Meinst du, es wäre möglich, bei euch eine Laboranalyse machen zu lassen, um so Aufschluss über Alter, Herkunft und so zu bekommen? Gibt's so was über­haupt, so'ne Analyse? – Ja, ich weiß, dass sich das jetzt etwas merk­würdig anhört, aber ...«

      Aber Tim bekam sein Rendezvous in der Uniklinik. Am Sonn­abend, in zwei Tagen also, konnte er kommen mit sei­nen merkwürdigen Knochen. Einem alten Freund schlug man eben keine Bitte ab, auch wenn sie, wie in diesem Fall, vielleicht ein we­nig sonderbar war.

      2 Freya

      Es war mitten in der Nacht, und Tim stapfte schon wieder mit Cano durch den Wald, in dem sie den skelettierten Arm gefunden hatten. Da mussten doch noch mehr Teile zu fin­den sein. »Such!«, befahl er seinem Hund. »Such! Such!« Aber Cano stellte sich nur provozierend vor ihm hin und bellte ihn an wie einen Unbekannten oder wie je­manden, der ihm etwas schuldig ist. Irgendetwas nahm er ihm an­scheinend furcht­bar übel. Nur was? Hatte er denn etwas Unrechtes getan? Aber ja: Er hatte Cano noch nicht für die vorenthaltenen Knochen entschädigt. Wütend fletschte Cano die Zähne, immer aggressiver wurde sein Gebell, als wollte er seinen Herrn, den er kaum noch zu respektieren schien, im nächsten Augenblick anfallen. Du meine Güte, dachte Tim, hoffentlich finde ich noch den Kopf, den muss ich ihm schon geben, da­mit er wieder Ruhe gibt. Erschro­cken, unsicher wich er zurück, stolperte über einen am Bo­den liegenden Ast und bemerkte erst beim Aufstehen, als er sich nach dem Grund für seinen Sturz umsah, die wahre Ur­sache für Canos Aufregung. Der Ast, über den er gestolpert zu sein glaubte, war kein Ast, es war ein gewaltiger Kno­chen wie von einem menschlichen Oberschenkel. Jetzt sah er aus dem Dunkel weitere Ske­lett-Teile vor seinen entsetz­ten Augen auftauchen: Ein Bein lag links, rechts noch ein Arm, Rippen weiter hinten, Wirbel­knochen ... Nur der Kopf fehlte. Wo war nur der Kopf? Unter Tims Füßen begann plötzlich die Erde zu beben. Oder bildete er sich das nur ein? Nein, auch die Knochen vibrierten, bewegten sich, fingen an zu tanzen. Pa­nik ergriff Tim. Er wollte nur noch weg. Als er den ersten Schritt tat, stellte er mit Entsetzen fest, dass es nicht die Erde war, die sich bewegt hatte, son­dern der Ober­schenkelknochen des Skeletts, das sich nicht erheben konnte, solange er darauf her­umstand. Die Skelett-Teile waren nämlich alle dabei, sich zu sammeln und in der richtigen Ordnung wieder zusammenzufügen. Tim sah, wie einzelne mit einem schlürfenden Geräusch Fleisch ansetzten, blutiges, rotes Fleisch. Ein ekelerregen­der Anblick. Bei alledem machte das Skelett eine höchst be­mitleidenswerte Figur. Es war eine arme, geschundene Kreatur oder, besser gesagt, Ex-Kreatur. Natürlich war Tim inzwischen längst klar, dass er sich in einem widerlichen Alptraum befinden musste, aber wie daraus entkommen? Nun vernahm er auch noch eine gehauchte weibliche Geis­terstimme, die sagte: »Der Kopf! Gib mir meinen Kopf!« Erst jetzt bemerkte Tim, woher die Stimme kam: Er hielt einen Totenkopf an der Schädel­decke mit zwei Fingern in den Augen­höhlen fest wie eine Bowling­kugel, während der Unterkiefer auf- und niederklappte und wiederholte: »Der Kopf! Gib mir meinen Kopf!« Von Grauen geschüttelt, schleuderte Tim den Schädel so weit er konnte von sich fort. Doch Cano spurtete sofort hinterher, um ihn sich zu schnappen. »Du steckst tief in der Scheiße«, hörte Tim eine andere Stimme sagen. Dann wandte er sich ab und trat mit dem nächsten Schritt durch die alte, überraschen­derweise nicht verriegelte Dielentür seines Bauernhofs, hinter der ihn Cano bereits mit wedelndem Schwanz erwartete, den Schä­del im Maul. »Pfui! Pfui!«, schrie Tim außer sich vor Ver­zweiflung und erwachte endlich. Er war schweißnass.

      Tim gehörte eigentlich nicht zu den zart Besaiteten, aber die Ereignisse des abgelau­fenen Tages hätten wahrschein­lich auch bei noch härteren Gemütern als dem seinen im seelischen Grenzbereich zwischen Bewusstem und Unter­bewusstem ein Auslass­ventil in Gestalt nächtlicher Spukge­schichten gefunden. Daran, dass ihm dieser Alp­traum einen gewaltigen Schrecken eingejagt hatte, der erst mal verdaut sein wollte, änderte diese Erkenntnis nichts. »Pfui! Pfui!«, sprach Tim noch einmal leise zu sich selbst. Er vergewisserte sich, dass weder links noch rechts von seinem Bett irgend­welche Skelett-Teile herumlagen, noch Cano, der neben seinem Bett zu nächtigen pflegte und ihn nun wegen der zusammenhanglosen Pfuis verstört aus müden Au­gen ansah, einen Kopf im Maul hatte, und machte bis zum Morgengrauen kein Auge mehr zu.

       ◊

      Dr. med. Freya Meisenberg musste nach Meinung ihrer männlichen Kollegen jeden Morgen ein beachtliches Maß an Zeit aufwenden, um ihr langes, mittel­blondes Haar zu je­nem Zopf von besonderer Perfektion zusammenzuflechten, der jeden von ihnen neugierig darauf machte, wie sie mit offenem Haar aussehen mochte. Nie hatte einer die begabte junge Orthopädin anders gesehen als eben mit diesem kunstvollen Ge­flecht im Nacken. Freya selbst hielt ihre Fri­sur vor allem für eine pragmatische Lö­sung. Sie hatte es auch überhaupt nicht nötig mit ihrem Aussehen zu kokettie­ren, seit sie im Anschluss an das »mit Auszeichnung« be­standene zweite Staats­examen und ihre AIP-Zeit eine nicht ganz unbedeutende Funktion in der Orthopädie der Kieler Universitätsklinik ausübte. Mit Knochen kannte sie sich aus.

      Der Anruf des alten Mitstreiters aus Uni-Tagen war nach all den Jahren doch etwas überraschend gekommen. Und die Geschichte, die er ihr am Telefon kurz angedeutet hatte, kam ihr noch merkwürdiger vor. Knochen von einem Wald­spaziergang. Was mochte das sein: ein Hirsch, ein Reh? Da­für war doch wohl eher ein Förster oder Tierarzt zuständig! Wie auch immer, die Aussicht, Tim nach so langen Jahren wie­derzusehen, löste bei ihr eine kaum zu unterdrückende Vorfreude aus. Die hatte Fre­ya zwar Mühe sich einzugestehen, aber es gab sie. Warum hatte sie Tim eigentlich immer so gern gehabt? Weil er nicht übel aussah – natürlich. Und dann war er keiner von diesen unausstehlich arroganten Schürzenjägern mit Titel und Kittel, mit denen sie sich hier ständig herumzuschlagen hatte. Vor allem aber hatte er diese geheimnisv­oll tiefgründigen dunklen Augen. Auf die Augen kommt es an; das war Freyas Überzeugung schon immer gewesen. Niemals hätte sie sich in einen Typen mit diesen mattblauen bis trüb-grauen Augen verlieben können, die auch charakter­lich jeden Tiefgang vermissen ließen – die Augen als Spiegel der Seele. Inzwischen war sie zwar so gut wie verheiratet, aber Tim war ... Tim. Haben konnte man ihn so­wieso nicht. An ihn war unmöglich heranzukommen. Das Vorhaben, den Schiefen Turm von Pisa zurechtzurücken, schien entschieden aussichtsreicher. Tim umgab eine mysteriöse Mauer fast schon priesterlicher Unantastbarkeit, eine Mauer, die selbst die Posaunen von Jericho nicht zum Einsturz hätten bringen können. So jeden­falls war es ihr immer vorgekommen. Man wagte einfach nicht, ihn um eine Verabre­dung oder Derartiges zu bitten. Es kursierten ein paar sehr abschreckende Anekdo­ten über Fälle, in denen jemand versucht hatte, ihn aus der Reserve zu locken. Und die Moral dieser Geschichten lautete immer gleich: Finger weg.

      Natürlich hatte Tims unorthodoxer um nicht zu sagen: ex­zentrischer Umgang mit dem anderen Geschlecht der Fan­tasie einiger (es kann sich nur um die Autorinnen besagter Anekdoten handeln) mächtige Flügel verliehen. »Du musst irgendwann mal ganz übel auf die Schnauze gefallen sein«, hatte Tim sich sagen lassen müssen oder (die verständnis­voll-feinfühlige Variante): »Dir muss jemand mal sehr weh getan ha­ben.« Gemeint war natürlich, dass Tim von seiner großen Liebe brutal enttäuscht worden war und deswegen ein Trauma mit Langzeit­wirkung


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