Serva I. Arik Steen

Serva I - Arik Steen


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Und dann sah Hedda das Messer. Mit einem sauberen Schnitt öffnete die Klinge den Hals ihres Bruders. Es war ein grausamer Anblick, der sich für immer in ihr Gedächtnis brennen würde. Die Augen ihres Bruders, gerade noch wild und kämpferisch, verrieten plötzliche Panik und Todesangst.

      «Nein!», schrie Hedda: «Nein!» Sie strampelte wie wild. Versuchte sich gegen ihren Widersacher zu wehren, aber er hielt sie fest umklammert.

      Die stahlblauen Augen ihres Bruders, gerade noch voller Entsetzen, sie erloschen. Der Körper des jungen Ragni erschlaffte und sackte dann zusammen.

      Nie wieder würde sie ihren Bruder spielen sehen. Nie wieder mit ihm Angeln gehen, nie wieder seine Stimme hören. Sie hatte sich über die vielen Fragen, die er immer wieder über die Welt und die Götter gehabt hatte, aufgeregt. Aber nun, wo er ihr genommen wurde, war ihr bewusst, wie sehr sie ihn geliebt hatte.

      «Komm mit, meine Kleine!», grinste der Mann, der sie fest umklammert hielt. Er zerrte sie mit sich.

      Hedda hatte aufgehört sich zu wehren. Sie weinte nur noch. Bittere Tränen rannen über ihre Wangen und tropften in den Schnee.

      «Bringt mich weg, mir doch egal …», sie resignierte.

      Ihr Angreifer aus dem Volk der Mani brachte sie zu den Hunden, die bellend und jaulend auf das Feuer reagierten: «Du wirst sie uns einspannen, verstanden?»

      Hedda war wie zur Salzsäule erstarrt. Sie war kaum in der Lage sich zu bewegen.

      «Du weißt doch, wie das geht? Oder soll ich jedem einzelnen dieser Hunde die Kehle durchschneiden?», fragte Ludwig und zeigte auf einen weißen Schlittenhund: «Ich fange mit dem an!»

      «Nein, nein!», sagte sie flehend. Sie nahm die Geschirre vom Haken und begann dann alle Hunde einzuspannen. Nach und nach. Sie nahm die aufwendig geknoteten Geschirre aus Leder von der Wand und zog sie den Hunden über Kopf und schließlich über den Körper. Sie waren so konzipiert, dass sich die Last auf den gesamten Hund verteilte und dieser so am Effektivsten arbeiten konnte.

      «Sehr gut!», meinte Ludwig und rief zu einem seiner Männer: «Packt alle Wertsachen und bringt sie hierher. Wir packen alles auf den Schlitten!»

      Die Schlittenhunde wussten, dass es losging. Nervös sprangen sie hoch und runter. Sie zerrten an der zentralen Leine, die sie alle mit dem Schlitten verband. Zwölf Schlittenhunde in einer Reihe hintereinander. Zwei am Schlitten befestigte Geweihe links und rechts dienten im Schnee als Bremsen. Wie eine Kralle waren sie fest im Schnee verankert.

      «Wir haben noch eine hübsche Frau gefunden!», grinste einer der Männer.

      Ludwig winkte ihn zu sich: «So hübsch wie meine hier wird sie kaum sein. Sie habe ich gesucht …»

      «Aber …», der Mann widersprach.

      «Nichts aber!», sagte Ludwig in einem herrischen Ton. Für einen Moment war er abgelenkt. Er mochte es nicht, wenn man ihm widersprach.

      Hedda zitterte. Was hatte dieser Mann mit ihr vor? Was wollte er mit den Schlittenhunden? Schneller Gunnarsheim erreichen? Oder einfach nur eine Transportmöglichkeit für die Beute?

      Es war eine Entscheidung von Sekunden.

      «Steht auf. Los! Steht auf!», schrie Hedda laut. Sie riss an den Bremsen. Nur schwer lösten sich die Geweihe aus dem harten eisigen Untergrund. Alle ihre Kraft brachte sie auf.

      «Was zum …!», der Mani drehte sich zu ihr um. Gut zwei Meter war er von ihr weg.

      «Lauft!», rief sie laut: «Lauft!»

      Mio, der Leithund, zog an. Mit aller Kraft stemmte er sich in die Leine. Alle anderen Hunde taten es ihm gleich. Nach anfänglich schwerem Beginn nahm der Schlitten Fahrt auf und glitt mühelos über den Schnee.

      Hedda hielt sich krampfhaft am hölzernen Griff fest.

      «Verdammt!», schrie Ludwig. Er rannte ihr hinterher, so schnell er konnte. Doch die Schlittenhunde waren zu schnell.

      Hedda drehte sich nicht um. Tränen liefen aus ihren Augen. Sie liefen an ihren Wangen entlang und fingen dann an im eisigen Wind zu gefrieren. Die Natur kannte hier draußen in der eisigen Landschaft kein Erbarmen.

      «Warum Regnator, Gott der Götter?», fragte sich Hedda.

      Meter um Meter entfernte sie sich von der Siedlung. Die Schlittenhunde gingen vom schnellen Galopp in den Trab über. Gut drei Stunden konnten sie so am Stück laufen. Vorne weg Mio, der Leithund. Hinter dem Schlitten folgten zwei weitere Hunde direkt in der Spur. Tis und Row. Die einzigen nicht ziehenden Hunde im Team. Ihre alleinige Aufgabe war die Jagd. Eingespannt wurden sie nie. Sie trotteten stets hinter dem Schlitten her, um Kraft zu sparen.

      Als sie weit genug weg war, schaute sie sich um und sah hinter sich das brennende Dorf. Alles ging in Flammen auf. Das Feuer fraß sich wie ein hässliches, gieriges Monster durch die Häuser, die man so mühsam aufgebaut hatte. So viele Jahre hatte man gebraucht diese Siedlung aufzubauen. Und nun wurde alles zerstört.

      Wohin, Hedda? Sie wusste es nicht. Zur Königsfestung im Süden? Zu einem anderen Dorf? Erst einmal einfach nur weg. Fort von diesem Elend. Fort von Tod und Vernichtung. Warum hatte Regnator das Unglück nicht verhindert? Wo war er in dieser Stunde?

      8

       Xipe Totec,

       Feldlager der Nehataner

      Zuckerbrot und Peitsche. Chantico stand unter Druck, was die Führung der Armee anbelangte. Sein Bruder erlaubte keinen Fehltritt. Er würde auch nicht zögern sein eigenes Fleisch und Blut zu töten, wenn er als General der Truppe versagte. Am nächsten Tag sollte es losgehen. Die ersten Einheiten würden dann losgehen und in Richtung Pravin marschieren. Das waren die Reiter. Die Schwertkämpfer würden dann folgen und zuletzt würden die Bogenschützen ihren Marsch beginnen. Doch die Unsicherheit in der Truppe wuchs. Völlig absurde Horrorvorstellungen kreisten an den Lagerfeuern. Dass die Pravin bereits an der Grenze warten würden. Perfekt ausgerüstet. Mit neuesten Waffen. Aber das war Unsinn. Chantico wusste das und auch die Offiziere wussten das. Wichtig war jedoch, was die Männer glaubten.

      «Männer!», rief einer der Offiziere: «Unser Feldherr hat entschieden, dass am Ende des Feldzuges jeder unserer Soldaten eine Sklavin bekommt!»

      Die Männer jubelten.

      «Natürlich nur diejenigen, die auch wirklich mit uns marschieren und Seite an Seite mit uns kämpfen!», sagte der Offizier weiter. Er zeigte dann auf die vier Gefangenen Deserteure, die gefesselt vor ihm knieten: «Das gilt für die vier Verräter natürlich nicht. Sie erwarten keine hübschen Sklavinnen, sondern den Tod!»

      Keiner der Soldaten applaudierte. Die Meisten schwiegen. Einige schrien «Tod den Verrätern» oder «hängt sie auf». Die Nehataner waren kein zart besaitetes Volk und Hinrichtungen waren nicht gerade unbeliebt. Dennoch waren diese vier Männer aus den eigenen Reihen. Zahlreiche Soldaten teilten die Skepsis gegenüber dem Krieg.

      «Bringt die Pferde!», meinte der Offizier und gab dann zwei Soldaten den Befehl den ersten Delinquenten herzubringen.

      Es war ein eher schmächtigerer Nehataner aus dem Süden des Landes. Ein ehemaliger Händler aus der Stadt Oxom Oco, der sich in der Krise der letzten beiden Jahre der Armee angeschlossen hatte. Man brachte ihn in die Mitte des Platzes, wo ein Andreaskreuz auf dem Boden befestigt war. Grob drückten ihn vier Männer zu Boden und legten ihn dann auf den Rücken. Sie entfernten seinen Lendenschurz und fesselten dann den Oberkörper auf dem Andreaskreuz fest. Vier Pferde warteten ungeduldig. Die vier Henker, die selbst im Grunde einfache Soldaten waren, fesselten mit Riemen die Hand und Fußgelenke und befestigten sie jeweils an einem der Pferde. Es war eine der grausamsten Hinrichtungen, die es in diesem Land gab.

      Der Delinquent betete. Besser gesagt er flehte zu Göttervater Regnator und zu Bellumus, dem Gott aller Krieger. Den Tod vor Augen wimmerte er leise Gebete.

      «Vollstrecken!», befahl nun der Offizier. Chantico stand regungslos daneben. Er wollte es nicht selbst sein, der den Befehl


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