Seelenfresserin. Ana Marna

Seelenfresserin - Ana Marna


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du, dass die Spinnen noch hier sind?“, flüsterte Lisa in die Dunkelheit hinein.

      „Sie sind weg.“

      „Also waren sie wirklich da?“

      „Ja.“

      „Werden sie wiederkommen?“

      „Fürchtest du dich vor ihnen?“

      „Ja.“ Lisas Antwort war leise, kaum mehr ein Hauch.

      „Dann nicht.“

      Lisa lag mit offenen Augen in ihrem Bett und überlegte, ob sie jetzt erleichtert oder besorgt sein sollte. Woher wusste dieses seltsame Mädchen, dass die Spinnen nicht wiederkehrten? Doch sie glaubte ihr. In Selinas Stimme hatte so viel Überzeugung gelegen, dass sie ihr einfach glauben musste.

      Dienstag, 15. Juni 1999

       Stylianos-Stift, Stuttgart

      Selina beobachtete aus den Augenwinkeln ihre Tischnachbarn. Vierundzwanzig Kinder, so wie vier Erwachsene hockten an zwei langen Tischen und hielten die Hände zum Tischgebet gefaltet.

      Selinas Gedanken waren nicht bei der Sache. Gebete hatten ihr noch nie gefallen. Sie erinnerte sich an die Versuche ihrer Mutter, sie abends zu einem Gutenacht-Gebet zu bringen, doch irgendwann hatte sie aufgegeben. Ihre Tochter verweigerte sich, indem sie einfach die Lippen zusammenpresste und die Hände offen auf die Bettdecke legte.

      Hier im Heim würde sie das natürlich nicht tun. Nicht auffallen war wichtig, das hatte sie in den letzten zwei Jahren gelernt. Also faltete sie die Hände und hielt still. Ihr entgingen nie die anderen Augenpaare, die desinteressiert über den Tisch blickten. Gebete waren nicht nur ihr ein Gräuel. Doch sie vermied es, Blickkontakte herzustellen.

      Es gab nur eine Person, der sie erlaubte in ihre Nähe zu kommen, und das war Lisa, ihre Zimmergenossin. Alle anderen waren unwichtig. Ein Jahr hatte es gedauert, bis die anderen Kinder dies begriffen hatten.

      Selina Serra war keine Freundin. Sie war auch keine Feindin, solange man sie in Ruhe ließ. Sie verpfiff niemanden und hetzte niemanden auf. Sie ergriff keine Partei und hielt sich aus allem heraus. Manchmal schien es, als sei sie nicht existent. Nur wenn es um Lisa ging, stand sie da. Wachsam und präsent. Selbst Janina hatte gelernt, sich ihr gegenüber zurückzuhalten.

      Die Erwachsenen waren noch einfacher zu händeln. Selina widersprach nicht. Sie redete überhaupt sehr wenig und wenn, dann nur leise und unaufgeregt. Nichts schien sie aus der Ruhe zu bringen und sie hielt sich immer am Rand der Wahrnehmung.

      Die einzige Unruhe, die durch sie entstand, war vor etwa einem Jahr passiert. Ein Ehepaar wollte ein Mädchen adoptieren, und Selina war in die nähere Auswahl gekommen.

      Stumm und mit gesenktem Kopf hatte sie vor dem großen Gesprächstisch im Büro der Heimleiterin gestanden. Das Ehepaar Danzig hatte ebenfalls dort gesessen und sie freundlich angelächelt. Sie erzählten ihr von ihrem großen Haus, dem schönen Garten, und dass sie viele Reisen unternahmen.

      Selina lauschte schweigend und betrachtete die fahrigen Hände der Frau. Sie waren langgliedrig und gepflegt, doch sie wirkten unruhig. Beinahe hektisch.

      Plötzlich schrie die Frau erschrocken auf und ihre Hände zuckten panisch zurück. Eine große Spinne lief quer über den Tisch, schnell und lautlos. Die Heimleiterin sprang erschrocken auf und der Mann griff nach einer Zeitschrift, die in der Mitte des Tisches lag.

      Selina beobachtete Frau Danzig, wie sie mit ängstlichem und angewidertem Gesicht zurückwich. Als die Zeitschrift auf den Tisch knallte, hatte die Spinne bereits den Kurs gewechselt und fiel auf Selinas Seite über die Tischkante. Die Heimleiterin kam herumgelaufen und sah suchend auf den Boden. Doch das Tier war nicht mehr zu sehen.

      „Wo ist sie hin?“

      „Weg“, kam die ruhige Antwort von Selina, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte.

      Ruhe kehrte wieder ein. Nach einigem hin und her kam dann die Frage von Frau Danzig, auf die Selina ungeduldig gewartet hatte.

      „Und Selina? Könntest du dir vorstellen, es mit uns zu versuchen?“

      „Nein!“

      Die Antwort kam ruhig und entschieden. Das Ehepaar Danzig starrte sie perplex an.

      „Aber, - warum denn nicht“, fragte Frau Danzig fassungslos. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet.

      Selinas schwarze Augen trafen die ihren.

      „Ich mag Sie nicht.“

      Die Frau schnappte nach Luft. Heimleiterin Löw sah sie ärgerlich an.

      „Selina! Das war nicht sehr höflich!“

      Das Mädchen blickte nun sie an.

      „Aber es ist die Wahrheit.“

      Mathilde Löw stieß einen lauten Seufzer aus.

      „Mag sein, aber man kann so etwas auch netter sagen.“

      Selina schwieg und wartete darauf, dass sie endlich hinausgeschickt wurde.

      Als sie irgendwann im Korridor stand, schritt sie zügig nach draußen in den kleinen Innenhof. Dort sah sie sich wachsam um und bückte sich. Aus dem Hosenbein kletterte die Spinne und erklomm ihre ausgestreckte Hand.

      Selina hob sie dicht an den Mund.

      „Danke, Wahrheitsfinderin“, flüsterte sie dem Tier zu und setzte es hinter einer Mülltonne auf den Boden.

      Seit dieser Episode war sie nicht mehr gefragt worden und das war ihr nur recht. Heimleiterin Löw hatte ihr eine Standpauke in Sachen Anstand gehalten, der sie natürlich aufmerksam zuhörte. Höflichkeit und Unehrlichkeit lagen gemeinsam in einer Grauzone, hatte sie den Worten entnommen, und beschlossen, dass sie diese Grauzone nicht mochte.

      Besser, sie kam ohne sie aus.

      Nun, ein Jahr später, hatte sich ihre Meinung diesbezüglich immer noch nicht geändert. Sie fand es schwierig, Höflichkeit von Unehrlichkeit zu unterscheiden, und blieb lieber bei der Wahrheit. Da diese aber häufig zu Ärger bei den Erwachsenen führte, versuchte sie, alle Situationen zu vermeiden, die Höflichkeit erforderten. Meistens gelang es ihr.

      Doch das Tischgebet war ein unangenehmer Kompromiss. Es widerstrebte Selina, so zu tun, als wäre ihr das Gebet wichtig. Doch dieses Ritual war in den Hausregeln fest vorgeschrieben. Es anzuzweifeln, würde langwierige Diskussionen und möglicherweise auch Bestrafung nach sich führen – und viel zu viel Aufmerksamkeit auf sie lenken.

      Nach dem Mittagessen zogen sich alle auf ihre Zimmer zurück.

      Hausaufgabenzeit.

      Selina liebte die Phase der Ruhe und Konzentration. Dies war die einzige Zeit im Haus, in der es wirklich still war. Danach kamen Hausarbeit und Gartenarbeit an die Reihe, und die Lautstärke schwoll üblicherweise deutlich an.

      Selina beschwerte sich nicht. Die Aufgaben waren nicht schwer und altersgemäß verteilt. Meistens musste sie in der Küche helfen und ab und zu den Hof fegen oder ein Beet von Unkraut befreien. Die Arbeit an der frischen Luft gefiel ihr am besten, doch da sie nicht die Einzige war, kam sie nicht allzu häufig dran.

      Heute musste sie den Hof fegen und das steigerte ihre Laune etwas. Doch als sie danach wieder ihr Zimmer betrat, fand sie Lisa zusammengerollt auf ihrem Bett liegen.

      Das war ungewöhnlich.

      Sie hockte sich auf ihr eigenes Bett und sah zu ihrer Zimmergenossin.

      „Bist du krank?“

      Nur ein kaum wahrnehmbares Beben erschütterte den schmalen Körper. Selina sah genauer hin. Lisa weinte.

      Langsam stand sie auf und trat zu ihr hin. Sie legte eine Hand auf Lisas Arm.

      „Was ist los?“

      Lisa


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