Seelenfresserin. Ana Marna
konnten. Sie würde Biologin werden. Diese durften mit Spinnen arbeiten und das war, was sie wollte. Also benötigte sie ein Abitur. Zwar hatte man sie auf die Realschule geschickt, doch dies war kein echtes Hindernis. Mit Fleiß und Konzentration würde sie es schaffen, davon war sie überzeugt.
Die Tür wurde ungewohnt heftig aufgestoßen, und Lisa stürmte herein. Sie war inzwischen nicht mehr ganz so klein und schüchtern. Tatsächlich überragte sie Selina um einige Zentimeter.
„Selina“, rief sie atemlos. „Stell dir vor, hier ist auf einmal richtig was los.“
Selina sah unwillig hoch.
„Was?“, fragte sie kurz angebunden.
„Da sind so seltsame Frauen. Sie kamen auf einmal zur Tür rein und haben sich Frau Löw gegriffen. Erika hat ein paar Worte aufgeschnappt. Die suchen offensichtlich ein Mädchen zur Ausbildung und wollen jetzt alle von uns interviewen, ob eine von uns zu ihnen passt.“
Selina schüttelte unwillig den Kopf.
„Ich will keine Ausbildung. Ich werde Biologin.“
Lisa lächelte.
„Ich weiß, das sagst du schon seit ein paar Tagen. Aber ist doch egal. Vielleicht ist die Ausbildung ja spannend.“
Der Lautsprecher im Gang klang auf.
„Alle Kinder versammeln sich bitte sofort im Aufenthaltsraum. Es gibt keine Entschuldigung für ein Fernbleiben.“
Die Stimme von Heimleiterin Löw klang ungewohnt steif, doch das fiel offenbar nur Selina auf. Lisa klatschte freudig in die Hände.
„Es geht los“, strahlte sie. Selina betrachtete sie mit einem gewissen Mitleid. Sie wusste, wie sehr sich Lisa wünschte, dieses Haus zu verlassen.
„Ich wünsch dir Glück“, sagte sie leise.
Lisa lächelte dankbar zurück.
„Danke, Selina. Du bist meine allerbeste Freundin. Ich weiß, dass du das wirklich ehrlich meinst.“
Selina stand nur unwillig von ihren Aufgaben auf. Doch die Anordnung war leider unmissverständlich. Also folgte sie Lisa in den Aufenthaltsraum, wo sich bereits die meisten Kinder versammelt hatten. Aufgeregtes Getuschel klang durch den Raum.
Selina hielt wie immer den Kopf gesenkt und beobachtete ihre Umgebung aus den Augenwinkeln. Zwei fremde Frauen standen an den beiden Zugangstüren und betrachteten jedes Mädchen genau.
Selina schrumpfte innerlich. Diese Blicke gefielen ihr gar nicht. In ihr wurde es still. Wie schon so oft leerte sie ihr Inneres und suchte nach dem Gefühl des nicht Vorhandenseins.
Tatsächlich glitt der Blick der Frauen über sie hinweg und Selina trat unauffällig zur Seite in eine Nische. Hier war sie den direkten Blicken entzogen und konnte selbst beobachten.
Je länger sie die Frauen betrachtete, desto unheimlicher wirkten sie auf Selina. Sie hatten einen seltsam suchenden Blick. Keines der anderen Kinder schien dies zu bemerken, doch auch sie wichen den fremden Augen unbewusst aus.
Das erste Mädchen wurde aufgerufen. Unbehaglich registrierte Selina, dass es Janina war. Sie konnte nur hoffen, dass dieses Mädchen nichts preisgab, was sie in Schwierigkeiten bringen würde.
*
Amalie Ahrendt, Vollstreckerin der siebten Stufe, wartete gespannt auf das erste Mädchen. Sie warf einen Blick auf die Heimleiterin. Diese saß mit abwesendem Gesichtsausdruck auf einem Stuhl. Hinter ihr hatte sich eine Sucherin aufgebaut und hielt ihren Verstand unter Kontrolle. Die Heimleiterin würde sich später an nichts Reales mehr erinnern können, nur daran, dass man ihre Mädchen wegen einer Ausbildung befragt hatte.
Janina trat neugierig herein. Etwas verwundert sah sie zur Heimleiterin, die nicht bei der Sache zu sein schien. Das kam selten vor, so dass es sofort auffiel, doch schnell konzentrierte sie sich auf die großgewachsene Frau, die sich vor dem Tisch aufgebaut hatte, und sie mit einem intensiven Blick musterte.
„Hallo, Janina. Wie geht es dir?“
„Gut“, murmelte Janina.
„Hat es dir im Insektarium gefallen?“
„Nein, nicht besonders.“
„Warum?“
„Ich mag keine Insekten und so’n Zeug.“
Amalie Ahrendt seufzte innerlich. Ihre Sinne und ihre Magie verrieten ihr zuverlässig, dass dieses Kind nicht log. Janina war eindeutig nicht die Gesuchte. Doch möglicherweise konnte sie Hinweise geben.
Sie trat vor und legte eine Hand auf Janinas Stirn. Das Mädchen erwiderte mit weit geöffneten Augen ihren Blick und wirkte mit einem Mal so abwesend wie die Heimleiterin.
„Janina, was ist das Schlimmste, was dir hier passiert ist?“
Das Mädchen zögerte. Ein sicheres Zeichen, dass es nicht nur ein Ereignis gab.
„Seine Zunge und seine Hände. Und sein Ding. Es tat weh“, flüsterte Janina schließlich.
Das war nicht das, was Amalie erwartet hatte, doch es löste in ihr sofort kochenden Zorn aus.
Diese Worte konnte sie sehr wohl einordnen.
„Wer hat dir das angetan?“
„Arno“, kam die leise Antwort.
„Wo ist Arno jetzt?“
„Er ist tot.“
Diesmal lächelte das Mädchen abwesend. Amalie holte tief Luft und sah zur Heimleiterin.
„Wer war Arno?“
„Ein Erzieher.“
Mathilde Löw antwortete ohne jegliches Zeichen einer Gemütserregung.
„Wie ist er gestorben?“
„Der Arzt sagte, an einem Herzinfarkt.“
„Wusstest du von der Kinderschändung?“
„Nein.“
Die Vollstreckerin blickte wieder auf das Kind.
„Was war dein zweitschlimmstes Erlebnis?“
Dieses Mal zögerte sie nicht.
„Spinnen.“
Diesmal zuckten alle Hexen im Raum zusammen.
„Erzähl mir davon“, forderte Amalie, und Janina berichtete mit gleichmütiger Stimme von ihren nächtlichen Träumen vor ein paar Jahren.
„Weißt du, wer in diesem Haus Spinnen mag?“
„Nein, niemand. Niemand mag Spinnen.“
Amalie überlegte. Anscheinend war dieses Kind ahnungslos. Immer noch brodelte in ihr der Zorn über die Kinderschändung. Doch das musste warten. Sie hatte das drängende Gefühl sich beeilen zu müssen.
*
Als Janina den Saal wieder betrat, beobachtete Selina sie sehr genau. Ihre alte Feindin wirkte verwirrt und orientierungslos. Doch sie traute sich nicht aus ihrer Nische heraus, um Janina zu befragen. Die Augen der suchenden Frauen waren immer noch unentwegt im Einsatz. Aber sie musste wissen, was im Büro der Heimleiterin passierte!
Wie in Zeitlupe schob sie sich weiter in die Ecke, wo die Durchreiche zur Küche war. Die Klappe war zum Glück nur halbgeschlossen. Dadurch war die Öffnung zwar äußerst schmal, doch Selina kannte ihren Körper. Hochschieben war zu laut, also musste sie sich schlank machen.
Lautlos zog sie sich hoch und glitt durch den Spalt in die Küche. Dort sah sie sich wachsam um. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass draußen weitere Frauen standen. Also konnte sie das Gebäude nicht unbemerkt verlassen. Doch sie brauchte ein Versteck. Eines, das nicht so schnell gefunden werden konnte. Fünf Jahre in diesem Haus hatten ihr jeden Schlupfwinkel offenbart, und keiner