Faro. Ole R. Börgdahl

Faro - Ole R. Börgdahl


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bis die Gleisanlagen endlich das nahe Bahnhofsgelände ankündigten. Es war schon nach neun, als die Wagons mit einem letzten Ruck zum Stehen kamen. Der Bahnsteig belebte sich sofort, es war wieder ein Heer von Uniformen. Michael nahm seinen Seesack aus dem Gepäcknetz und ließ sich aus dem Wagon schieben. Zunächst erfrischte ihn die kalte Luft, dann wurde es schnell unangenehm. Die Feuchtigkeit drang in seine Kleidung. Er sah sich nach seinem Vater um, noch war die Menge überschaubar. Dann entdeckte er ihn, ganz hinten an einem Wartehäuschen. Der Vater kam ihm entgegen, eine kurze Umarmung im Gedränge, dann schulterte er Michaels Seesack.

      »Ich habe Bentins Opel, wir müssen aber noch ein Stück laufen.«

      Sie verließen den Bahnsteig über eine der breiten Treppen. Die Menge löste sich langsam auf. Die Uniformen vermischten sich mit Zivilkleidung. Mütter und Väter, Ehefrauen und Freundinnen, Kinder, die jetzt die Wehrmachtsurlauber begleiteten. Der Vater hatte in einer Seitenstraße geparkt. Bentins Opel stand im Dunkeln einer Häuserwand. Sie blieben vor dem Wagen stehen und der Vater drückte den Sohn nochmals an sich.

      »Bist du gesund?«

      »Natürlich Papa, sonst hätte ich es euch doch geschrieben.«

      »Deine Mutter macht sich immer Sorgen, immer, und dabei weiß doch niemand, wie lange der Krieg noch dauert.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Dann steig erst mal ein. Nimm dir eine Decke, es liegen welche auf der Rückbank.«

      Als sie im Wagen saßen, öffnete der Vater das Handschuhfach und deutete auf das Päckchen darin.

      »Deine Mutter hat dir ein paar Brote geschmiert. Du hast doch Hunger?«

      Michael nahm das Päckchen, befühlte den Inhalt.

      »Mettwurst«, sagte der Vater, »und da muss auch noch eine Flasche Bier sein.«

      Michael fand das Bier, löste den Bügelverschluss und nahm einen großen Schluck. Der Vater sah ihm dabei zu. Dann erst startete er den Motor. Sie verließen die kleinen Straßen des St.-Georgs-Viertels, folgten der Uferpromenade der Außenalster und befanden sich nach kurzer Zeit auf der Landstraße Richtung Marienfelde. Michael hatte die Brote ausgepackt und bekam mit den ersten Bissen noch größeren Appetit. Seine letzte Mahlzeit bestand aus einer Bockwurst, die er vor Stunden in einem Bahnsteigimbiss gekauft hatte.

      »Mutter hat sich so gefreut, ich meine, dass du nun doch an Weihnachten zu Hause bist.«

      Michael nickte. »Zufall, Glück, aber eigentlich ein Unglücksfall, eine Havarie im Hafen.«

      »In Lorient?«

      »Ja, vor zwei Tagen. Wir sind zur Probefahrt rausgefahren. Wir haben es aber nicht weit geschafft, uns ist ein Minenräumer in die Quere gekommen, hätte schlimm ausgehen können.«

      »Warst du auch auf deinem Boot?«

      »Natürlich, Papa, alle Kameraden waren an Bord.« Michael überlegte. »Wir waren auf dem Weg nach draußen, dann kam dieser Minenräumer. Der ist falsch gefahren, so ein Idiot. Wir sind mit dem Bug hineingerauscht. Es hat uns ganz schön von den Beinen geholt. Ein paar Kameraden haben sich verletzt, aber am Schlimmsten hat es das Boot erwischt. Nachdem die Werft sich den Schaden angesehen hat, musste der Kaleun die Ausfahrt absagen. Die Werft braucht bestimmt zwei Wochen, um das Schanzkleid zu erneuern. Zum Glück hat es die Rohre nicht zerlegt, dann müssten sie den ganzen Druckkörper auf Schäden untersuchen und das dauert.«

      »Und wenn es diese Havarie nicht gegeben hätte, dann wärst du jetzt schon wieder auf See.«

      Michael schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Bier, bevor er antwortete. »Wir sollten morgen auslaufen, wenn der neue I WO bis dahin aufgetaucht wäre.« Michael zögerte. »Ich bin ja eigentlich froh, dass Oberleutnant Rath weg ist, aber man weiß ja nicht, wer dann kommt.«

      »Was ist denn mit diesem Oberleutnant?«

      »Nichts, eigentlich nichts, ich mochte ihn nur nicht. Es passt irgendwie, dass der jetzt beim B.d.U. in Paris ist. Ich habe auch gehört, dass der Admiral seine Hand im Spiel hatte. Es wird ja immer viel geredet, aber bei dem I WO kann ich es mir gut vorstellen, der hat sich auch vor dem Kaleun immer so benommen, als wenn er über ihm stehen würde. Das macht man doch nur, wenn man die Herren ganz oben kennt. Der Kaleun hat immer so getan, als wenn er es nicht merkt.«

      Der Vater hatte schweigend zugehört. Sie hatten die Vorstädte schon hinter sich gelassen. Es wurde ländlicher. Einzelne Gehöfte tauchten auf und verschwanden wieder. Bis Papendorf waren es jetzt nur noch zehn Kilometer, als auf dem Feld rechts von der Landstraße plötzlich ein Gitterzaun aufschoss. Michael sah hinaus und konnte hinter dem ersten, hohen Zaun einen Zweiten erkennen, der von Wachtürmen flankiert war. Noch weiter hinten auf dem schwachbeleuchteten Gelände zeichneten sich Baracken ab. Michael versuchte mehr von der Anlage zu sehen, konnte aber in der Dunkelheit nicht erkennen, ob die Wachtürme besetzt waren oder ob hinter den Zäunen Männer patrouillierten.

      »Das haben sie Anfang des Jahres gebaut«, erklärte der Vater. »Die ersten Gefangenen sind dann kurz vor Ostern gekommen.«

      »Gefangene?« Michael sah seinen Vater an.

      »Ja, Kriegsgefangene. Es sollen Franzosen und Engländer sein. In den anderen Lagern im Osten brauchten sie Platz wegen der vielen Russen. Das hat zumindest Bentin behauptet. Bentins haben das Holz für die Baracken geliefert.«

      Michael sah wieder in die Nacht hinaus. Der Zaun endete so schnell, wie er aufgetaucht war. Alles verschwand in der Dunkelheit. Er sah sich noch einmal um, konnte aber nichts weiter erkennen.

      *

      Er hatte geträumt, aber er konnte sich nicht mehr an den Traum erinnern. Er strengte sich an, einige Bilder zogen vorbei. Er hatte die Augen geöffnet und starrte gegen die Dachschräge über seinem Bett. Es war kurz vor acht. Die Mutter hatte schon eine Kanne Wasser gebracht und auf dem Waschtisch abgestellt. Eigentlich hasste er den Heiligen Abend, weil diesem fröhlichen Tag immer ein Tag der Trauer folgte. Es war schon so, seit Michael denken konnte. Er war nicht das einzige Kind seiner Eltern. Er hatte einen jüngeren Bruder. Gerhard war im Säuglingsalter gestorben, am Tag nach Heiligabend. Es war jetzt neunzehn Jahre her, doch der erste Weihnachtstag gehörte für Michaels Eltern nach wie vor der Trauer um diesen Sohn. Michael sah auf ein Astloch in der Holzvertäfelung. Der Punkt begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Er dachte an seine Kindheit, an den Geruch von Leder und Fett, der immer über der Werkstatt seines Vaters lag und er dachte an die feinen Herrschaften, die sich die teuren Reitsättel anfertigen ließen. Es waren oft Leute aus Berlin oder Dresden. Michael erinnerte sich an einen dicken Bayern, einem Stadtrat aus München, der sich Sattel und Zaumzeug persönlich abholte. Der Mann hatte bei ihnen in der Stube gesessen, wurde mit Weizenkorn und Gebäck bedient. Der Vater hatte eigentlich immer gut zu tun. In den letzten Jahren flickte er zunehmend auch Autositze, polsterte Sitzbänke und verwendete nur die teuersten Leder. Michael war mit den Gerüchen aus der Werkstatt aufgewachsen, aber das Handwerk hatte er nie lieben gelernt. Er mochte die Stanzmaschine und den Biegeautomaten, mit dem die Beschläge in Form gebracht wurden. Er mochte die Mechanik, die Getriebe und die Hebel und Schalter. Der Vater hatte ihm seinen Willen gelassen, ihn auf die Werft gegeben. Michael dachte an die Zeit auf der Werft. Er fragte sich plötzlich, was nach dem Krieg werden würde? Diese Gedanken waren nicht gut, der Krieg war noch nicht vorüber. Michael schluckte, er richtete sich auf, sah sich im Zimmer um. Auf dem Nachttisch lagen die beiden Bücher, die er von seiner Großmutter geschenkt bekommen hatte. Er nahm einen Band, schlug eine Seite auf und las ein paar Zeilen. Dann klappte er das Buch wieder zu, betrachtete sich den Buchdeckel. Die Großmutter hatte den Roman selbst schon gelesen, beide Romane. Die Geschichte einer Gutsherrenfamilie in Ostpreußen. Er würde die Bände mit nach Lorient nehmen. Er war für Lesestoff immer dankbar.

      *

      Zwei Tage nach Weihnachten. Michael hatte sich in den kleinen Schuppen zurückgezogen. Er saß auf einem Hocker. Vor ihm stand sein altes Motorrad, eine BMW R32, Baujahr 1923. Der längs eingebaute Boxermotor mit den quer stehenden Zylindern hob sich mattsilbern von dem schwarzlackierten Rahmen ab. Das Emblem auf dem langgezogenen, dreieckigen Tank leuchtete blauweiß. Wenigstens war die Maschine geputzt,


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