Zeit der Könige. Julia Fromme
den Sattel auflegen.“ Konrad schaute voller Erwartung eines Lobes zu Falk auf. Falk dankte ihm mit einem kurzen Nicken und nahm den Sattel vom Haken an der Wand der Box. Dabei ließ er Nicolas nicht aus den Augen.
„Wieso machst du das, Konrad? Du stehst in Diensten meiner Familie, nicht in seiner!“ rief Nicolas heftig. Ein höhnisches Auflachen Falks ließ ihn seinen Ausbruch sofort bereuen.
„Welche Familie, armer Nicolas? Deine Familie hat heute früh aufgehört zu existieren. Schon vergessen?“
Blind vor Wut stürzte sich Nicolas auf den Älteren. Dieser hatte den Angriff vorausgesehen und bevor Nicolas ihn erreichte, versetzte er ihm schon einen Schlag, der ihn in die Box zurücktaumeln ließ.
Doch Nicolas wollte nicht klein beigeben. „Falk von Schellenberg, wer gibt dir das Recht dazu, so zu reden? Was weißt du schon von meiner Familie oder davon, was passiert ist?“
„Genug, um zu wissen, dass du den Dreck unter meinen Stiefeln nicht wert bist“ entgegnete Falk kalt und wandte sich ab, um sein Pferd zu satteln.
Die anderen Zöglinge, die nach Falk in den Stall gekommen waren, lauschten mit betretenem Schweigen dem Wortwechsel zwischen Falk und Nicolas. Doch keiner wagte es, ein Wort für Nicolas einzulegen. Selbst die älteren verspürten keine Lust, sich mit dem Schellenberger anzulegen. Trotz seiner vierzehn Jahre war er bereits sehr kräftig und hatte schon manchem von ihnen eine blutige Nase geschlagen. Auch gehörte seine Familie zu den mächtigen Reichsministerialen, die Kaiser Barbarossa zur Erweiterung seines Reiches im Osten eingesetzt hatte. Sie besaßen gewaltige Ländereien am Fuße des Dunkelwaldes nahe der reichsfreien Stadt Chemnitz. Falk wusste, dass er sich alles erlauben konnte, solange nur sein Lehrer Tassilo von Hohnberg nicht in der Nähe war. Falk zog den Sattelgurt fest und führte das Pferd aus dem Stall, ohne die anderen auch nur eines Blickes zu würdigen.
Die jungen Rekruten machten jetzt ihre Pferde bereit, um auf der nahen Wiese mit ihren Waffen zu trainieren. Einer nach dem anderen verließ den Stall, ohne ein Wort an Nicolas zu richten. Höchstens heimliche verstohlene Blicke warfen sie ihm zu, manche gepaart mit einem boshaften Lächeln, aber auch Blicke des Mitleides und der Entrüstung. Nicolas entging keiner dieser Blicke, und er prägte sie sich sehr genau ein. Schon jetzt wusste er wohl unter Freund und Feind zu unterschieden.
Da spürte er den vagen Druck einer Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich langsam um. Hinter ihm stand Thilo von Jessen, ein Knabe, kaum älter als er, erst seit wenigen Wochen unter der Aufsicht Tassilos. Bis vor kurzem hatten sie noch gemeinsam an der Tafel des Markgrafen gedient, dann war Thilo zum Knappen berufen worden. Jetzt stand Thilo hinter ihm und blickte ihn entschuldigend an. „Vergiss, was er gesagt hat, Nico. Du weißt, wie arrogant er ist. Er glaubt, etwas Besseres zu sein, weil sein Vater in der Gunst Albrechts ganz oben steht. Aber, glaube mir, die Jungen sind nicht alle so. Sie haben nur Angst vor ihm.“
„Und du, hast du auch Angst vor ihm? Wirst du mich auch verachten, wie die anderen?“
„Ja, ich habe auch Angst vor ihm. Und, nein, ich verachte dich nicht, Nico. Genauso wenig, wie dich Konrad oder Ragin meiden werden. Aber Angst, ja Angst habe ich schon. Wer hätte das nicht, die ihn so gut kennen, wie wir? Die wissen, wozu er fähig ist? Wenn du einen Blick in die Hölle tun willst, dann schaue in seine Augen. Doch eines Tages wird sich unsere Furcht in Vorsicht wandeln. Und diesen Tag werden wir gemeinsam erleben, Nico. Aber bis dahin brauchen wir noch viel Kraft. Du solltest sie nicht in sinnlosen Versuchen, gegen den Schellenberger aufzutrumpfen, vergeuden. Spare sie auf. Der Tag der Abrechnung wird kommen.“ Thilo wollte sich zum Gehen umwenden. Doch Nicolas hielt ihn zurück. „Wenn du meinst, in die Hölle zu blicken, wenn du in seine Augen schaust, dann, glaube mir, siehst nur den Vorhof zu ihr. Die Hölle wird das sein, was ich denen bereite, die mir das hier angetan haben. Vater- und letztendlich auch mutterlos, ein Ausgestoßener aus dieser Welt, habe ich eh nicht viel zu verlieren.“ Nicolas nahm Konrads kleine Hand und zog ihn hinter sich her in die kalte Herbstluft hinaus. Drinnen im Stall näherte sich ein völlig verstörter Ragin von Riesenburg dem erschrocken dreinblickenden Thilo. Der hob nur abwehrend die Hand und hinderte mit einer Geste den anderen daran, etwas zu sagen. Ragin machte das Zeichen des Kreuzes in Richtung der Tür, durch die Nicolas hinausgegangen war. Er war etwas älter als die anderen Jungen, und es erschütterte ihn, einen Zwölfjährigen solcherlei Reden führen zu hören. Er würde bald seinen Ritterschlag erhalten und dann endgültig in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden. Aber dieser Knabe hier, hatte nach den traumatischen Ereignissen des Morgens nichts Kindliches mehr an sich. Er war bereits älter, als sie alle zusammen.
Tassilo von Hohnberg war gerade auf dem Weg in den Hof, als er den beiden Knaben begegnete. Nicolas hatte nach wie vor Konrads kleinere Hand in der seinen, so als wolle er diesen nie mehr gehen lassen, als würde er sich mit aller Macht an diesem einen, noch völlig unvoreingenommenen und arglosen Freund festhalten. Die Jungen machten eine etwas schüchterne Verbeugung vor Tassilo, zollten sie ihm doch großen Respekt.
„Ah Nicolas, ich nehme an, ihr geht in die Halle, um am Tisch zu bedienen, wenn der Gesandte des Kaisers kommt. Gut.“ Er zögerte einen Moment. Dann legte er Nicolas eine Hand auf die Schulter. „Du weißt, dass es mir leid tut, Nico“ begann er. „Doch es ist nun mal geschehen. Und dein Leben geht weiter, so ist der Lauf der Welt. In einigen Tagen wirst du anfangen, über deine Trauer hinwegzukommen. Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist. Es wird der Tag sein, an dem ich dich unter meine Fittiche nehme.“ Damit wollte er weitergehen, da er nicht so recht wusste, wie er einem Halbwüchsigen Trost zusprechen sollte, wo Worte kaum helfen konnten. Doch dann blieb er verblüfft stehen, als Nicolas antwortete. „So sei es. Und Ihr könnt gewiss sein, der Tag wird bald kommen. Auch wenn meine Trauer jetzt groß ist und sicher nie ganz vergehen wird, das beste Mittel dagegen wird sein, sich darauf vorzubereiten, die Tore der Hölle zu öffnen. Und wehe denen, die sich dann davor aufhalten.“ Nicolas nahm abermals Konrads Hand in die seine und ging in Richtung Saal. Tassilo von Hohnsberg verspürte einen Stich in der Brust. Sicher war es der grenzenlose Schmerz, der den Jungen solche Worte in den Mund legte. Aber er befürchtete auch, dass der Knabe für Gott verloren war, wenn nicht irgendwann ein großes Wunder geschehen würde. Doch bis dahin wollte er alles tun, um ihn zu beschützen.
An der Tür zum Rittersaal fragte Konrad: „Was wird denn aus mir, wenn du jetzt keine Familie mehr hast? Mein Vater ist doch ein Lehnsmann der Lichtenwalder. Aber dein Vater lebt nicht mehr, und du...“ Tränen erstickten seine Stimme.
„Hör mir gut zu.“ Nicolas packte den armen Konrad an den Oberarmen, dass dieser vor Schmerz zusammenzuckte. Er lockerte daraufhin seinen Griff etwas. „Ich werde dich niemals verlassen, Konni, wenn auch du mir versprichst, mir immer treu zur Seite zu stehen. Doch eines merke dir. Du sollst mir nicht dienen, wie ein Knecht seinem Herrn, oder so wie wir dem Markgrafen. Du sollst mein Freund sein. Und wenn du mir einen Gefallen erweist, dann soll dieser von Herzen kommen und weil du es so willst. Verstehst du das, Konni?“ Konrad zögerte einen Moment, als müsste er das Gehörte erst verarbeiten. Dann breitete er, einem Impuls folgend, seine dünnen Arme aus und warf sie dem Älteren um den Hals. „Ich werde immer dein Freund sein, Nico. Immer!“
Auf der anderen Seite des Hofes stand Falk von Schellenberg bei seinem Pferd. Die Knappen hatten sich bereits versammelt, um hinter Tassilo von Hohnsberg aus der Burg zu reiten. Falk warf einen schnellen Blick zu den beiden Jungen hinüber, bevor er sich auf sein Pferd schwang und den anderen nachdenklich folgte.
Die Monate am fürstlichen Hof vergingen. Ein Tag glich förmlich dem anderen, ausgefüllt mit den Pflichten an der Tafel des Markgrafen und dem Dienst bei dem jeweiligen Ritter, dem die Pagen später als Knappen zugeteilt werden sollten.
Nicolas lebte in der Familie des Herrn von Auenstein, die eines der Häuser in der Burggasse, welche den erzbischöflichen Teil der Burg und den des Markgrafen miteinander verband, bewohnte. Die Gemahlin Wolfram von Auensteins, Trudis, hatte Nicolas mit offenen Armen empfangen. Sie war eine sehr gutherzige Frau. Außer zwei Töchtern, von denen Maria, die ältere, einen Ritter Dietrichs geheiratet hatte und mit diesem auf der Burg Weißenfels lebte, hatte sie noch einen Knaben, der dem Kleinkindalter gerade entwachsen war. Die jüngere ihrer Töchter, Gerlind, war in das Kloster Heilig Kreuz elbabwärts zur Ausbildung gegeben worden.