Die Atlanten von Wheed. Gabriele Steininger

Die Atlanten von Wheed - Gabriele Steininger


Скачать книгу
jetzt geht brav ins Bett."

      Die Kinder umarmten die alte Frau und wünschten ihr nacheinander eine Gute Nacht. Sie legten sich in ihre Betten, schliefen und träumten von Magiern, Zauberern und manche von der Stachelkopfschlange. Alle bis auf zwei, die noch lange bis spät in die Nacht hinein miteinander darüber flüsterten, bis auch sie erschöpft in ihre Träume sanken.

      "Ha! Ich habe den siebten Atlanten!", stieß Marc aufgeregt hervor und wedelte mit einem Fetzten dünner Rinde des Panguabaumes wild in der Luft herum. Das stark mit Linien gezeichnete Stück, sah mit etwas Fantasie wirklich wie eine Karte aus. Wenn man wollte, hätte man Seen und Flüsse, Berge, Wälder und Täler darauf entdecken können. Sein Haar leuchtete im Licht der beiden Sonnen genauso rot, wie die Blätter des Blausaftbaumes, unter dem er breit grinsend stand.

      "Und? Was steht auf der Karte?", wollte Aura wissen. Die zierliche Gestalt des Mädchens erhob sich vor einem mit Silbermoos überwachsenen, mannsgroßen Steinbrocken, wie es sie oft an den weniger bewachsenen Rändern der sonst dichten Baumwälder gab.

      "Das kann man doch erst bei Blaumond lesen. Weißt du doch." erinnerte er seine Schwester tadelnd.

      "Ach komm schon. Ich will die Karte wenigstens einmal sehen." drängte Aura und hielt ihm ihre kleine Hand fordernd entgegen.

      "Die kannst du ja doch nicht lesen. Schließlich muss man ein Magier sein um sie entziffern zu können." wehrte Marc ab und streckte Aura die Zunge fürchterlich weit heraus.

      "Na und?", protestierte das Mädchen.

      "Du bist ein Määäädchen!", schalt Marc.

      "Und du bist kein Magier!", schrie Aura ihren Bruder wütend an, verschränkte die Arme vor der Brust, drehte ihm den Rücken zu und bohrte mit der Spitze ihres rechten Schuhes kleine Löcher in den weichen Boden. Das machte sie immer, wenn sie sauer oder wütend auf ihren Bruder war, weshalb der rechte Schuh meistens als erstes kaputt ging. Sie hatte es satt ein Mädchen zu sein. Nie konnte sie den Magier spielen. Marc kam näher und legte seiner Schwester den Arm um die Schulter.

      "Sei doch nicht immer gleich so." Es tat ihm furchtbar leid was er gesagt hatte, denn er liebte seine kleine Schwester über alles. Er wollte sie nicht verletzen und es tat ihm weh sie gekränkt zu haben. Aura schüttelte seine Hand ab. Sie wollte wütend auf ihn sein und das ginge nicht wenn er sie umarmte. Trotzig starrte sie auf das frisch gebohrte Loch im Boden. Marc versuchte noch einmal ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Er wusste, sie konnte ihm nicht lange böse sein. Das konnte sie nie.

      "Wir tun doch nur so. Kann ich da nicht auch einmal ein Kartenwächter sein?", fragte sie bittend und blickte ihren Bruder versöhnlich, immer noch mit verschränkten Armen an.

      "Na gut. Wenn wir zwei alleine spielen kannst du auch Magier sein." lenkte er schließlich ein.

      "Und wenn wir mit den anderen spielen darf ich wieder nicht mit. Das ist gemein!" In Aura kochte die Wut eines kleinen Mädchens, das nicht bekommen sollte was es wollte. Trotz und Zorn aber auch Traurigkeit darüber, von den Jungs immer ausgeschlossen zu werden, trieben ihr Tränen in die Augen.

      "Ich verspreche es dir. Ich nehme dich das nächste Mal mit." wollte er sie trösten.

      "Und wenn die anderen Jungs wieder meckern?"

      Marc schoss eine Idee durch den Kopf "Dann bist du eben mein Nachfolger. Jeder Magier muss doch einen Nachfolger haben. So hat es Antga erzählt. Und die anderen werden sich um dich reißen. Die haben nämlich keinen."

      Marc zog grinsend eine Augenbraue hoch und drückte seiner Schwester die Rindenkarte in die Hand. "Hier, nimm. Dann können wir die Geheimnisse entdecken."

      Freudig strahlte sie ihren Bruder an. Er war gar nicht so dumm, für einen Jungen. Überhaupt ließ er sich viel einfallen, um seiner Schwester ihre Wünsche zu erfüllen.

      Sie hatte sich einmal ein Bild gewünscht. Natürlich bekam sie es nicht, denn es war sehr teuer. Da kam Marc auf die Idee ein noch viel Schöneres selber zu malen. Mit dem Saft von Beeren und Gräsern, die sie auf Steinen zerquetschten, malten sie ein Bild auf einen Bogen Papier. Marc hatte ihn mit der Überredungskunst eines kleinen Jungen dem Wissenswächter abgeschwatzt. Wünschte sie sich etwas Süßes, trieb er Zuckerwachs auf, welches an den Ringatbäumen dick herunter floss, sobald man die Rinde einschnitt. Je höher man stieg, umso süßer war das Harz des Baumes. Oft kletterte er für sie bis in die weit verzweigten Kronen, wo es am besten schmeckte.

      Aura durfte nicht immer mitspielen. Dann gesellte sie sich zu einem Jungen, der ebenfalls nicht so gerne bei den anderen gesehen war. Es sei denn, die "Magier" brauchten wieder einmal einen Nachfolger in ihrem kindlichen Spiel. Es war nicht so, dass sie ihn oder Aura nicht leiden konnten. Die beiden waren einfach jünger als die anderen und die Plätze der sieben Kartenwächter immer heiß umkämpft. Sein Name war Tibor. Nur zwei Monde älter als Aura selbst, waren sie beide Kinder einer Blaumondnacht. Tibor war der Sohn der Schwägerin ihrer Cousine und ein sehr in sich gekehrter Junge. Manchmal saßen sie stundenlang schweigend am Bach und sahen dem Wasser zu, wie es über die Steine plätscherte, oder streiften durch die hohen Graswälder rings um Ingwas Stadt. Sie brauchten nicht viele Worte und obwohl Aura ein sehr aufgewecktes, quirliges Mädchen war, genoss sie die Ruhe die Tibor auszustrahlen schien. Den Mann, dessen Augen aus dem Hintergrund immer wieder auf ihnen ruhten, bekamen sie kein einziges Mal zu Gesicht. Nur manchmal spürten sie seine Blicke, konnten aber nicht ausmachen worauf sich dieses Gefühl begründete.

      Aura und Marc hatten eine schöne Kindheit, so wie alle Kinder auf Wheed. Sie spielten und lachten, liefen durch die hohen Graswälder und legten die stark gemusterte Rindenstücke des Panguabaumes auf selbst gebauten Steintischen zusammen, um die geheimsten Geheimnisse von Wheed zu erfahren. Bis auf kleinere Rangeleien, wer von ihnen denn jetzt Ewon war und wer nicht, vertrugen sich alle untereinander.

      Sie entdeckten die heilenden Quellen von Corsas am Blubberbach hinter der alten Mühle und den Goldbaum von Ingwas, der eigentlich nur ein alter Gelbfruchtbaum auf Meister Burbrums Wiese war. Burbrum, wenn er sie entdeckte, lief mit drohenden Gesten ein paar Schritte hinter den Kindern her. Natürlich konnte er mit den flinken Kinderfüßen nicht mithalten und blieb schon nach einem kurzen Stück schnaufend und um Atem ringend stehen. Die Kochkünste seiner Frau trugen schuld an seiner stattlichen Erscheinung und der Tatsache nicht unter den Schnellsten zu sein.

      Das Edelsteinzepter von Soventum, in Form eines Astes von einem Glitzsteinstrauch, der tief in den Baumwäldern wuchs, erforderte eine gefährliche Expedition mit furchtbaren Gefahren. Bösartige Wesen, meistens Spenstschreckbüsche, und geifernde, wilde Tiere, die natürlich nur von ihnen selbst gesehen werden konnten, mussten getötet werden.

      Mhorra und seine geheimen Höhlen, in denen Weisheit und Erkenntnis warteten, fanden sie in den Steilhügeln die hier und dort aus der Erde ragten.

      Die Wunder von Shiebe und Lorrent wurden erkundet und gefunden. Auch wenn sie nicht wussten was genau sich dahinter verbarg. Manchmal war ein Stein das Wunder, manchmal einer der gelben Frösche, die sich in den Wasserpfützen tummelten und nicht schnell genug waren, um den behänden Kinderfingern zu entwischen.

      Natürlich auch die Platte Thorresum, wo unvorstellbare Schätze und Wunder lagen die niemand auch nur im Ansatz erahnen konnte, weil es die Siebente war. Aber in den Phantasien der Kinderköpfe war es ein Ort, an dem alles möglich war.

      Abends lauschten sie den vielen Geschichten, Sagen und Märchen von Magiern und den Atlanten, von dem Buch Sokrum, von Prophezeiungen über den Wahren, von bösen und guten Mächten, gefährlichen Tieren und Wesen, die in den dunklen Baumwäldern lauern konnten. Diese flossen am nächsten Tag in ihr Spiel ein und vermischten sich zu einer komplett neuen Welt, weit ab von den Wohnburgen, welche in die vielen Felsen eingelassen waren und in denen die Sippen wohnen.

      Doch die Zeit blieb nicht stehen und so wurden aus den Kindern große Kinder und aus diesen Jugendliche. Sie spielten nicht mehr in den hohen Graswäldern und suchten auch nicht mehr an den vereinzelten Bäumen nach Atlanten. Aus den Phantasien und Träumen die sie gelebt hatten, wurden wieder Märchen, Sagen und Geschichten. Die ersten dunklen Schatten erreichten ihr junges, unbeschwertes Leben, als sie erfuhren was


Скачать книгу