Blutherbst. Wolfe Eldritch
wie seiner Majestät. Die regelmäßigen Besuche beim Lebensfest sind unser Zoll, in Respekt gezahlt, und damit geben sie sich zufrieden.
Wir haben also sowohl mit dem König wie mit der Kirche ein stilles Abkommen, das uns ein geradezu unverschämtes Maß an Freiheit gewährt. Der Preis dafür ist diese Fahrt. «
»Ich verstehe, was du meinst«, lächelte Alfr dünn.
»Auch wenn sich diese Wochen wie verschwendete Lebenszeit anfühlen«, fuhr Varg fort, »und das tun sie immer, sind sie doch ein wichtiger Dienst für unser Land und Volk. Der Pomp bei Hof, der Empfang beim König, das Treffen mit den anderen Herzögen und die Gottesdienste sind nur Mummenschanz.
Obgleich dein Vater und ich uns manches Mal gefragt haben, ob sie nicht nur deswegen auf unserer Anwesenheit bestehen, weil sie hoffen, dass uns eines Tages bei der Überfahrt das Meer holt.«
»Na, dann hoffen wir mal, dass die See ihnen diesen Gefallen heuer nicht tut«, sagte Alfr. »Von meinem Wunsch abgesehen, Falkehaven wiederzusehen, werden wir mit der Nahrung eine wertvolle Fracht geladen haben.«
Der Blick beider Männer richtete sich in Bugrichtung zum Meer. Die Flotte, die hinter der Falkenkralle folgte, bestand aus zweiundzwanzig Schiffen, wenn man die Seebär von Bjorn nicht mitrechnete. Das war die größte Handelsflotte, die seit dem Krieg die Reise über das Meer angetreten war.
Varg und Stian hatten beschlossen, das Risiko einzugehen, ein gewisses Aufsehen zu erregen, indem sie gewaltige Mengen an Nahrung einkauften. Schließlich konnte man ebenso gut ein paar schlechte Ernten gehabt oder eine Kornfäule erlitten haben. Die Tatsache, dass sich der Fischbestand der Insel durch die Verderbtheit in Gefahr befand, war eine Möglichkeit, die sich nicht jedem erschloss. Von dem Umstand, dass ein Jarltum seine Wintervorräte aufgebraucht hatte, um ein fremdes Volk durchzufüttern, ganz zu schweigen.
Vor der Küste der Nordmark würde man die beiden Flotten teilen. Der Jarl von Krakebekk legte dann die letzten Seemeilen bis nach Padermünde an Bord der Falkenkralle zurück. Während die Kralle wie jedes Jahr in der großen Hafenstadt einlief, führte die Seebär die andere Hälfte der Flotte nach Südwesten. Diese Schiffe würden am unteren Ende der Südmark damit beginnen, jedes Stück lagerbare Nahrung aufzukaufen. Die Schiffe im Norden würden das gleiche tun, dabei aber an der Küste der Ostmark anfangen. Das entsprach der Strecke, die für gewöhnlich zwei Handelsschiffe abklapperten, die Alfr zweimal im Jahr losschickte. Sie besorgten an verschiedenen Häfen Seile, Segeltuch und Hanf für den geheimen Bau der neuen Kriegsschiffe in der verborgenen Werft an der Westküste von Norselund. Für die Flotte stand nun neben diesen Dingen auch Getreide, Mehl, Fett, Öl, Dörrfleisch und Trockenfisch auf der Ladeliste.
»Das wird an gewissen Stellen einiges an Aufsehen erregen. Genau das, was ich all die Jahre zu verhindern versucht habe«, meinte Alfr. »Allein die Tatsache, dass wir fünfmal so viel Nahrung kaufen wie sonst, von einer größeren Menge an Seilen und Segeltuch ganz zu schweigen.«
»Mag schon sein«, gab Varg zu, »in vollem Umfang werden sie es aber erst merken, wenn wir längst wieder weg sind. Nämlich dann, wenn ihnen klar wird, dass wir im Süden genauso viel gekauft haben wie im Norden, also zwei Flotten am laufen hatten.«
Der Jarl lächelte den jüngeren Mann an. »Bis dahin sind wir fast schon wieder zu Hause. Oder zumindest weit auf See. Niemand wird eine Reise von mehreren Wochen unternehmen, um uns dumme Fragen zu stellen. Und wer weiß schon, was in einem Jahr passiert. Wahrscheinlich wird kein Hahn mehr danach krähen, bis das Packeis nächsten Frühling wieder schmilzt. Und selbst wenn«, er zuckte mit den Schultern, »hatten wir eben eine schlechte Ernte oder ein Herbststurm hat Falkehaven getroffen.«
»Ich wünschte, es wäre wirklich nur eine schlechte Ernte oder ein Sturm gewesen«, murmelte Alfr mit düsterer Miene. Die missgebildeten Fische waren etwas, das ihn in seinen Träumen verfolgte. Dabei spielte die verstörende Andersartigkeit der Tiere selbst kaum eine Rolle. Die Konsequenzen, die dem Verlust der Fischerträge folgen würden, waren es, die ihn zermürbten. Er hatte Tage damit verbracht, Informationen zu sammeln und Berechnungen anzustellen, nachdem die Verderbnis bei einigen Seelachsen festgestellt worden war. Er war zu dem Ergebnis gekommen, dass inzwischen gut siebzig Prozent der Versorgung des Volkes mit Nahrungsmitteln auf Norselund vom Fischfang abhingen.
Sollte diese Quelle tatsächlich versiegen, würde das Land seiner Väter in Tod und Chaos versinken. Die Folgen wären ungleich schwerer, als es die des Einbruchs des Grau in den ersten Jahren der Fall gewesen war. Selbst wenn sie jedes Jahr den gesamten Nahrungsüberschuss vom Festland aufkauften, wäre das Todesurteil für Tausende unterzeichnet. Und letztendlich waren die Meere der Welt im Grunde eins. Lange würde auch ein Fischsterben an den Küsten des Königreiches nicht auf sich warten lassen, wenn es zum Schlimmsten kam. Dort war das Land nach dem Grau noch fruchtbarer als auf der Insel, doch selbst in den Marken brachte der Ackerbau längst nicht mehr genug ein, um das Volk zu ernähren.
Abrupt wandte er sich vom Meer und seinen Grübeleien ab und Varg zu.
»Hattest du eigentlich vor der Abreise noch Gelegenheit, deine Nichte zu sehen?«, wollte der Jarl wissen.
»Nein«, erwiderte Alfr mit Bedauern in der Stimme, »das war alles zu knapp. Die kleine Talida wird noch ein paar Monate warten müssen, bis sie ihren dicken Onkel kennenlernt. Vendela ist mit dem Säugling in Krakebekk geblieben, es wäre auch noch viel zu früh für so eine lange Reise gewesen.
Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich mich erst einmal aufs Neue in Falkehaven eingewöhnen. Dann sehe ich zu, dass ich es bis zum Herbst entweder nach Krakebekk schaffe. Oder, was mir selbstverständlich lieber wäre, Vendela mit dem Kind nach Falkehaven zu Besuch kommt. Ich habe nicht besonders viel Sehnsucht nach einem längeren Aufenthalt bei meinem Schwager. Von Vorteil wäre natürlich, dass ich mir dort unsere Werft anschauen könnte. Es wäre durchaus interessant, die Anlage einmal selbst sehen zu können, für die ich seit so langer Zeit das Material besorge.«
Die letzten Worte hatte er leise gesprochen, so sehr war ihm die Geheimhaltung der Werft in Fleisch und Blut übergegangen. Nur wenige wussten von den neuen Schiffen, welche dort seit Jahren in einer Zusammenarbeit aller Jarle entwickelt wurden.
»Warst du in letzter Zeit einmal dort, oder kannst mir Genaueres darüber sagen, wie es vorangeht?«, wollte Alfr nun wissen. »Ich sehe zwar ein, dass schriftliche Berichte darüber zu riskant sind, aber interessieren würde es mich schon. Es geht um Schiffe, weißt du, und die sind neben dem Essen mein liebstes Steckenpferd.«
Varg zog eine Augenbraue hoch und lächelte. »Das letztere Steckenpferd solltest du im Auge behalten. Langsam siehst du nicht mehr gesund aus.
Aber um deine Frage zu beantworten, sie kommen inzwischen mit dem neuen Modell recht gut voran, soweit ich informiert bin. Nachdem sie zweimal von vorn beginnen mussten, weil die Konstruktionen zu instabil geworden sind, scheinen sie jetzt auf dem richtigen Weg zu sein. Wie lange es noch dauert, bis wir ein paar echte Schiffe haben, wissen die Götter.«
Alfr nickte langsam. »Das ist gut. Langfristig wird das der Sicherung unserer Grenzen sehr zuträglich sein.«
Er streckte sich und strich dann mit den Händen über sein gewaltiges Wams. »Was mein anderes Steckenpferd hier angeht, das brauche ich nicht aktiv im Auge zu behalten. Es ist ja leider unübersehbar.
Wo wir schon dabei sind, ich weiß wohl, dass ich ein Problem habe. Man kann sich ebenso gut zu Tode fressen, wie man sich zu Tode saufen kann. Mir ist bewusst, dass ich langsam aber sicher ein Alter und eine Gewichtsklasse erreiche, in der ich auf dem besten Wege dahin bin.«
»Nun, so schlimm ist es, denke ich, noch nicht«, meinte Varg beschwichtigend. »Aber es ist wichtig, das man solche Dinge nicht verdrängt. Wie du schon sagtest, ist es ein bisschen wie mit dem Saufen. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, glaubt man, dass die Leute merken müssen, wie sie sich zugrunde richten. Aber es ist verdammt leicht, sich selbst zu belügen, bis man völlig im Arsch ist. Die Grenze ist beinahe unsichtbar und man überschreitet sie schleichend. Und wenn man erst einmal in den Abgrund gefallen ist, gestaltet sich der Weg zurück äußerst unerquicklich.«
»Noch