Blutherbst. Wolfe Eldritch
Lendir
Lendir atmete auf, als er zum ersten Mal wieder vereinzelt kleine Pilze und Flechten am Waldboden sah. Auch an den unteren Enden der Baumstämme zeigte sich stellenweise erneut Bewuchs durch Ranken und Moose. Diese Veränderungen waren ein Zeichen dafür, dass sie den auf gespenstische Weise leblosen Teil des Waldes hinter sich gelassen hatten.
Die unnatürliche Leere unter den dunklen Bäumen war einem dünnen Unterholz gewichen. Es bestand aus kleinen Büschen, Farnen, Moosen und Flechten. Auch Beeren und Pilze gab es wieder, was eine zusätzliche Erleichterung war. Ihr mitgebrachter Proviant ging langsam zur Neige und Nahrungsmangel war das Letzte, was sie gebrauchen konnten. Obwohl es so schien, als hätten sie den kranken Wald hinter sich gelassen, verließ Lendir sich nicht mehr auf seinen Orientierungssinn. Zu oft hatte er in den vergangenen Tagen getäuscht, in diesen Waldungen, die nicht mehr die seinen waren. Regelmäßig suchte er Augenkontakt zu Tasheili, um sich zu versichern, dass der von ihm eingeschlagene Weg sie tatsächlich nach Osten führte. Noch zweimal hatte die Hirtin die von ihm gewählte Richtung korrigieren müssen. Seit vorgestern nickte sie jedoch nur und lächelte, wenn sie wieder einmal seinen Blick spürte. Wie es schien, fand er sich im Moment besser zurecht, was daran liegen mochte, dass die Magie des Waldes hier schwächer wurde. Oder auch nur die Verderbtheit derselben nicht mehr so gravierend war. Das half ein wenig gegen das Gefühl der Verlorenheit, dass sich seiner immer hartnäckiger zu bemächtigen versuchte.
Ein sanfter Druck an seinem Arm ließ ihn leicht aufschrecken. Er drehte den Kopf und erwiderte das Lächeln von Uniro, die lautlos neben ihm herschritt. Er bot seiner Gemahlin den Arm, woraufhin sie sich bei ihm unterhakte.
»Wir kommen langsam wieder in gesunden Wald«, sagte sie leise, während sie nebeneinander hergingen. »Ich wünschte, ich wüsste, wie lange wir noch im Schutz der Gehölze verweilen können, bevor wir den Rand erreichen.«
Ihre Stimme war ruhig und fest, doch Lendir hörte und fühlte ihre Besorgnis und die verhaltene Furcht, die darin mitschwang. Wie weit der Wald noch reichen würde, vor allem aber was dahinter kam, war inzwischen auch seine größte Sorge. Er war nicht so vermessen, sich im Bezug auf ihre Verfolger in Sicherheit zu wiegen. Die Jäger, die ihnen nachstellten, waren ebenso unberechenbar wie unermüdlich. Doch bei aller Gefahr, die nach wie vor hinter ihnen lag, war der Weg vor ihnen nicht weniger bedrohlich und ungewiss. Sie befanden sich in einem Teil des Waldes, den seit Jahrhunderten kein Mitglied ihres Volkes mehr betreten hatte. Irgendwo im Osten mochte der Ort liegen, welcher der Legende nach gleichermaßen die Quelle des Dunkelsilberwaldes wie auch des Volkes der Silvalum selbst war. Es war aber ebenso gut möglich, dass nichts als endlose, verlassene Einöde auf sie wartete. Die Zuflucht, auf die sie hofften, konnte sich als ein altes Märchen herausstellen, das sich im Laufe der Jahrhunderte zum Mythos entwickelte hatte.
»Von jetzt an«, sagte er sanft, »weiß niemand mehr, was vor uns liegt. Ich wünschte mir auch weniger lose Enden, weniger Ungewissheit, aber wir können nur weitergehen und auf das reagieren, was wir vorfinden. Zumindest scheint es so, als wenn die anderen uns gehen lassen würden. Tasheili hat unsere Spur trefflich verschleiert und wir haben die Jäger offenbar hinter uns gelassen.« Oder aber sie wissen, was im Osten liegt, fügte er stumm in Gedanken hinzu. Und sie halten es für verschwendete Zeit, uns weiter zu folgen, weil wir ohnehin dem Untergang geweiht sind.
Die junge Frau sah ihm ins Gesicht und lächelte traurig. Offenbar war Lendir nicht der Einzige, der von düsteren Vorahnungen heimgesucht wurde.
»Wollen wir hoffen, dass zumindest die Gefahr hinter uns von uns abgelassen hat«, sagte Uniro schließlich. »Die Dinge, die vor uns liegen, sind in ihrer Ungewissheit schrecklich genug. Sowohl was den Weg angeht, wie die Früchte unserer Leiber. Mögen die Bäume wissen, ob all das hier überhaupt einen Sinn hat.«
Der Waldläufer zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, blieb aber stumm. Er wusste nicht, was er seiner Gefährtin darauf erwidern sollte, zu sehr zerfraßen ihn selbst die Zweifel. Zweifel an sich selbst, aber auch an dem, was er getan hatte. Er war sich nur zu gut darüber im Klaren, dass all dies nichts als eine Verzweiflungstat darstellte. Er und die seinen versuchten vor dem Säuglingssterben davonzulaufen, dass ihr Volk seit Jahren heimsuchte, so einfach war das. Und dabei vielleicht ebenso sinnlos wie naiv. Die Veränderung des Umfeldes mochte helfen, wenn die verderbte Waldmagie der Grund für das Kindersterben war, oder auch nicht. Wenn sie scheiterten, würde nicht einmal das eine Kind aus zehn Geburten leben, aber spielte das dann noch eine Rolle?
»Glaubst du, dass wir das Tal finden werden?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Das Tal dachte er und seufzte leise. Brúndalur, das braune Tal, oder, in der alten Sprache, Brúncluah, was so viel wie altes Leben bedeutete. Die Wiege ihres Volkes und des ersten Saatkornes des hohen Waldes. Es gab auch Legenden der Menschen darüber, in denen es meist das Rabental genannt wurde. Angeblich, weil ständig riesige Raben über dem Wald im Inneren des Tals kreisten, die Augen des großen Hirten. Das war natürlich Unsinn, denn selbst unter den Silvalum gab es seit tausend Jahren niemanden mehr, der auch nur behauptete, diesen Ort gesehen zu haben. Und doch, wenn diese Wiege ihres Volkes existierte, war es nur folgerichtig, in Zeiten höchster Not dort Zuflucht und Heilung zu erhoffen. An dem Ort, an dem alles begonnen hatte. Selbst wenn es dort enden sollte, war die Reise nicht umsonst gewesen. Alles war besser, als langsam in den Klauen der verdorbenen Waldmagie ihrer Heimat dahinzusiechen und mit anzusehen, wie ihre Säuglinge starben.
Dennoch fürchtete Lendir jeden neuen Tag. Er fürchtete, der Wald könne einfach zu Ende sein. Nur ein langgezogener Waldrand, wie im Westen bei Silvershire, und dahinter eine leere Ebene, nichts als endlose Weite aus Gras oder Steppe. Keine Silberbuchen mehr, keine Waldmagieadern, die den Boden durchzogen, nur noch fremdes Land. Niemand wusste, ob ein Silvalum überhaupt in der Lage war, längere Zeit außerhalb der Ströme der Magie des Waldes zu leben. Es war durchaus möglich, das er sie alle in den sicheren Tod führte, noch bevor das ungeborene Leben in den Leibern seiner Gefolgsleute auch nur eine Chance bekam, so gering diese sein mochte.
»Ich weiß es nicht«, gab er nach einem kurzen Moment zu. »Ich hoffe es. Aber ich glaube, dass alles, was vor uns liegt, besser ist als das, was wir hinter uns gelassen haben. Wie auch immer die Zukunft aussehen mag, oder wie lange sie dauert. Hinter uns liegt nur der Tod.«
Sie hielt inne und legte ihm ihre Hände auf die Brust. Ihre Augen suchten seinen Blick, bevor sie sprach. »Ich spüre und teile Deine Zweifel«, sagte sie ernst. »Abends sind wir nicht allein und die anderen machen sich schon genug Sorgen. Aber ich weiß, dass wir vielleicht in unser Verderben laufen.«
Er öffnete den Mund, doch sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Len, du sollst nur wissen, dass ich es nie bereuen werde, dir gefolgt zu sein. Ebenso wenig wie ich es je bereuen werde, deine Gefährtin geworden zu sein. Oder dein Kind zu tragen. Vergiss das nie, falls der Weg noch dunkler wird.«
Er schluckte schwer und spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Unfähig zu sprechen zog er sie fest in die Arme und hielt sie, während er um Fassung rang. Rührseliger Narr schalt er sich, während eine einzelne Träne über seine Wangen lief und sich im Haar seiner Gefährtin verlor. Rührseliger alter Narr. Sie standen für einen viel zu kurzen Moment so da, dann gingen sie weiter, bevor jemand von den anderen sie bemerkte. Ihre Brüder und Schwestern gingen nahezu lautlos um sie herum ihres Weges. Einige stumm, andere flüsternd im gemeinsamen Gespräch versunken. Die Gruppe bewegte sich angesichts der Tatsache, dass sie mehrere hundert Personen zählte, mit gespenstischer Stille.
Lendir hob den Blick zu den Kronen der allgegenwärtigen Bäume. Wenn sich die Beschaffenheit des Bodens während ihrer Reise auch immer wieder geändert hatte, das schützende Blätterdach der Silberbuchen war beständig über ihnen.
Kann der Weg für unser Volk überhaupt noch dunkler werden, fragte er sich. Sie hatten ihre einzigen Verbündeten abgeschlachtet, verloren fast den gesamten Nachwuchs an ein nicht greifbares Grauen und waren nun, nicht zuletzt durch sein eigenes Tun, in sich gespalten. Die Silvalum als Volk mochten den Tiefpunkt ihrer Existenz erreicht haben. Für seine Gefährten auf dieser verzweifelten Reise hingegen lauerten viele unbekannte Abgründe. Die