Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

Die vergessenen Kinder - Herbert Weyand


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wenn die Maschinen schon geraume Zeit zu hören waren, erfolgte der Angriff der Alliierten überraschend und der Großteil des Dorfes schaffte es nicht in den Schutzraum.

      Die Landung der Amerikaner und Engländer in der Normandie war natürlich Gesprächsthema der letzten Tage. Hitler forderte die Menschen der Dörfer auf, ihre Heimat zu verlassen … die englischen Radiosender forderten das Gegenteil. Die Wehrmacht fegte auf der Flucht am Dorf vorbei. Nur wenige Soldaten machten im Dorf halt. Und wenn auch nur, um zu plündern und den Bewohnern Widerstand einzuimpfen.

      Die Kinder lebten seit Tagen in dem einzigen Schutzraum des Dorfes und die Einwohner wechselten sich täglich bei deren Versorgung ab. Weil die Wehrmachtssoldaten flüchteten, war klar, dass die Vorzeichen des Krieges umgekehrt wurden. Die Angst vor den Eroberern wurde genommen, weil, von einem Augenblick auf den anderen, das Gerücht im Raum stand, die Amerikaner würden die Orte verschonen und niemandem etwas tun, der sich ergibt. Weit gefehlt.

      Nach weniger als einer Stunde war der Spuk des Angriffs vorüber. Am nächsten Tag rückten die Alliierten an. Die Tanks der Amerikaner walzten durch die wenigen Straßen des Dorfs. Die Einwohner jubelten den Eroberern zu, die, ungeachtet der Ovationen, die Überlebenden des Luftangriffs wie Vieh zusammengetrieben und am 16. November in das Camp Vught nach Nordbrabant brachten, und internierten. In dem nunmehr leeren Dorf wurden die Häuser von den anrückenden alliierten Soldaten besetzt.

      Niemanden scherten die Einwände von ängstlichen Eltern, deren Kinder im Schutzkeller waren.

      Erst Jahre später fiel einem ehemaligen amerikanischen Soldaten in seinen Memoiren auf, dass in diesem Dorf beim Einzug der Siegermächte keine Kinder lebten. Keiner der internierten Einwohner war damals jünger als zehn Jahre.

      Nach dem Krieg kehrten die Einwohner zurück. Das Gelände über dem Luftschutzkeller war verwüstet und glich einer Mondlandschaft. In vielen Gesprächen kamen die Familien überein, das Massengrab nicht zu öffnen. Die Totenruhe sollte nicht gestört werden. Viele Eltern der verschütteten Kinder hatten den Krieg nicht überlebt. Die Trauerarbeit für andere wollte im Grunde niemand übernehmen. In diesem Krieg gab es so viele Tote, sodass der Mensch, müde und abgestumpft wunde. Sie wendeten sich der Zukunft zu und machten einen Schnitt mit der Vergangenheit. Ein neuer Lebensabschnitt begann und sie machten sich daran, ihre Häuser aufzubauen. Die neu geborenen Kinder wuchsen in dem Wissen heran, dass ihre älteren Geschwister während des Krieges umkamen. Eine ganze Generation und mehr war ausgelöscht.

      Die Stunde null begann, denn die Häuser waren ausgeraubt und alle Wertgegenstände als Kriegsbeute weggeschafft. Selbst die vergrabenen Schätze in ihren sicheren Verstecken der Gärten waren und blieben verschwunden. Das Dorf stand vor dem Nichts und wurde Meister im Entwickeln von Überlebensstrategien. Industrie gab es keine, lediglich Landwirtschaft.

      Mit dem Wiederaufbau der Schule wurde 1949 begonnen. Zwei Jahre später wurden die ersten Kinder eingeschult.

      Das Feuerwehrhaus wurde auf dem Fundament des zerstörten Bunkers aufgebaut, neben dem grauen Haus aus der Vorkriegszeit, 1931 stand im Giebel. Niemand dachte an die Kinder, die dort ihr Grab gefunden hatten. Das damalige Geschehen war ausgelöscht.

      Nach und nach verdrängten die Familien des Dorfes die Gräuel des Krieges. Die Männer fanden Arbeit auf den umliegenden Zechen oder auf der Glasfabrik in Herzogenrath. Das Lebenskarussell drehte ein Zacken weiter.

      1955 rückten Bagger an und bauten auf dem Grundstück gegenüber dem Sportplatz, der zur Schule gehörte, Kies ab. Faktisch die Fortsetzung der aufgefüllten Kiesgrube aus den Anfängen des Jahrhunderts. Niemand machte sich Gedanken um den hohen Bretterzaun, der die Abgrabungsstelle vor Blicken und unbefugtem Eindringen schützte. Es wurde so viel geklaut.

      Langsam sickerte durch, dass das Abgrabungsgelände, ungefähr dreißigtausend Quadratmeter Land, an Fremde verkauft worden war, die nicht im Dorf lebten und das Förderrecht der Firma Bernstein Kies gehörte. Nutznießer war Karl Dreßen, ein älterer Bauer, der 1952 das Dorf mit unbekanntem Ziel verlassen hatte und somit den Einwohnern aus der Ferne ein Schnippchen schlug.

      Als der Bretterzaun 1959 entfernt wurde, sahen die Dorfbewohner auf eine dichte Buchenhecke, die mindestens schon drei Jahre gewachsen war. Es war der Sommer, der mit Hitzerekorden aufwartete und in dem es von Mitte März bis Ende September nicht regnete. Es war auch der Sommer, in dem junge Familien Angst hatten, ein Contergan geschädigtes Kind zu bekommen.

      Die Zufahrt zu dem Grundstück lag dem Dorf abgewandt. Die Straße wurde vor einigen Jahren, extra neu gebaut. Sie führte auf die L42, der Straße zum Militärflugplatz, und kam aus dem Nichts. Der Beginn oder das Ende, je nach Betrachtungsweise, lag am Heiderand.

      Im Winter, als die Hecke licht wurde, sahen Spaziergänger und Bewohner einen Gebäudekomplex, der im Dorf seinesgleichen suchte. Im Verborgenen war das Gebäude gewachsen und es sollte den Bewohnern verborgen bleiben. Denn nie setzte jemand, der im Ort wohnte oder verwandtschaftliche Beziehungen dorthin unterhielt, einen Fuß über die Schwelle der Villa.

      Wenigen fiel die Errichtung des Komplexes auf, weil der Umbau des Feldflugplatzes zu einem Flughafen der Royal Air Force in unmittelbarer Nähe zur gleichen Zeit stattfand. Das militärische Sperrgebiet verlief hart an der Grenze des neuen Anwesens, sodass durchaus der Eindruck entstehen konnte, die ehemalige Kiesgrube gehöre dazu. Die Spekulationen der Dorfbewohner gingen dementsprechend in diese Richtung. Hinzu kam, dass die Zuneigung, der alliierten Engländer den Deutschen gegenüber, sich in Grenzen hielt.

      Als, Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die NATO Air Base entstand, verschwendete niemand mehr Gedanken daran, dass, zwischen Flughafengelände und dem Gebäude, ein Abstand von mehreren Hundert Metern entstand. Der Sicherheitsbereich des militärischen Geländes wurde einfach enger gezogen. Zweihundert Meter jenseits der Verbindung zur Landstraße wurde der Sicherheitszaun für den Bereich der Base errichtet. Neue Arbeitsplätze standen in Aussicht und die Konzentration, um die möglichen Bewohner der Villa, ließ nach. Das Dorf hatte sich an den Klotz gewöhnt.

       *

      28. Mai 2012

      Der Tag, für die Anwohner Hinter den Höfen und dem Küfenweg, begann bescheiden. Nicht nur dort. Der, sich stetig wiederholende laute Schlag begann Punkt sieben Uhr. Viele wurden aus den schönen Träumen gerissen, die sonderbarerweise nur in den frühen Morgenstunden auftraten. Andere kniffen mit letzter Kraft den Schließmuskel des Harnleiters zusammen, um noch einige Minuten im Bett zu retten.

      Mit dem ersten lauten Schlag … vorbei.

      Kinder, deren Minuten, bis sie zum Schulbus oder in den Kindergarten mussten, geplant waren, stürzten ans Fenster oder zur Tür. Dem älteren Herrn, drei Häuser die Straße hinunter, fiel die Kaffeetasse aus der Hand. Er war schwerhörig und dachte, sein Gehör wäre wiedergekommen, weil er das Klopfen an der Türe hörte. Als er sie öffnete, stand niemand dort, doch das Klopfen blieb. Er beschloss, den Arzt aufzusuchen.

      Die Schockwellen der Schläge setzten sich im Boden fort und vibrierten noch einige Hundert Meter weiter. Katzen suchten miauend das Weite. Hunde der Nachbarschaft bellten tobend. Eltern schrien ihre Kinder an, weil die Zeit drängte und Kinder weinten, weil die Eltern schrien.

      Die breite Schaufel des Baggers schlug auf das Dach des Feuerwehrhauses, immer wieder und wieder. Nach einer halben Stunde ein kleiner Erfolg. Ein Riss. Weitere zehn Schläge. Ein erstes Loch brach ins Innere des Gebäudes.

      Die freiwillige Feuerwehr hatte ausgedient und das ehrwürdige Gebäude wurde abgerissen. Heutzutage konnte man bei einem Brand abwarten. Vor fünfzig Jahren war das anders. Vielleicht brannten die Häuser damals besser und schneller oder die Versicherungspolicen waren nicht so lukrativ. Im Dorf wurde gemunkelt, dass die Landesregierung überlege, das generelle Rauchverbot auf die Haushalte auszudehnen, in deren Orten es keine Feuerwehr gab. Auf dem Bolzplatz an der alten Schule sollte eine Raucherecke eingerichtet werden. Auf jeden Fall wurde das Dorf, bei Gefahr, nun von der Nachbargemeinde bedient. Für die Bewohner ein großer Verlust. Das Feuerwehrfest war immer eine gut besuchte, feucht fröhliche


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