Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand
Langsam senkte sich der Arm in die Grube und hielt vor dem Loch. „Scheinbar eine Türe. Sie ist nach innen gefallen. Dahinter ein Hohlraum. Ich kann sonst nichts erkennen. Zu dunkel“, rief er nach oben. „Hol‘ mich hoch.“ Nachdenklich kletterte er heraus. „Die Wand nach innen ist mindestens ein Meter dick“, berichtete er. „Wir sollten noch einige Schaufeln Erde herausholen.“
„Ruf‘ Heiner an. Sonst bekommen wir noch einen Anschiss.“ Heiner Offergeld war der Leiter des Bauhofs.
„Er wird alles in die Wege leiten“, sagte Josef, nachdem er das Gespräch beendet hatte. „Wir sollen das Loch … den Eingang freilegen und wieder absperren. Ja ich weiß“, wehrte er den Einwand seine Kollegen ab. „Um unsere Absperrung eine weitere ziehen. Der Hänger mit den Gittern steht ja noch da.“ Er wies zu den Linden, wo der Anhänger mit der Absperrung für die Bombenentschärfung noch stand.
*
Claudia war noch keine zehn Minuten von ihrem Spaziergang zurück, als das Telefon schrillte. Sie zuckte zusammen. Kurt der Spinner hatte wieder den Ton eines alten Wählscheibentelefons eingestellt. Jedes Mal erschrak sie.
„Hallo Claudia. Maria hier.“
„Ich hab‘ Urlaub. Was ist denn jetzt schon wieder?“, meldete sie sich ungehalten. Maria rief nur an, wenn etwas Dienstliches anlag.
„Was hast du mit dem Staatsschutz zu tun?“, fragte Maria platt.
„Gar nichts. Was soll die Frage?“
„Hier läuft alles durcheinander.“
„Ja und? Wie gesagt, ich hab‘ Urlaub.“
„Fabian hat vorhin angerufen. Er wird sich wohl bei dir melden.“
„Was ist jetzt mit dem Staatsschutz?“
„Ich bin erleichtert, dass du zuhause bist. In deinem Dorf kannst du mit den Typen nicht in Berührung kommen. Hier geht das Gerücht, du habest dich heute Morgen mit der Landesbehörde für Verfassungsschutz angelegt.“
„Ich?“ Claudia war empört. „Heute Morgen hab‘ ich auf Wunsch Denglers eine Evakuierungsmaßnahme begleitet. Warte mal. Da war schon eine komische Situation.“ Sie überlegte. Dieser Wachmann oder was er immer war, Schneider. „Vor ungefähr zwanzig Minuten hab‘ ich mich mit einem Arsch angelegt. Schneider hieß der. So ein riesiger Urzeitmensch. Davon könnt ihr nichts wissen. Und Staatsschutz? Nein, so sah der nicht aus.“
„Ich will dich nur warnen.“
„Danke Maria.“
Claudia lehnte gegen die Arbeitsplatte der Küche und knabberte ein Stück Schokolade. Während sie mit Maria telefonierte, wurde ihr ganz komisch. Sie tippte auf Unterzucker. Ein Grund, irgendeine Süßigkeit zu naschen. Sie konnte sich das leisten. Egal wie viel und was sie aß, sie wog immer um die siebenundfünfzig Kilo. Doch auch die Nascherei vertrieb das Gefühl nicht, das, wie sie wusste, nichts Gutes bedeutete. Was geschah dort draußen hinter den Mauern? Keinen Augenblick bezweifelte sie, dass Schneider vom Verfassungsschutz war. Doch was hatten die Bewohner in der burgähnlichen Anlage damit zu tun?
„Hast du schon gehört?“ Kurt kam aus dem Garten in die Küche. „Am Feuerwehrhaus …“
„Ja. Ich war schon im Einsatz, das weißt du doch.“ Sie unterbrach ihn, wie immer. Wenn er einmal ins Erzählen geriet, hörte er nicht auf. „Die Bombe.“
„Nicht die Bombe.“ Er winkte ab. „Die Baggerschaufel ist in einen unterirdischen Raum gefallen. Vielleicht ein Bunkersystem oder etwas Ähnliches.“
„Ein Bunker.“ Sie sah sinnend zu Kurt. Schön, dass ich den gefunden habe, dachte sie. Er zählte fünfunddreißig Lenze, war etwa 190 Zentimeter groß und hatte breite Schultern und schmale Hüften. Mittelblondes Haar lockte sich, wie in den sechziger Jahren, um die jungenhaften Züge. Kurt war der neugierigste Mensch, den sie kannte. Er steckte seine Nase in alles hinein. Grüne Augen sahen sie gespannt an. „Ich wusste heute Morgen schon, dass irgendeine Sch … auf uns zukommt.“ Sie verschluckt das Sch Wort.
„Was hast du damit zu tun?“
„Ich weiß noch nicht. Doch mein Gefühl trügt mich selten, wie du weißt.“
Und ob, dachte er und erinnerte sich an die haarsträubenden Aktionen der letzten eineinhalb Jahre. „Du hast doch Urlaub. Sollen wir an die See fahren?“ Mit See war die Nordsee gemeint, die gerade einmal einhundertachtzig Kilometer entfernt lag.
„Nein. Lieber nicht. Vorhin bei der Evakuierung hatte ich die Begegnung mit der dritten Art. Maria rief mich an. Der Verfassungsschutz hat sich über mich beschwert. Jetzt bin ich natürlich neugierig.“ Sie lächelte grimmig.
„Ach“, er winkte ab. „Das sind zahnlose Tiger. Das weißt du doch. Die sind auf das Husten von Flöhen programmiert.“
„Hast du einen Zoologiekurs absolviert?“
„Du weißt, was ich meine“, er grinste verschmitzt. „Hunde, die bellen, beißen nicht. Im Moment wird das Gelände abgesperrt.“
„Was machen die jetzt eigentlich?“, fragte sie.
„Keine Ahnung. Die schicken jemanden dort hinein oder reißen ganz einfach weiter ab.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich mach‘ uns einen Kaffee.“ Er werkelte an der Senseo Maschine herum. Normalerweise brühten sie Kaffee, aber so im späten Nachmittag konnte es auch einmal schnell gehen.
Kurt war einer der Männer, die alles Selbst machten. Ein Allroundtalent, das schon einmal etwas falsch machte … was dann teurer wurde, als wenn er von vornherein den Handwerker geholt hätte. Auf jeden Fall beherrschte er seine Küche und das war ja schon viel für einen Mann.
„Ich spring‘ schnell unter die Dusche“, schmunzelte Claudia bei ihren Gedanken und zählte. Sie kam bis zwei.
„Da komm‘ ich aber mit. Den Kaffee mach‘ ich später.“ Er ließ bewusst lüstern seinen Blick über ihre Figur gleiten.
„Ich bin zuerst oben“, rief sie und spurtete schon die Treppe zum Bad hoch. Er jagte hinterher und packte sie im Flur. Unten schrillte das Telefon. Claudia zuckte zusammen, ergab sich jedoch Kurts Liebkosungen.
*
Bericht der vergessenen Kinder I (1944) Klaus
Plötzlich hört der Bombenlärm auf. Die Erde bebt nicht mehr. Langsam werden die Kinder unruhig.
„Ich schau‘ mal nach der Tür“, sage ich, einer der beiden Erwachsenen, die mit den Kindern im Schutzkeller sind.
Seit wenigen Tagen dokumentiere ich unsere Eindrücke und Erlebnisse, in der Hoffnung, eines Tages an die Oberfläche zu gelangen. Falls dies nicht gelingt, gebe ich den Geschichtsschreibern zunächst ein Bild von mir, eine kurze Beschreibung meiner Person:
Ich bin untersetzt und trage kurzes krauses Haar. Um meine grauen Augen liegen schon ein paar Falten. Was will ich als Fünfzigjähriger mehr erwarten. Aufgrund einer Beinverletzung bin ich an der Heimatfront. Zu Beginn des Krieges arbeitete ich auf der Zeche Carolus Magnus. Später hatte ich den Arbeitsunfall. Unter Tage, in einem Streb knickte eine Stütze weg und klemmte mein linkes Bein ein. Erst mehrere Stunden später wurde ich befreit. Ärztliche Kunst und mein eigener Wille bewahrten mich zwar davor, das Bein zu verlieren, jedoch war es so gut, wie gebrauchsunfähig. Danach habe ich nicht mehr unter Tage auf der Zeche gearbeitet und wurde Übertage für das Ausbauholz der Flöze zuständig. Eine reine Schreibtischarbeit.
Aus heiterem Himmel machte ich eine Erbschaft, die mir sehr viel Geld bescherte. Ich möchte nicht näher auf Einzelheiten eingehen. Mein neuer Reichtum machte mich unabhängig und gab mir Möglichkeiten, dass ich Nachbarn unterstützend unter die Arme greifen konnte. Die meisten Bewohner unseres Dorfes sind in der Landwirtschaft tätig und abhängig vom Erfolg der jährlichen Ernte. Einige hatte es schon