Sein letzter Cache. Franziska Frey

Sein letzter Cache - Franziska Frey


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      21. November, abends

      Kommissarin Günnur Meier rieb sich die Augen. Sie hatte ja schon einige Tote im Laufe ihrer Kommissarstätigkeit gesehen, aber das war doch ziemlich skurril: Der Tote lag seltsam verrenkt auf dem Rücken mit ausgestreckten Armen und Beinen. Ein Rinnsal geronnenen Blutes floss aus seinem Mund und war trotz der Feuchtigkeit des eingesetzten Regens noch deutlich zu erkennen. An seinen Schuhen waren Steigeisen festgeschnallt. Ein Hammer lag neben seiner linken Schulter, den er anscheinend an einem Seil um den Hals getragen hatte. „Wozu brauchte der Mann in diesem deutschen Mittelgebirgswald Hammer, Bergschuhe und Steigeisen?“ fragte sie laut. Ihr Kollege Felix Beimann von der Spurensicherung zuckte mit den Schultern. „Ich finde den Inhalt des Rucksackes auch seltsam: Da sind neben einem Smartphone und einer Thermoskanne Kaffee noch Wathose und Regenjacke, ein Abfallgreifer, diverse Haken und Schnüre, eine Faltstrickleiter, eine Riesentaschenlampe, eine kleine Taschenlampe, mehrere Aidshandschuhe und ein Helm mit Stirnlampe drin.“

      „Hat der eine Extremexpedition vorgehabt oder was?“, fragte Günnur lakonisch. Es hätte sie nicht weiter gewundert, denn das Team hatte tatsächlich über eine Stunde im Nieselregen vom kleinen Waldweg bis hierher gebraucht. Solche Tatorte liebte sie als Fan eleganten Aussehens besonders. Eine Stunde durch die freie Wildnis, über Stock und Stein bei Wind und Wetter – zum Glück war November und die schlimmste Zeckenalarmzeit vorbei. Sie hatte ihre Grundausrüstung für derartige Außeneinsätze bei der Arbeit im Schrank lagern, sodass sie sich aus ihrem geliebten Bürooutfit schnell umziehen konnte.

      Trotz ihrer wasserfesten halbhohen Wanderschuhe hatte sie aber auch noch nasse Strümpfe bekommen, als sie in ein Loch – bestimmt so ein verlassener Fuchs- oder Kaninchenbau – getreten war und das nasse Laub in ihre Stiefelschäfte gekrochen war. Das trug nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden bei, denn als Frau und türkischstämmige Mitbürgerin mit südländisch warmen Genen neigte sie in extremem Maße zu kalten Füßen. Von Kälte konnte jetzt keine Rede mehr sein, es waren arktische Temperaturen in ihren Strümpfen. Zum Glück wusste sie, dass Extremitäten nicht so schnell erfrieren können, denn wie schon so oft spürte sie ihre Füße kaum noch. Ihr Mann Tobias würde Einiges zu tun haben heute Nacht.

      „Vielleicht wollte er den Wald mit dem Abfallgreifer säubern?“ scherzte Felix. Günnur sah ihn schief an und tippte sich an die Stirn. Er hatte schon diverse Fotos von der männlichen Leiche gemacht, kramte in der Seitentasche seiner Wanderhose und zog ein Gerät heraus, das für ein Handy ein seltsames Format hatte. Es sah nahezu altmodisch dick aus, fand Günnur. Außerdem hatte der Tote ja das neueste Handymodell in seinem Rucksack gehabt. Wozu dann noch eins? „Ah, ein GPS-Gerät“ sagte Felix. „Langsam wird mir einiges klar.“ „Wie jetzt?“ fragte Günnur. „Das muss ein Geocacher sein“ sagte er.

      „Häh?“ fragte Günnur mit einem Gesichtsausdruck, den man normalerweise dämlich nennen würde. Bei ihr sah das Minenspiel immer noch gut aus.

      „Maaaaannnn, Günnur, du sitzt echt auf der Leitung“ sagte Felix ungeduldig. „Torsten macht das doch auch!“

      Bei Günnur klackte es dunkel im Gehirn. Klar, ihr dicker gemütlicher Kollege Torsten, der hatte ihnen mal von seinem großen Hobby erzählt, bei dem man mit einem GPS-Gerät rumlief und irgendwelche Dosen mit Zetteln suchte. Hatte sie sich damals schon gefragt, wie blöd manche Hobbys sein müssen, bei denen man sich mit Technik bewaffnet bei Wind und Wetter durch die Wälder schlägt, ewig lang komische Rätsel lösen muss und danach noch im Internet irgendwas einträgt. Das hatte sie schon damals überhaupt nicht interessiert. Technik, Rätsel und einsame, unheimliche Orte bekam sie in ihrem Job genug. Da interessierte sie es auch, aber nicht in ihrer Freizeit, da benötigte sie einen anderen Ausgleich. Wer’s braucht, hatte sie damals gedacht und vermutet, dass Torsten bei seiner Arbeit nicht genügend ausgelastet ist.

      Gut. Dann hatten sie mit ihrem engsten Kollegen zumindest einen Fachmann in ihrer Nähe, den sie ausquetschen konnten, denn dass das ein Unglücksfall mit Todesursache oder sogar ein Mordfall werden könnte, war ihr schnell klar.

      „Haben Sie schon eine Idee, woran er gestorben ist?“ fragte sie den Arzt.

      Der wiegte den Kopf, was sie im Schein der schlechten Beleuchtung gerade noch erkennen konnte. „So aus dem hohlen Bauch heraus vermute ich, dass sein Rückgrat gebrochen ist und wahrscheinlich auch sein Schädel. Vielleicht ist er aus dem Baum gestürzt, auf einen Ast gekracht, dabei ist sein Rückgrat gebrochen und dann hat er hier unter dem Kopf einen Stein. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass er auf dem schwer aufgeschlagen ist. Näheres kann ich nach der Obduktion sagen. Aber das können Ihre Kollegen vor Ort wohl besser rekonstruieren, schätze ich!“ sagte er zu Günnur und deutete auf die Spurensicherer.

      Etwas abseits saß der junge Mann, der sie telefonisch benachrichtigt hatte. Er hatte um einen Arzt für seine Freundin gebeten, aber inzwischen benötigte er ihn mindestens genauso. Er war kalkweiß im Gesicht und atmete kurz und stoßweise, hockte auf einen Baumstumpf und die Sanitäter hatten ihn in eine warme Decke gehüllt. Etwas weiter weg lag auf dem Waldboden Erbrochenes – sie würden noch feststellen, ob es vom Toten, von ihm oder von seiner Freundin stammte. Immerhin hatten sie seinen Namen, Matthias Kannenheim, seine Freundin hieß Barbara Groß. Sie lag mit geschlossenen Augen in einer Notfalldecke auf einer Tragbahre und hatte inzwischen eine Beruhigungsspritze bekommen. Beide waren absolut unfähig, eine Aussage jeglicher Art zu machen. Das Einzige, was sie herausbekommen hatten, war, dass beide den Toten kannten. „Er lag da einfach...“ hatte der junge Mann immer wieder gestammelt und „Ich mach das nie wieder!“ und hatte den Kopf geschüttelt. Es war nicht aus ihm herauszubekommen, was er nie wieder machen wollte, weder durch Nachfragen noch durch gutes Zureden. Druck hätte sowieso nichts gebracht, das wussten alle hier Anwesenden. Die junge Frau hatte noch gar nichts gesagt, war völlig unfähig zum Sprechen, man sah es ihr an. Inzwischen war sie in einem Stadium der starren Apathie angekommen und lag teilnahmslos auf ihrer Tragbahre. Ab und zu wischte ihr der Arzt den Regen aus dem Gesicht.

      Beide hatten allerdings energisch die Köpfe geschüttelt, als sie gefragt wurden, ob sie gesehen hätten, wie der Mann gestorben ist und ob sie etwas mit seinem Tod zu tun hätten. Genickt hatten sie widerum auf die Frage, ob sie ihn kannten. Der junge Mann stammelte etwas wie „Bigßie“, was keiner verstand. Die drei schienen unabhängig voneinander hierher gekommen zu sein.

      Günnur war froh, wenn sie die beiden ohne Schwierigkeiten aus diesem Stück Urwald, wie sie es insgeheim schon getauft hatte, wieder heil in die Zivilisation bekämen. Sie hatte inzwischen über Funk, denn das verdammte Handy ging ja im Urwald nicht, noch mindestens vier Mann Verstärkung angefordert mit einer weiteren Tragbahre, denn so wie es aussah, waren beide nicht wirklich in der Lage aus eigener Kraft dieses verfluchte Stück Natur zu verlassen.

      Schon auf dem Weg zum Toten war es stockdunkel gewesen und aus dem leichten war ein mittelschwerer Regen geworden. Zum Glück hatten sie leistungsstarke Taschenlampen und Scheinwerfer dabei. Allein schon die Ausrüstung brauchte einige Träger, Sherpas, wie sie ihre Kollegen liebevoll nannte. Sie selbst hatte auch einen schweren Rucksack getragen. Zwar war sie südländisch zierlich, „aber oho!!!“ wie ihre Kollegen immer zu sagen pflegten. Der Rucksack wog locker 15 Kilo, machte ihr aber auf dem Weg weniger zu schaffen als die verdammten kalten Füße. Ärgerlicherweise hatte sie ihre Ersatzsocken vergessen.

      Bis die Verstärkung ankam, würde es frühestens 22 Uhr sein. Toll. Mal wieder eine Nachtschicht für alle, dachte Günnur. Kontraproduktiv zu ihrem Namen, der auf Türkisch „Tageslicht“ bedeutete. Das war auch die Tageszeit, die ihr mit Abstand mehr lag als die Nacht. Glücklicherweise kam ein unvorhergesehener nächtlicher Einsatz eher selten vor, denn solche Todesfälle waren in der sonst beschaulichen Universitätsstadt nicht die Regel. Tobias war zu Hause bei den Kindern. Bevor sie loszogen, hatte sie ihn noch angerufen und ihm gesagt, dass es später werden könnte, sie hätten einen Todesfall im Wald. „Im Wald???? Es regnet doch!“ hatte er ungläubig gefragt. „Glaubst du, das interessiert den Toten?“ hatte sie ironisch erwidert. Nächtliche Einsätze und Schichten bei Wind und Wetter waren ihm von ihr durchaus ab und an bekannt. Er konnte sich seine Zeit als Unidozent besser einteilen, sodass die Kinder nie wirklich alleine waren. Sie brauchte also nicht die


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