Morgentod. Ole R. Börgdahl
schüttelte den Kopf. »Wir sind mit unserem Staubsauger über den Teppich gegangen. Ist so gut wie nichts hängengeblieben. Der Raum wird täglich gereinigt. Gibt ja auch genug Personal hier.«
»Wer sagt das?«, fragte Bruckner.
»Die Haushaltshilfe«, antwortete Hartmann. »Eine Frau Lankes. Ich habe mich sehr nett mit ihr über Staubsauger unterhalten. Hier im Hause bevorzugt man einen Vorwerk Kobold.«
»Kobold?«, wiederholte Bruckner.
»Der Mercedes unter den ...« Hartmann sprach den Satz nicht zu Ende, weil Bruckner schon die Hand hob.
»Ich glaube wir lassen die Phrasen«, sagte er mit einem Ton, der allerdings nicht sehr ernst klang.
Bruckner sah erst nach links und dann nach rechts, um die zwei Meter abzuschätzen. Hermann Seitz, der bislang noch überhaupt nicht gesprochen hatte, blieb wie eine Wache an der Tür stehen. Wir anderen gingen auf dem vorgegebenen Weg zur Leiche. Eine gute Minute lang ließen wir das Bild auf uns wirken. Dr. Loos begann schon unruhig zu werden. Bruckner ließ ihn weiter zappeln.
»Was wissen wir über die Dame?«
»Caroline Upp, fünfunddreißig Jahre alt, ledig. Die Information stammt von Herrn von Treibnitz«, erklärte Hartmann.
»Das weiß ich schon alles. Hast du nicht mehr zu bieten? Was ist mit Angehörigen, Eltern, Geschwister, sind Namen von Freunden bekannt und das alles? Mit wem haben wir es zu tun? Was sagt der Polizeicomputer?«
Hartmann pfiff durch die gespitzten Lippen. »Noch gar nichts. Die Überprüfung steht noch aus. Ich kann mich schließlich nicht zerreißen. Ich werde mich aber gleich noch einmal dahinterklemmen.«
Bruckner nickte, gab sich mit der Antwort vorerst zufrieden. »Was waren ihre Aufgaben?«, kam er gleich zum nächsten Punkt.
»So wie ich es verstanden habe, war Frau Upp die Hauswirtschaftlerin.«
»Was macht so jemand?«
»Weiß nicht«, sagte Hartmann.
Bruckner gab auch mit dieser Antwort vorerst zufrieden. Bisher hatte er in gewisser Weise nur über die Leiche hinweggesprochen. Jetzt ging er in die Knie. Ich selbst habe immer den Blick von oben bevorzugt. Bruckner hockte direkt vor dem Kopf der Toten, so hat jeder seine eigene Herangehensweise. Die Leiche lag auf dem Rücken vor einem geöffneten Schrank. Das rechte Bein war gerade gestreckt, das Linke leicht angewinkelt. Die Arme waren zu beiden Seiten des Kopfes nach hinten geworfen. Es sah tatsächlich so aus, als wäre die Tote mit großer Wucht umgestoßen worden und hatte dabei mit den Armen gerudert, um den Sturz noch zu verhindern. Dieses Bild täuschte selbstverständlich. Es war vielmehr die heftige Rückwärtsbewegung, die die Arme mit sich gerissen hatte. Es war also keine gewollte oder reflexartige Bewegung, sondern die reine Physik eines leblosen Körpers. Die Ursache für diese plötzliche Leblosigkeit zeichnete sich auf der Brust der Frau ab. Das blutdurchtränkte Kleid verbarg zunächst die schwere Verletzung. Bei genauerem Hinsehen konnte man aber den zerstörten Brustkorb erkennen. Ein gut fünf Zentimeter großes Loch, zerfetztes Fleisch, geborstene Knochen. Alles war bereits in Blut getaucht, sodass es wie eine einzige rote Masse wirkte. Ich blickte jetzt auch in das Gesicht der Toten. Erhebliche Blutspritzer an Kinn und Nase. An einigen Hautstellen gab es Verbrennungsspuren. Die Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Die Gesichtshaut wirkte insgesamt bläulich. Die braunen, halblangen Haare klebten in einer Blutlache am Teppich.
Bruckner gab dem Arzt ein Zeichen. Dr. Loos hockte sich ohne ein Zögern zu ihm auf den Boden.
»Was können Sie mir darüber sagen?«
Dr. Loos überlegte, als wenn er nach den richtigen Worten suchen musste. Dann legte er los.
»Schussverletzung aus nächster Nähe, vielleicht zehn, höchstens zwanzig Zentimeter«, war die erstaunlich knappe und präzise Antwort.
Dr. Loos war aber noch nicht fertig. Bruckner und er blieben in der Hocke, während der Arzt auf den Körper der Toten zeigte, um seine Erklärungen anschaulicher zu machen.
»Schrotmunition. Das Brustbein wurde aufgesprengt, hoher Blutverlust in relativ kurzer Zeit. Ich vermute auch gravierende innere Verletzungen.« Er machte eine Pause und sah Bruckner an. »Die Schrotkörner können an den Knochen abgeprallt und nach innen gedriftet sein. Daher vermute ich auch Verletzungen an weiteren Organen.«
»Was ist mit der Gesichtsfarbe?«, fragte Bruckner, dem der blaue Teint der Leiche ebenfalls aufgefallen war.
»Wie gesagt, es sind sehr wahrscheinlich weitere Organe vom Schrot durchsiebt worden«, antwortete Dr. Loos. »Und so vermutlich auch die Lunge. Die Schussverletzung muss nicht sofort tödlich gewesen sein. Die Verletzung und das viele Blut haben die Lunge außer Funktion gesetzt. Die Frau kann durchaus erstickt sein, bevor sie verblutet ist.«
Bruckner nickte. Er und Dr. Loos erhoben sich fast gleichzeitig. Bruckner wandte sich an Hartmann und mich. Ich ging um die Leiche herum, stellte mich Bruckner und Hartmann gegenüber. Gemeinsam sahen wir uns den Rest des Arrangements an. Dieses Wort ist sehr passend, finde ich. Nach dem Ereignis, das heißt nach dem Sturz und dem Tod der Frau, haben alle Gegenstände einen bestimmten Ort eingenommen. Die Feststellung, ob sich diese Orte physikalisch erklären lassen, oder künstlich hervorgerufen wurden, gehört zur wichtigsten Arbeit der Polizei und der Spurensicherung. Hartmann hatte sich bereits eine Meinung gebildet. Er ließ Bruckner und mir aber genug Zeit, damit wir selbst zu einem Bild kamen.
Der Schrank aus dunklem, poliertem Mahagoniholz, war etwa zwei Meter hoch und hatte zwei teilverglaste Türen, die auch den Unterschrank abdeckten. Beide Türen waren bis zum Anschlag geöffnet. Im Unterschrank befand sich eine Art Tresor. Bruckner zog an dem Metallgriff, der Tresor war aber verschlossen. Über dem Unterschrank, auf dem massiven Trennboden, standen drei Gewehre aufrecht in ihren Halterungen. Ein viertes Gewehr war nach vorne gekippt. Der Lauf zeigte schräg nach oben. Die Gewehre waren an den Abzugsbügeln durch ein kunststoffummanteltes Stahlkabel gesichert, das bei allen Waffen allerdings oberhalb des Abzugs verlief. Die Schlaufe am Ende des Sicherungskabels war über einen Riegel geschoben, der wiederum mit einem stabilen Vorhängeschloss versehen war. Bruckner betrachtete sich die Anordnung. Er beugte sich in den Schrank und prüfte das Vorhängeschloss, dessen Bolzen eingerastet war. Der Kolben des schräg nach vorne ragenden Gewehrs hatte die Innenwand des Schrankes gespalten.
»Rückschlagskraft!«, kommentierte Bruckner.
Er befühlte das Holz und kratzte am Gummiabrieb, den der Kolben hinterlassen hatte. Er zog den Kopf aus dem Schrank. Dann fiel sein Blick auf den kleinen Schlüssel, der auf dem Teppich, unmittelbar vor dem Mahagonischrank lag. Er deutete darauf.
»Das ist ein Bohrmuldenschlüssel«, erklärte Hartmann. »Der könnte für das Kabelschloss passen.«
»Nicht für den Schrank?«, fragte Bruckner.
»Den Schrank kann man nicht abschließen, hat kein Schloss und keinen Riegel.«
»Und! Passt der Schlüssel für das Sicherungskabel?«
»Wir haben ihn noch nicht angerührt«, antwortete Hartmann. »Wegen der Fingerabdrücke. Wir hatten noch keine Zeit, uns um die Fingerabdrücke zu kümmern.«
»Handschuh!«, forderte Bruckner.
Hartmann nickte und zog einen blauen Venylhandschuh aus seiner Jackentasche. Er reichte ihn Bruckner, der ihn sich über die rechte Hand streifte.
»Aber nichts verwischen«, warnte Hartmann.
Bruckner schüttelte verächtlich den Kopf, ging in die Hocke und nahm den kleinen Schlüssel vom Boden auf. Er hielt ihn vorsichtig am Schlüsselbart fest. Hartmann war schon zu seinem Koffer gegangen und kam mit einem feinen Pinsel und einem Fläschchen Rußpulver zurück. Bruckner hielt ihm mit spitzen Fingern den Schlüssel hin und Hartmann strich das Rußpulver auf. Anschließend pustete er und schüttelte gleich den Kopf.
»Ist wohl kaum brauchbar.«
»Nimm den Abdruck trotzdem«, forderte Bruckner ihn auf.
Hartmann