Leiche an Bord. Ole R. Börgdahl
schwarze Halbschuhe, hellblaue Jeans, dunkelgraues Oberhemd, eine schwarze Übergangsjacke aus Nylon. Im Innenfutter der Jacke steckte ein nagelneuer Stockholmer Stadtplan der Marke Falk. Auf der zweiten Hälfte des Zettels gab es dann noch ein paar Fakten aus dem Obduktionsbericht, der mit der Tatsache schloss, dass keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod durch Einwirkung Dritter festgestellt werden konnten. Bruckner hatte mit Absicht diese bürokratisch sachliche Formulierung gewählt, weil sie im ersten Moment davon ablenkte, dass ein Mensch gestorben war.
Eine wichtige forensische Information bot der Obduktionsbericht dann aber doch noch. Der Tote hatte offensichtlich einen kardiologischen Befund, was allein durch die Tatsache unterstrichen wurde, dass Rückstände eines Herzglykosids in den Organen nachgewiesen werden konnten und dass das Mittel voraussichtlich nicht länger als einen Tag vor dem Tod eingenommen worden war. Auffällig war, dass das Herzglykosid den Laborwerten zufolge in einer sehr hohen Dosis eingenommen wurde.
Fast zeitgleich blickten alle auf. Bruckner nickte und öffnete die Tür. Er ließ uns vorangehen. Wir drängten uns auf dem schmalen Podest vor dem Treppenabgang. Wir wechselten mehrfach die Position, bis alle die Gelegenheit hatten, in den Schacht zu blicken, der jetzt natürlich nicht mehr ausgeleuchtet war. Das Ende des Schachtes lag dunkel in der Tiefe des Schiffsrumpfes. Ich ging auf der Metalltreppe zunächst ein Podest tiefer, konnte beim Blick in den Schacht den Boden aber immer noch nicht erkennen.
»Ihr könnt gerne ganz nach unten gehen«, sagte Bruckner über mir zum Rest der Gruppe. »Bitte immer zu zweit, es ist ja sehr eng, wie ihr seht.«
Ute war plötzlich hinter mir und wir unternahmen den Abstieg gemeinsam. Die Metalltreppe führte über sechs Podeste, die schätzungsweise durch drei ganze Decks gingen. Wir waren noch nicht ganz unten, als die Einsicht in den Schacht durch senkrecht stehende Metallbleche versperrt wurde. Der Boden des Schachtes war also nur zu erreichen, wenn man auf den letzten vier, fünf Metern direkt von oben in den Schacht einstieg. Auch am Ende der Metalltreppe kam man nicht mehr an den Schacht heran. Der Weg nach unten endete vor einer weiteren Tür. Ich probierte es, aber die Tür, wo immer sie hinführte, war verschlossen. Wir machten uns auf den Weg zurück nach oben und wurden durch Klaus und Gisela abgelöst. Bruckner blieb als Einziger oben und führte uns wieder hinaus auf das Parkdeck, nachdem auch Klaus und Gisela wieder aus der Tiefe des Schiffes zurückgekehrt waren. Der Matrose wartete noch, schloss direkt hinter uns die Tür ab und ging davon.
»So, nun habt Ihr den Leichenfundort gesehen«, begann Bruckner. »Ihr solltet jetzt ein paar Informationen zu diesem Fall erfragen, sodass wir auf ein Täter-Opfer-Profil hinarbeiten können, auch wenn sich hinterher herausstellt, dass es sich nicht um ein Tötungsdelikt gehandelt hat.« Bruckner sah in die Runde, bevor er fortfuhr. »Bezogen auf den Fundort ist noch zu bemerken, dass das Opfer laut Obduktion seit etwa einer Woche tot war.«
Gisela meldete sich und deutete auf die Unterlage, die wir alle noch in Händen hielten. »Dann ist aber der Obduktionsbericht nicht neutral.«
»Doch, weil es Fakten sind«, warf Bruckner ein. »Der Gerichtsmediziner hat keine Indizien einer Gewalteinwirkung durch Dritte feststellen können. Eine Bestätigung oder Beweise dagegen muss der Fallanalyst vorlegen. Das ist Eure Aufgabe als angehende Profiler.«
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Klaus.
»Jemand von der Besatzung«, antwortete Bruckner. »Zum Glück war das hier in Sassnitz, nachdem die Fähre sich gerade geleert hatte und die neuen Passagiere noch nicht an Bord waren. Natürlich wurde die Fähre nicht mehr aus dem Hafen gelassen. Man hat dann sofort die Polizei verständigt. Die Kollegen der Kriminalpolizei sind gekommen und ein Mordermittler aus Brandenburg, der auch gleich ein Team der Spurensicherung mitgebracht hat. Die Fähre wurde sogar für den Rest der Woche stillgelegt. Die Fachleute haben sich Zeit gelassen, die Leiche zu bergen.« Bruckner deutete auf die Tür hinter sich. »Es ist nicht so einfach einen Körper aus einem verschlossenen Schacht zu befreien, und dabei gleichzeitig mögliche Tathergangsspuren zu erhalten. Am Ende waren die Fakten allerdings ganz eindeutig. Das Opfer wurde nicht beraubt. Er hatte noch seine Brieftasche bei sich und man konnte ihn sofort identifizieren. Den Rest kennt ihr aus dem Fazit des Obduktionsberichtes, darum sollte unsere Aufmerksamkeit auch auf etwas Anderem liegen.«
Den letzten Satz hatte Bruckner wie eine Frage formuliert und er hatte die ganze Angelegenheit so dargestellt, als sei der Fall noch ganz frisch. Ich verstand, dass dies das Vorgehen bei der Schulung war. Die Teilnehmer sollten die nächsten Ermittlungsschritte vorgeben. Dann würden sie es diskutieren und Bruckner würde am Schluss darlegen, wie der Fall tatsächlich abgelaufen war. Dann benutzte Bruckner noch ein Hilfsmittel. Er zückte sein Mobile und wählte eine Diktier-App aus. Das hatte er von mir gelernt. Voicememos nenne ich das.
Ute meldete sich, Bruckner hielt ihr das Telefon hin. Sie kannte die Prozedur bereits. Sie beugte sich zu dem Gerät. »Wenn er schon eine Woche in dem Schacht lag, wird es schwierig sein, die Mitpassagiere zu ermitteln und zu befragen.«
»Warum?«, warf Klaus sofort ein und ging ebenfalls näher an Bruckners Mobile heran. »Es gibt doch bestimmt Passagierlisten.«
Bruckner schüttelte den Kopf. »Bei so einer Fähre nicht. Niemand braucht beim Ticketkauf seinen Personalausweis vorzeigen. Die Reederei kennt nur in Ausnahmefällen die Namen der jeweiligen Passagiere.«
»Was ist mit dem Zoll?« Klaus blieb an dem Thema dran. »Die Leute mussten in Trelleborg doch zur Passkontrolle.«
»Hey, Klaus, weißt du nicht, dass du im Schengenerraum lebst. Da gibt es keine Grenzkontrollen mehr«, rief Ute lachend.
Klaus sah sie böse an.
»Die Idee mit dem Zoll ist gar nicht so abwegig«, beschwichtigte Bruckner. »Es gibt immer noch Kontrollen, wenn den Zollbeamten etwas merkwürdig vorkommt, aber diese Erhebung ist natürlich bei Weitem nicht vollständig.«
»Gibt es eine Videoüberwachung?«, fragte Gisela. »Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Bereich hier, wo die Fahrzeuge aufs Schiff kommen, videoüberwacht ist.« Sie sah sich um, suchte nach einem Hinweis auf Kameras.
»Das wäre ein Ansatz«, bestätigte Bruckner, »aber so gut sind die hier nicht ausgerüstet.«
»Also keine Videoaufzeichnungen, die den Tathergang zeigen oder vielleicht sogar, mit wem der Tote während der Überfahrt Kontakt hatte«, stellte Klaus nachdenklich fest und überlegte. »Bleibt also nur die Mannschaft. Wurde die Mannschaft verhört?«
Alle traten jetzt näher an Bruckner heran, damit die kommende Diskussion besser vom Mikrophon des Smartphones erfasst werden konnte.
»Stimmt, die Mannschaft ist der erste Ansatz«, bestätigte Bruckner. »Ein Matrose hat ihn gefunden, als er diesen Aufgang vom Bilgendeck zum Parkdeck genommen hat. Der Mann hat mit seiner Taschenlampe in den Schacht geleuchtet.«
»Benutzt denn sonst niemand diese Treppe?«, fragte Klaus. »Eine Woche ist doch schon eine sehr lange Zeit.«
»Es ist nicht klar, wie oft einzelne Besatzungsmitglieder den Aufgang benutzt haben, ohne etwas zu bemerken. Der besagte Matrose hat laut Aussage einen Geruch wahrgenommen, einen Verwesungsgeruch. Er hat zunächst an Ratten gedacht und daraufhin seine Taschenlampe in den Schacht gehalten.«
»Und ist wahrscheinlich vor Schreck umgefallen«, kommentierte Ute.
»Ganz im Gegenteil. Der Mann hat sich sehr professionell verhalten. Er hat nichts unternommen, sondern hat gleich seine Offiziere gerufen und die haben auch nichts unternommen, außer die Polizei zu informieren.«
»Wann wurde die Leiche eigentlich gefunden, ich meine, wann hat sich das Ganze ereignet?«, fragte Gisela.
»Richtig, diese Fakten fehlen noch«, antwortete Bruckner. »Es ist für unsere Schulung zwar nicht primär wichtig, aber vielleicht verstecken sich dahinter doch Informationen, die den Profiler interessieren sollten.« Bruckner überlegte, machte dann die Angaben aus seinem Gedächtnis. »Am 17. Dezember 2012, einem Montag, morgens um neun. Die Fähre sollte um 10:30 Uhr ablegen. Die Schutzpolizei war gegen halb zehn an Bord und hat den Tatort gesichert. Erst gegen Mittag waren der Mordermittler und die Spurensicherung in Sassnitz.