Leiche an Bord. Ole R. Börgdahl
dem Schachtboden erlittenen Genickbruch.« Bruckner zögerte und sah in die Runde. »Und mit diesen Fakten seid ihr jetzt hier an Bord. Stellt euch vor, dass ihr bei der Leichenschau anwesend wart und mir auch eure Fragen an den Gerichtsmediziner stellen könnt.«
Gisela meldete sich. »Genickbruch. Könnte der auch von einem Schlag herrühren, den das Opfer vor dem Sturz erlitten hat?«
Bruckner schüttelte den Kopf. »Es gab keine Verletzungen, die darauf hinweisen. Alle erlittenen Verletzungen stammen mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit vom Sturz.«
»Neunzig Prozent«, wiederholte Ute. »Die restlichen zehn Prozent lassen also Raum für Spekulationen?«
Bruckner zuckte mit den Schultern. »Du wirst nie eine Hundertprozentaussage von der Obduktion bekommen. Aber wir können das dennoch einmal durchspielen. Einer Person das Genick zu brechen, zum Beispiel mit einer Keule, würde eine große Kraftausübung erfordern, die wiederum eindeutig erkennbare äußere Verletzungen nach sich zieht. Die wurden aber nicht gefunden.«
Ute nickte. Gisela meldete sich erneut. »Es stellt sich die Frage, wie der Tote da hineingefallen sein kann? Erstens: Er ist gefallen, in Form eines Suizids. Zweitens: Er ist gefallen, in Form eines Unfalls. Drittens: Ein oder mehrere Personen haben nachgeholfen.«
»Genau so müsst ihr das aufbauen«, sagte Bruckner nickend. »Und in diesem Stadium noch keine Entscheidung treffen. Hütet euch vor einer Entscheidung. Gibt es eine vierte Möglichkeit?«
Gisela und Ute schienen zu überlegen. Klaus ging zur Tür, die zum Schacht führte. »Kann man da noch einmal rein?«
Bruckner sah sich um, der Matrose mit dem Schlüssel war nicht mehr zu sehen. »Ich fürchte nicht. Worum geht es dir denn?«
»Ich würde das Geländer der Treppe vermessen. Vielleicht war er nur zu schnell auf der Treppe unterwegs und ist gestolpert«, sagte Klaus.
»Das hatte Gisela schon, Punkt zwei, Unfall«, erklärte Bruckner. »Aber du hast recht, es ist natürlich wichtig, die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls anhand dieser Indizien abzuwägen.«
Ich durchschaute Bruckners Methode, die tatsächlich noch besser in einem Zweierteam funktionierte. Man hätte die Fragen und Antworten natürlich auch aufschreiben können, zum Beispiel an einem Flipchart, um später auch Querverbindungen anlegen zu können. Ganz sicher würde das beim Abspielen der Tonaufnahme noch geschehen, sobald die Gruppe wieder in ihrem Unterrichtsraum war.
Gisela hob die Hand. »Die Unfall- und die Suizidthese lassen sich vorerst am wenigsten belegen. Wir sollten also nach dem Ausschlussverfahren vorgehen und weitere Hinweise sammeln, die ein Verschulden Dritter eindeutig ausschließt, um wieder auf die Thesen Unfall und Suizid zu kommen.«
»Das klingt kompliziert, so wie Gisela es gesagt hat, aber die Herleitung ist sauber«, bestätigte Bruckner. »Was gibt es also zu überlegen?«
»Die Passagiere sind im ersten Ansatz nicht zu greifen, wie wir gehört haben«, begann Klaus. »Die Mannschaft also. Was hat die Mannschaft gesehen. Welches Ergebnis haben die Befragungen ergeben?«
»Der Bericht enthält insgesamt siebenunddreißig Zeugenbefragungen.« Bruckner erzählte diese Details nicht das erste Mal. »Es gab tatsächlich neun Besatzungsmitglieder, die sich anhand der Fotografie des Toten, an den Mann erinnerten.«
»Moment«, unterbrach Ute. »Es wurde aber doch ein Lebendbild von dem Opfer verwendet, ansonsten wäre die Wiedererkennungsquote sicherlich niedriger.«
»Da wurde sauber gearbeitet«, bestätigte Bruckner. »Neun Zeugen konnten sich an den Mann erinnern, dass er als Passagier auf der Fähre war. Schwieriger war es allerdings mit dem Datum und der Häufigkeit. Einige Zeugen meinten, dass der Tote öfter auf der Fähre gewesen sei und nicht nur bei einer Überfahrt.«
Klaus hob die Hand. »Wer war er? Anonyme Mitpassagiere müssen wir zwar ausschließen, aber vielleicht ist er nicht allein gereist. Was haben die neun Zeugen aus der Mannschaft gesagt, haben sie den Toten eventuell in Begleitung gesehen?«
»Gutes Argument.« Bruckner hatte Klaus Worte aufgezeichnet. »Weiter.«
Ute sah sich um. »Das hier ist eine Autofähre«, stellte sie fest. »Wurde sein Auto auf der Fähre gefunden?«
»Sehr gut!« Bruckner nickte. »Info für euch, kein Auto. Wenn eines auf der Fähre gefunden worden wäre, hätte man vermutlich nach dem Fahrer gesucht. Welche Thesen zum fehlenden Auto?«
»Beziehungstat«, sagte Gisela. »Opfer und Täter gehen gemeinsam aufs Schiff, nur der Täter fährt allein wieder runter.«
»Warum Täter, warum keine Täterin?«, warf Klaus ein.
Ute nickte zustimmend. »Beziehungstaten schließen alles ein, Liebesbeziehung, Freundschaft und sogar geschäftlich. Wichtig, Täter und Opfer waren sich nicht unbekannt und davon wusste voraussichtlich auch die persönliche Umgebung des Opfers. Im Umfeld des Opfers muss daher geklärt werden, mit welcher der genannten Beziehungspersonen eine Reise auf der Fähre möglich war oder angekündigt oder sogar nachweislich vollzogen wurde.«
»Toll, jetzt kommt ja einiges zusammen«, sagte Bruckner euphorisch. »Bei diesem Fall können wir natürlich nicht mit den echten Beziehungspersonen oder dem persönlichen Umfeld des Toten arbeiten, aber ich habe für unsere Nachbesprechung einiges vorbereitet, das aus Datenschutzgründen natürlich fiktiv ist. Was noch?«
Klaus machte weiter. »Aus welcher Richtung kam er? Ist er auf dem Weg nach Trelleborg gestorben oder befand er sich auf dem Rückweg? Hat sich in Schweden etwas ereignet, das einen Suizid nach sich gezogen hat? Gibt es in Schweden Beziehungspersonen, die darüber Auskunft geben können?«
»Sehr gut. Diese Schlüsselfragen halten wir ebenfalls fest«, sagte Bruckner.
»Wir haben noch keine Antwort«, sagte Ute zu Bruckner.
»Entschuldigung, was war noch mal die Frage?«
»Das Auto des Toten war nicht auf der Fähre. Wie ist er nach Trelleborg gekommen oder nach Sassnitz oder stammte er sogar von hier?«
»Gut, verstehe. Ich habe euch noch nichts von seinen Papieren erzählt«, sagte Bruckner. »Seine Papiere waren alle noch vollständig da. Er hatte einen Führerschein und Wagenpapiere. Sein Wagen wurde später im Parkhaus nebenan gefunden. Nehmt das als Fakt um die Fragen zu stützen, die ihr schon gestellt habt.«
Ute überlegte. »Der Wagen wurde also gefunden. Hat sich die Spurensicherung den Wagen vorgenommen?«
»Das ist ein Aspekt, den ihr sicherlich aufnehmen solltet«, sagte Bruckner. »Auto, Parkhaus, Fähre mir fehlt noch etwas.«
»Das machen doch viele Touris so«, rief Klaus. »Die kommen mit dem Auto nach Rügen und steigen um in den Reisebus. Schwedenrundtour.«
»Oder einen Tag in Trelleborg.« Gisela reckte sich zu dem Gerät in Bruckners Hand. »Da wird die Beziehung zu den Mitreisenden nicht so stark gewesen sein, wenn man eben nur einen Tag zusammen ist.«
»Sehr gut, das Stichwort Städtetrip ist meiner Ansicht nach wichtig«, erklärte Bruckner.
»Ach, ich weiß.« Klaus fasste sich an die Stirn. »Wir quatschen die ganze Zeit hier und keiner erinnert sich mehr an den Stadtplan, der bei dem Toten gefunden wurde.«
»Stockholm, der Mann war auf einer Busreise nach Stockholm«, folgerte Ute. »Das grenzt die Busreisen ein, es lassen sich leichter Beziehungspersonen, zum Beispiel unter Busmitreisenden ermitteln. Wegen der Versicherung wird das Reisebusunternehmen Passagierlisten haben.«
»Ist aufgenommen!« Bruckner wedelte mit seinem Smartphone.
Ich bekam den Eindruck, dass sich in kurzer Zeit schon einiges angesammelt hatte. Ich sah auf die Uhr. So kurz war die Zeit gar nicht. Wir waren schon beinahe eine dreiviertel Stunde an Bord der Fähre. Bruckner war es jetzt auch bewusst. Er kündigte eine letzte Runde an.
»Ich möchte zum Abschluss von jedem eine Einschätzung zum Leichenfundort haben«,