Der Andere. Reiner W. Netthöfel
Mut gefasst.
„Nach Norden.“
„Dorthin, wo es keine Sklaven gibt?“
„Genau.“
„Master müsste uns dann frei lassen?“
„Wird wohl so sein.“ Tom scharrte mit den Füßen.
„Warum hat Master uns dann gekauft?“
„Wäre es euch lieber gewesen, von diesem Lackaffen mit dem fetten Sohn lebendig gehäutet zu werden?“ Sie schraken zusammen.
„Schon gut, schon gut. - Ihr mögt einander, nicht wahr?“, schmunzelte er.
„Nein!“, riefen sie protestierend wie aus einem Munde und griffen gleichzeitig gegenseitig nach ihren Händen. Der Weiße lachte.
„Ihr könnt es doch ruhig zugeben, habt keine Angst. Ich habe euch eben beobachtet. Ihr seid glücklich miteinander. Auch deshalb habe ich euch gekauft. Ich mag die Liebe und ich gönne sie euch. Ich erfreue mich an eurem Glück. Aber Liebe und Glück werden erst durch Freiheit schön.“
„Was heißt das?“, fragte Sarah und sah ihn zum ersten Mal offen und interessiert an.
„Das heißt, dass ihr frei sein werdet, dass ihr ein Paar sein werdet, dass ihr eine gemeinsame Zukunft haben werdet.“
„Das gibt es für uns nicht.“, meinte Tom resignierend. Der Weiße sah beide eindringlich an.
„Hört zu, ihr seid mein Eigentum. Als solches nehme ich euch mit in die Nordstaaten. Dort werde ich euch sofort freilassen.“
„Und dann? Was sollen wir dann machen? Sollen wir Master dienen? Als freie Menschen?“, sprach Tom mutig und ohne Vorwurf. Der Weiße winkte ab.
„Ich bringe euch zu einem Freund. Ich kenne ihn schon lange. Er ist Schmied dort oben. Ihr werdet bei ihm leben und arbeiten, wenn ihr wollt.“
„Wir wissen gar nicht, was wir wollen.“, erklärte Sarah.
„Ihr werdet es lernen.“ Er sah ihre Skepsis. „Ich werde euch einen freien Willen lehren.“
„Heißt das, dass Master noch bei uns bleiben wird?“
„Sicher, unsere Reise wird wohl noch ein paar Wochen dauern; wir fangen sofort mit dem Lernen an.“
„Können wir nicht bei Master bleiben?“, fragte Sarah.
„Bleibt ihr doch.“
„Master hat gesagt, wir sollen zu einem Freund von Master.“
„Ja, denn ich lebe nicht hier, bin nur zu Besuch, um mich umzusehen. Ich komme von weit her, aus Europa.“ Der Weiße sah in verständnislose Gesichter.
Es folgte eine Stunde Geografie, an deren Ende die beiden Sklaven so erschöpft waren, dass sie auf die Seite sackten und nebeneinander einschliefen, was aber nicht an dem Unterricht, sondern an den Umständen der vergangenen Tage lag. Der Weiße deckte sie sorgfältig zu und legte sich dann ebenfalls zur Ruhe.
Sarah erwachte, als die Sonne bereits ankündigte, einen warmen Tag zu bereiten und sah sich um. Tom lag neben ihr und schlief noch, etwas weiter lag der Master und schnarchte, die Pferde grasten in einiger Entfernung. Ihre Hände waren nicht gefesselt. Sie hatte nicht geträumt. Jedenfalls nicht alles. Es stimmte, dass sie nicht mehr in dem Erdloch hocken musste. Es stimmte, dass sie und Tom zusammen waren, so sehr zusammen, wie noch nie.
Es stimmte, dass sie den außergewöhnlichsten Weißen kennengelernt hatten. Es stimmte, dass dieser Weiße ihr neuer Master war. Es stimmte, dass der neue Master versprochen hatte, sie freizulassen. Oder hatte sie das geträumt? Hatte schon jemals ein Master seine Sklaven freigelassen? Sie wusste es nicht.
Sicherlich geträumt war jedoch, dass Tom und sie ein kleines Häuschen besaßen und gemeinsame Kinder hatten, die in Freiheit aufwuchsen und auf des Masters Schoß saßen. Sarah seufzte tief und spürte, wie eine Hand sich sanft auf ihre Schulter legte.
„Sarah?“
„Hm?“
„Was passiert mit uns?“
„Wir reiten nach Norden.“
„Das meine ich nicht. Ich meine … insgesamt. Was ist geschehen?“
„Vielleicht … ist das der Anfang von … Glück?“ Tom küsste zärtlich Sarahs Nacken.
„Wer ist er?“, flüsterte er und Sarah betrachtete den weißen Mann mit einem Anflug von Zärtlichkeit.
Als er erwachte und die Augen aufschlug, hockten die beiden, ihn aufmerksam beobachtend, vor seinem Lager.
„Na, ihr zwei, gut geschlafen?“ Tom zeigte seine weißen Zähne.
„So gut, wie lange nicht.“
„Schön.“
„Master?“
„Hm?“
„Master hat uns nicht gefesselt in der Nacht. Er hat alle Waffen herumliegen lassen …“ Tom erschrak über seine eigenen Worte. So durfte er nicht mit seinem neuen Besitzer reden. Der Master jedoch lachte.
„Wenn du meinst, ich sei sorglos, irrst du. Ich habe keine Angst vor euch, warum solltet ihr mir etwas tun? Das würde eure Lage nicht verbessern. Außerdem weiß ich, dass ihr gute Kinder seid.“
„Woher will Master das wissen?“, fragte Sarah mit Interesse. Er schaute ihr lange in die Augen und streichelte ihre Wange.
„Ich habe viel Lebenserfahrung.“ Er erhob sich und streckte seine Glieder.
„Ihr heißt jetzt übrigens anders.“ Erstaunen in schwarzen Gesichtern. Er lachte.
„Na ja, ich habe euch gekauft, infolgedessen habt ihr jetzt meinen Namen. Montanus.“
Sie brachen auf und folgten ihrem Weg nach Norden. Sie kamen langsam, aber stetig voran, da ein schnelleres als Schritttempo nicht zu leisten war und sie menschliche Ansiedlungen zu vermeiden suchten und daher den einen oder anderen Umweg in Kauf nehmen mussten. In Kauf nahmen sie ebenfalls die erstaunten bis missmutigen Blicke der Menschen, denen sie begegneten und die augenscheinlich daher rührten, dass ein weißer Master seine schwarzen Sklaven reiten ließ, aber dem Master war das egal. Diese Gleichgültigkeit ihres Masters machte insofern Eindruck auf die beiden Schwarzen, dass sie bei solchen Begegnungen im Laufe der Zeit keine lähmende Angst mehr verspürten, sondern ganz auf ihren Master vertrauten, der mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein die ihnen Begegnenden angrinste und grüßte.
Mussten sie ihre Vorräte auffrischen, spielten sie allerdings die gewohnten Rollen, so dass sie wenig Aufmerksamkeit erregten, was ihnen ganz lieb war. Montanus kleidete sie auch neu ein, weil es, wie er sagte, im Norden durchaus kalt werden konnte.
Zu diesem Zweck betraten sie einen Kramladen in einem winzigen Ort, der nur aus ein paar windschiefen Hütten bestand, von denen eine durch ein selbst gezimmertes Schild als Geschäft ausgewiesen war. Ein schmächtiger Mann mit stechendem Blick stürzte sich auf die einzigen Kunden, die er offenbar hatte, denn ansonsten war die Hütte, die aus zwei Räumen zu bestehen schien, menschenleer. Der Schmächtige, der ein verschossenes weißes Hemd, eine fadenscheinige Hose und Holzpantinen trug, zeigte auf die Schwarzen und sagte zu Montanus: „Die dürfen hier aber nicht rein.“ Hierbei verschlang er Sarah geradezu mit Blicken, was Montanus sehr missfiel.
„Um die geht’s aber.“, brummte er kurz angebunden, worauf der Krämer seinen Widerstand, wohl der Aussicht auf ein Geschäft wegen, aufgab. Er führte Montanus und Tom zu einer Ecke, in der Herrenkleider gestapelt lagen. „Suchen Sie sich was aus, die Damensachen sind im Nachbarraum; ich gehe mit der Niggerin.“ Da Tom sich sofort auf den Stapel stürzte, trat Montanus ihm beratend zur Seite, während der Krämer Sarah am Arm packte und sie in den anderen Raum, der durch einen Vorhang von dem einen abgetrennt war, zog. Plötzlich drangen unterdrückte Schreie durch den Vorhang zu den beiden Männern. Tom ließ