Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
Apotheker, der kleine Bunsee Lal, arbeitet wie ein Dämon. Ich hab ihn zur Beförderung empfohlen für den Fall, daß er am Leben bleibt.«
»Und wie stehen deine Chancen, alter Bursche?« fragte Mottram.
»Weiß nicht. Kümmert mich wenig. Und was treibst du für gewöhnlich?«
»Sitze im Zelt unterm Tisch und spucke auf den Sextanten, damit er kühl bleibt«, sagte der Vermessungsbeamte, »wasche mir die Augen, damit ich keine Entzündung kriege, was mir sicher noch einmal blüht, und versuche meinem Angestellten klarzumachen, daß ein Irrtum von fünf Winkelgraden keineswegs so geringfügig ist, wie es aussieht. Ich bin, wie ihr wißt, ganz allein und werde es bis zu Ende des heißen Wetters auch bleiben.«
»Also ist Hummil der Glückspilz unter uns«, sagte Lowndes und warf sich in einen Liegestuhl, »er hat ein wirkliches Dach, zwar abgenutzt bis auf die Zimmerdecke, aber immerhin ein Dach überm Kopf, sieht jeden Tag einen Zug vorbeikommen - hat sogar Bier, Sodawasser und Eis, wenn der liebe Gott huldreich aufgelegt ist. Er besitzt Bücher, Gemälde (sie waren aus der Zeitung »The Graphic« herausgeschnitten) und erfreut sich der Gesellschaft des ausgezeichneten Unterassistenten Jevins, und außerdem genießt er uns jede Woche.«
Hummil lächelte bitter. »Jawohl, ich bin ein Glückspilz! Aber Jevins ist noch weit glücklicher.«
»Wieso? Ist er vielleicht-- -- --?«
»Allerdings. Er hat sich auf die Große Reise begeben. Am verflossenen Montag.«
»Aus eigenem Antrieb?« fragte Spurstow rasch und gab damit dem Verdacht Ausdruck, der alle sofort ergriffen hatte. Es herrschte ja keine Cholera in Hummils Gegend und auch das Fieber läßt dem Menschen eine Woche zum Sterben Zeit. Plötzlicher Tod wird daher stets als Selbstmord angesehen.
»Bei einem solchen Wetter kann man dergleichen niemand verübeln«, sagte Hummil, »vielleicht war es nur Sonnenstich. Vorige Woche, als ihr mich eben verlassen hattet, kam er zu mir in die Veranda und sagte, er wolle heim zu seiner Gattin - nach Liverpool in der Market Street - gleich jetzt abends!
Ich schickte sofort nach dem Apotheker, damit er nach ihm sähe, und wir brachten ihn zu Bett. Nach ein paar Stunden rieb er sich die Augen und meinte, er wäre wahrscheinlich ohnmächtig gewesen, und hoffe, sich nicht ungebührlich benommen zu haben. Er hielt von jeher auf gute Umgangsformen; er drückte sich damals so gewählt aus wie Chudcs.«
»Nun, und?«
»Dann ging er in seinen Bungalow und reinigte sein Gewehr. Sagte seinem Diener, er wolle am nächsten Tag auf die Jagd. Dabei spielte er mit dem Drücker und der Schuß ging ihm durch den Kopf. Reiner Zufall, natürlich! Der Apotheker berichtete den Vorfall dem Chef, und Jevins wurde begraben. Irgendwo draußen. Ich wollte dir zuerst telegraphieren, Spurstow, aber was hättest du tun können?«
»Du bist wirklich ein seltsamer Kerl«, meinte Mottram, »wenn du ihn selber umgebracht hättest, würdest du über die Sache nicht sorgsamer geschwiegen haben.«
»Gott, wozu viel Aufhebens davon machen!« sagte Hummil gelassen. »Ich hab noch einen großen Teil seiner Arbeit auf meine Schultern nehmen müssen, bin also der eigentliche Leidtragende. Jevins ist aus dem Wasser - reiner Zufall wie gesagt, aber aus dem Wasser ist er. Der Apotheker hat ein langes Gefasel von Selbstmord vom Stapel lassen wollen. Hindere einmal einer einen Babu am Schmieren, wenn er Gelegenheit dazu gefunden hat!«
»Warum wolltest du denn einen Selbstmord nicht zugeben?« fragte Lowndes.
»Weil kein direkter Beweis vorlag. Viel Vorrechte hat ja ein Mensch hier zu Lande nicht, aber ein Gewehr verkehrt in die Hand zu nehmen, wird ihm schließlich wohl noch erlaubt sein! Überdies: vielleicht werde ich selbst nochmal jemand dankbar sein, daß er bei mir Zufall als Todesursache angibt. Leben und leben lassen. Sterben und sterben lassen!«
»Da! Nimm eine Pille!« sagte Spurstow, der Hummils. bleiches Gesicht beobachtet hatte, »nimm eine Pille und sei kein Esel. Das alles ist dummes Geschwätz. Jedenfalls hemmen Selbstmordgedanken deine Arbeit. Wenn ich zehnmal der Hiob wäre, das Interesse am Fortschritt meiner Arbeit ließe ich mir nie rauben.«
»Ach was! Mir ist sie vollkommen gleichgültig geworden«, sagte Hummil.
»Vielleicht die Leber nicht in Ordnung?« meinte Lowndes teilnahmsvoll.
»Nein. Etwas viel Schlimmeres. Ich kann nicht schlafen.«
»O, das kenne ich«, rief Mottram. »Geht mir bisweilen auch so. Sind Anfälle, die sich austoben wollen. Was tust du dagegen?«
»Nichts. Es ist alles vergebens. Seit Freitagmorgen hab ich keine zehn Minuten geschlafen.«
»Armer Kerl! Spurstow, du solltest ihn in Behandlung nehmen. Schau nur, seine Augen sind trüb und seine Lider dick geschwollen.«
Spurstow lachte leicht auf, beobachtete aber Hummil noch immer scharf. »Später! Werde ihn schon auf die Beine bringen. Übrigens, was meint ihr, ist's zu heiß für einen Spazierritt?«
»Wohin denn?« brummte Lowndes müde. »Um acht müssen wir sowieso fort, da werden wir genug zu reiten haben. Ich hasse das Pferd, wenn ich es nur als Transportmittel gebrauchen muß. O Gott, was fängt man nur an?«
»Spielen wir halt wieder Whist, acht Schilling den Point und einen Goldmohur den Robber!« schlug Spurstow vor.
»Bist wohl verrückt? Einen Monatsgehalt als Einsatz! Einer von uns wäre ruiniert, wenn wir aufstehen!« sagte Lowndes.
»Könnte nicht behaupten, daß ich gerne ›derjenige, welcher‹ wär'«, sagte Mottram, »auch möchte ich nicht schuld sein, wenn einen von uns dieses Los träfe. Als Reizmittel langt es nicht hin und außerdem ist es töricht.« Und er ging hinüber zu einem alten Klavier, dem Wrack eines Familienhaushaltes aus früheren Tagen des Bungalows, und öffnete den Deckel.
»Rettungslos verstimmt«, sagte Hummil, »meine Diener haben darauf herumgehackt.«
Allerdings befand sich das Instrument in einem kläglichen Zustand, aber immerhin gelang es Mottram, die rebellischen Töne nach und nach ein wenig in Einklang zu bringen; dann stieg aus der abgegriffenen Tastatur etwas auf, wie das Gespenst eines Liedes aus einem Volksvarieté. Die Herren in ihren Liegestühlen wandten sich mit sichtlichem Interesse Mottram zu, der immer munterer drauflosspielte.
»Ausgezeichnet«, rief Lowndes. »Ich glaube, ich habe dieses Lied zum letzten Mal im Jahre 79 gehört, damals als ich fort mußte von zu Haus.«
»Oh, ich habe erst um 80 herum fort müssen«, sagte Spurstow selbstbewußt, und er nannte einen Gassenhauer, der damals in aller Mund gewesen war.
Mottram schlug die Melodie an, aber mangelhaft. Lowndes kritisierte und verlangte Änderungen. Mottram ging in ein anderes Volkslied über und wollte dann aufhören.
»Sitzen geblieben!« befahl Hummil. »Ich hab gar nicht gewußt, daß du soviel Musik im Leib hast. Spiel so lang, bis dir nichts mehr einfällt. Ich werde das Klavier stimmen lassen, bis ihr wiederkommt. Bitte, etwas Festliches jetzt!«
Sehr einfach, freilich, waren die Melodien, denen Mottrams Kunst und der Zustand des Klaviers Ausdruck geben konnten, aber die Herren hörten mit Vergnügen zu und sprachen in den Pausen von den Erlebnissen, die sie gehabt, als sie noch in ihrer Heimat gewesen waren. Ein dichter Staubsturm erhob sich draußen und heulte über das Haus hinweg, hüllte alles in mitternächtliches Dunkel, doch Mottram spielte unentwegt fort; die anderen hörten es kaum mehr, so wild und laut flatterte das Segeltuch an der Zimmerdecke.
In dem tiefen Schweigen nach dem Tosen des Sturmes ging Mottram von den ausgesprochen schottischen Liedern, leise die Melodie mitsummend, in die Abendhymne über.
»Sonntag!« sagte er zur Erklärung und nickte den anderen zu.
»Nur weiter!« rief Spurstow, »brauchst dich nicht entschuldigen!«
Hummil lachte laut und wild auf. »Ja, ja, spiel sie nur! Du bringst uns heute eine Überraschung nach der ändern; hab gar nicht gewußt, daß so viel Sarkasmus in dir steckt! Wie geht das