Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
»Nein.«
»Kopf heiß? Würgen in der Kehle?«
»Nein. Danke. Schlafe nicht viel, wie du weißt.«
»Ist dir sehr schlecht?«
»Ziemlich. Danke. Draußen klopft was, nicht wahr? Hab zuerst geglaubt, 's war in meinem Kopf. - Spurstow, ich bitte dich, hab Mitleid mit mir! Gib mir was, daß ich schlafen kann - fest schlafen - und wenn's nur vier Stunden sind!« Und Hummil sprang auf, zitternd vom Kopf bis zu den Füßen. »Seit Tagen hab ich nicht natürlich geschlafen; ich hält's nicht mehr aus! hält's nicht - mehr - aus!«
»Armer Kerl!«
»Mit Worten ist mir nicht geholfen. Gib mir was zum Schlafen! Ich sag dir, ich bin schon fast wahnsinnig. Weiß kaum mehr, was ich sage. Seit drei Wochen muß ich mir jedes Wort vorbuchstabieren, ehe ich's ausspreche. Ist das nicht genug, einen Menschen zum Wahnsinn zu treiben? Ich kann die Gegenstände nicht mehr recht unterscheiden und hab den Tastsinn fast ganz verloren. Die Haut schmerzt mich - die Haut. Gib mir ein Mittel, daß ich endlich schlafen kann! Spurstow, um Gottes Barmherzigkeit willen, gib mir zu schlafen ein! Etwas, das mich tief schlafen läßt. Nicht bloß träumen! Schlafen! Schlafen!«
»Weiß schon, alter Bursche, weiß schon. Bleib ruhig! Du bist nicht halb so krank, wie du glaubst.«
Die Schleusen der Selbstbeherrschung waren durchbrochen: Hummil klammerte sich furchtsam wie ein Kind an Spurstow. »Mensch! Hummil! Du brichst mir ja den Arm!«
»Ich werde dir das Genick brechen, wenn du mir nicht hilfst, Spurstow! Nein, nein! Verzeih, alter Freund! Ich hab's ja nicht so gemeint!« Hummil wischte sich den Schweiß von der Stirn, rang nach Selbstbeherrschung. »Ich hab die Besinnung verloren, verzeih! Aber vielleicht könntest du mir doch ein Schlafmittel geben? Bromkali oder sowas?«
»Brom? Dummes Zeug. Warum hast du dich mir nicht längst anvertraut? Laß meinen Arm los! Will mal nachsehen, ob ich nicht in meiner Zigarettendose etwas habe, was dir helfen kann.« Und Spurstow schraubte die Lampe hoch und begann in den Taschen seines Anzugs zu suchen; dann näherte er sich mit einem silbernen Etui, dem er eine winzige schimmernde Spritze entnahm, dem gespannt wartenden Freunde.
»Die letzte Zuflucht der Zivilisation«, sagte er, »ein Zeug, das ich höchst ungern gebrauche. Gib mal deinen Arm her! Na, die Schlaflosigkeit hat deine Muskulatur noch nicht ruiniert. Verdammt dickes Fell. Geradesogut könnte man einem Büffel eine Einspritzung geben. So! In ein paar Minuten wird das Morphium wirken. Leg dich nieder und wart's ab.«
Ein Lächeln unaussprechlichen, fast blödsinnigen Entzückens verbreitete sich über Hummils Gesicht. »Ich glaube«, flüsterte er, »jetzt werde ich einschlafen können. Gott, wie himmlisch! Spurstow, du mußt mir das Etui hierlassen; du -« Seine Stimme erlosch und sein Kopf fiel zurück.
»Freilich, das könnte dir so passen«, sagte Spurstow zu dem Bewußtlosen, »aber jetzt, mein Freund, werde ich mir gestatten, mal deine Schußwaffen zu vernageln! Schlaflosigkeit deiner Art lockert gern den dünnen moralischen Faden, der die kleinen Nebensächlichkeiten ›Leben und Tod‹ auseinanderhält.«
Mit bloßen Füßen schlich er in Hummils Sattelkammer und zog ein Zwölfkaliber-Gewehr, einen Expreß und einen Revolver aus den Futteralen. Von einem schraubte er die Zündnadel heraus und warf sie in den Schrank, vom ändern entfernte er die Feder und warf sie hinter einen großen Kleiderkasten; den Revolver spannte er nur und schlug den Zapfen des Hahns mit einem Reitstiefelabsatz heraus.
»So, das wäre in Ordnung«, brummte er und schüttelte die Schweißtropfen von den Händen, »diese kleinen Vorsichtsmaßnahmen werden dir wenigstens Zeit zum Nachdenken geben, wenn du den Kopf verlieren solltest. Du neigst mir ein wenig zu viel zu Unfällen beim Gewehrputzen.«
Als er sich aufrichtete, hörte er die heisere Stimme Hummils auf der Türschwelle sagen: »Narr, du!«
Solche Töne finden nur Menschen in lichten Momenten zwischen Delirien, wenn sie einem Freund etwas sagen, bevor sie sterben.
Spurstow sprang zurück und ließ die Waffe fallen; Hummil stand an der Tür und schüttelte sich in hilflosem Lachen.
»War riesig nett von dir, gewiß« - er sprach ganz langsam wie jemand, der Wort für Wort ertastet. »Habe gar nicht die Absicht, mir was anzutun. Spurstow, das Zeug wirkt nicht! Was soll ich tun? Was soll ich nur anfangen?« Panischer Schrecken trat in seine Augen.
»Leg dich nieder und wart ab, bis es wirkt. Leg dich sofort nieder!«
»Ich trau mich nicht. Es wird mich wieder nur halb betäuben. Ein zweitesmal werde ich's nicht mehr abschütteln können. Du weißt nicht, was es mich für eine Anstrengung gekostet hat, aufzustehen. Sonst bin ich so schnell wie ein Blitz, aber du hast mir einen Stein an die Füße gebunden! Ich war wie gefesselt.«
»Ich versteh schon. Aber leg dich jetzt nieder.«
»Nein, nein, ich deliriere nicht! Es war eine Niederträchtigkeit von dir, Versuche mit mir anzustellen. Weißt du, daß ich beinahe gestorben wäre?«
Wie ein Schwamm eine Schiefertafel abwäscht, so streifte jetzt plötzlich - wollte es Spurstow scheinen - eine unbekannte Macht alles aus Hummils Gesicht fort, das es bisher zum Antlitz eines Mannes gemacht; er stand auf der Schwelle mit dem Ausdruck naivster Unschuld: er hatte sich unter der Wirkung des Morphiums zurückgeschlafen in den Zustand verängstigter Kindheit.
»Wird er jetzt umfallen und sterben?« dachte Spurstow bei sich; setzte dann laut hinzu: »Schon recht, mein Sohn. Komm zu Bett und erzähl mir, was dich bedrückt. Gut, du hast nicht schlafen können, aber was bedeutet der übrige Unsinn?«
»Einen Platz - einen Platz da unten«, sagte Hummil schlicht. Das Mittel wirkte offensichtlich wie Ebbe und Flut; der Ausdruck in Hummils Gesicht schwankte hin und her: ging über von zitternder, kindischer Angst in das bewußte Ausweichen des Mannes vor einer drohenden Gefahr. Je nachdem sein Bewußtsein sank oder stieg.
»Gott im Himmel, Spurstow; ich habe mich schon seit Monaten davor gefürchtet. Es hat mir jede Nacht zur Hölle gemacht; und doch bin ich mir nicht bewußt, jemals etwas Böses getan zu haben.«
»Bleib ruhig! Werde dir noch eine Dosis geben. Wollen mal zuerst das Albdrücken beseitigen, du unverbesserlicher Narr.«
»Ja! Aber gib mir so viel, daß ich nicht mehr aufstehen kann. Du mußt mich in festen Schlaf versenken und nicht so halb betäuben. Man läuft dann so schwer davon!«
»Ich weiß, ich weiß. Hab's selber erlebt. Die Symptome sind genau so, wie du sie beschreibst.«
»Lach mich doch nicht aus, du Schuft! Ehe diese entsetzliche Schlaflosigkeit über mich kam, hab ich versucht, auf die Ellenbogen gestützt, zu ruhen. Hab mir einen Sporn ins Bett gelegt, um mich zu stechen, wenn ich zurückfiel. Schau her!«
»Bei Gott, der Mensch ist zerstachelt wie ein Gaul! Von einer Nachtmahr geritten, die ihn verderben will. Und wir alle haben ihn für einen vernünftigen Menschen gehalten. Wie soll ich mir das deuten? Der Himmel kenne sich da aus. – Sag mal, Hummil, neigst du zu Selbstgesprächen?«
»Ja. Bisweilen. Aber nicht, wenn ich mich fürchte; dann muß ich laufen; du nicht auch?«
»Natürlich. Immer. Versuch mal jetzt, mir alles genau zu schildern, was dich quält, bevor ich dir die zweite Spritze gebe.«
Hummil erzählte wohl zehn Minuten lang in gebrochenem Flüsterton, und Spurstow beobachtete dabei seine Pupillen, oder bewegte die Hand vor seinen Augen hin und her.
Als die Schilderung zu Ende war, wurde die Morphiumspritze angesetzt, und Hummils letzte Worte lauteten, als er zum zweitenmal zurücksank: »Versenk mich in tiefen Schlaf, denn wenn es mich zu packen kriegt, dann muß ich sterben -sterben.«
»Jawohl, das müssen wir alle früher oder später – dank dem Himmel, der unserer Leidenszeit hier auf Erden ein Ziel gesetzt hat«, brummte Spurstow und schob die Polster unter dem Kopf des Schlafenden zurecht. »Kann mir sogar gleich jetzt passieren, wenn ich nicht sofort etwas trinke.