Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
der Erde. Jetzt aber hungert mich. Jagst du mit mir in der Morgendämmerung?« »Nein, Baghira soll das Ding gleich sehen. Gute Jagd!«
Mogli sprang davon, den schweren Ankus schwingend. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um ihn zu bewundern; dann kam er an den Teil der Dschungel, wo Baghira sich meist aufhielt. Er fand ihn saufend nach schwerem Töten. Mogli erzählte ihm seine Abenteuer, wobei Baghira ab und zu den Ankus beschnüffelte. Als Mogli die letzten Worte der weißen Kobra wiederholte, schnurrte Baghira zustimmend.
»Die Weiße Haube sprach also wahr?« fragte Mogli hastig.
»In den Käfigen des Königs zu Oodeypore kam ich zur Welt, und so weiß ich einiges von den Menschen. Viele würden dreimal in einer Nacht töten, nur um des einen großen roten Steins willen.«
»Aber der dumme Stein macht das Ding nur schwer in der Hand. Mein scharfes Messer ist viel nützlicher und – sieh, auch fressen kann man den roten Stein nicht. Warum also sollten sie töten um seinetwillen?«
»Mogli, geh' hin und leg' dich schlafen. Du hast unter Menschen gelebt und...«
»Und jetzt entsinne ich mich. Menschen töten nicht, um zu jagen, nein, zum Vergnügen und aus Bosheit. Wache auf, Baghira! Zu welchem Zweck diente denn das dornenspitze Ding?«
Baghira, sehr schläfrig, öffnete halb die Augen, und boshaft glänzten sie. »Die Menschen schufen es, um es in die Köpfe der Söhne Hathis zu stoßen, damit Blut herausfließt. Ich sah das oft in den Straßen von Oodeypore, vor unseren Käfigen. Das Ding da hat Blut von vielen Brüdern Hathis gekostet.«
»Aber warum stechen sie in die Köpfe von Elefanten?«
»Um sie Menschengesetz zu lehren! Da sie weder Klauen noch Hauer haben, machen die Menschen solches mit ihnen – und noch Schlimmeres.«
»Blut und immer wieder Blut, wenn ich an Dinge gerate, die vom Menschenvolk geschaffen wurden«, sagte Mogli angeekelt. Schwerer noch als zuvor schien ihm der Ankus. »Wenn ich das gewußt hätte, würde ich ihn nicht mitgenommen haben. Erst war es Messuas Blut an den Stricken, nun ist es das Blut Hathis und seiner Kinder. Ich will nichts mehr damit zu schaffen haben, schau her!«
Der Ankus flog blitzend im hohen Bogen durch die Luft und grub sich dann mit der Spitze in den Boden, dreißig Meter entfernt unter den Bäumen. »Nun sind meine Hände frei vom Tode«, sagte Mogli und rieb seine Handflächen auf der frischen feuchten Erde. »Die Haube sprach, Tod würde mir folgen. Alt ist sie, weiß und wirr.«
»Weiß oder schwarz, Tod oder Leben, ich geh' jetzt schlafen, kleiner Bruder. Ich kann nicht die ganz Nacht durch jagen und dann den ganzen Tag heulen, wie manche Völker.«
Baghira trabte fort, nach einer ihm bekannten Jagdhöhle, die zwei Meilen entfernt lag. Mogli suchte sich einen geeigneten Baum, knotete ein paar Schlingpflanzen zusammen und schaukelte in kürzerer Zeit, als sich's erzählen läßt, in einer Hängematte fünfzig Fuß über dem Boden. Er hatte keine ausgesprochene Abneigung gegen Tageslicht, dennoch befolgte er die Sitte seiner Freunde und vermied es soviel wie möglich. Als er von dem vielstimmigen Lärm der in den Bäumen hausenden Völker geweckt wurde, war es wiederum Zwielicht; geträumt hatte er von den wundersamen Steinen, die er von sich geworfen.
»Wenigstens will ich mir das Ding noch einmal anschauen«, sagte er und ließ sich an einer Schlingpflanze auf den Boden gleiten. Baghira aber stand bereits vor ihm. Mogli hörte im Halbdunkel sein leises Fauchen.
»Wo ist das dornenspitze Ding?« rief Mogli.
»Ein Mensch hat es mitgenommen. Hier ist noch seine Fährte.«
»Nun werden wir sehen, ob die Haube die Wahrheit sprach. Wenn das spitze Ding der Tod ist, muß der Mensch sterben. Folgen wir ihm.«
»Jagen wir erst«, sagte Baghira. »Ein leerer Magen macht das Auge achtlos. Menschen gehen sehr langsam, und die Dschungel ist feucht genug, daß auch die schwächste Spur sichtbar bleibt.«
So schnell es ging, schlugen sie eine Beute; aber es vergingen doch fast drei Stunden, bis sie Mahl und Trank beendet hatten und der Fährte zu folgen begannen. Das Dschungelvolk weiß, daß nichts wichtig genug ist, um sich beim Fressen zu überhasten. »Glaubst du, daß das spitze Ding sich in der Menschenhand umdrehen und ihn töten wird?« fragte Mogli. »Die Haube sagte, es wäre der Tod.«
»Wir werden sehen, wenn wir finden«, gab Baghira zurück und trottete mit gesenktem Kopf dahin. »Einzelfuß ist es.« (Er meinte, daß die Spur nur von einem Manne herrührte.) »Und das Gewicht des Dinges hat seine Fersen tief in den Boden gedrückt.«
»Hei! Das ist klar wie ein Blitz in der Sommernacht!« antwortete Mogli. Sie fielen in den raschen, taktmäßigen Fährtentrab und folgten durch das wechselnde Mondlicht der Spur der zwei nackten Füße.
»Hier ist er schneller gelaufen«, sagte Mogli. »Die Zehen stehen weit auseinander.« Sie kamen nun über sumpfigen Grund. »Warum ist er hier seitwärts abgebogen?«
»Warte«, sagte Baghira und schwang sich mit einem mächtigen Satz voraus, soweit er nur konnte. Sobald eine Fährte unklar wird, ist es zunächst notwendig, einen Sprung nach vorwärts zu machen, um von den eigenen verwirrenden Fußspuren freizukommen. Als Baghira gelandet war, wandte er sich um und rief:
»Hier kommt eine andere Fährte mit der ersten zusammen. Ein kleinerer Fuß ist die zweite Spur, und die Zehen stehen einwärts.«
Mogli eilte hinzu und betrachtete die neue Spur. »Es ist der Fuß eines Gondjägers«, sagte er. »Sieh, hier schleifte er den Bogen über das Gras. Deshalb drehte die erste Fährte so schnell nach der Seite ab. Großer Fuß barg sich vor kleinem Fuß.«
»So ist es«, sagte Baghira. »Wenn wir jetzt gemeinsam folgen, trüben wir die Zeichen. Jeder von uns nimmt eine Fährte auf. Ich bin großer Fuß, kleiner Bruder, und du bist kleiner Fuß, der Gond.«
Baghira sprang zurück auf die ursprüngliche Fährte und ließ Mogli an der Kreuzung zurück. Der stand gebeugt über die sonderbare Spur der einwärtsstehenden Zehen des kleinen wilden Mannes der Wälder.
»Jetzt«, rief Baghira, Schritt für Schritt an der Kette der Fußspuren entlangtretend, »jetzt wende ich, großer Fuß, hier zur Seite. Jetzt verberge ich mich hinter einem Felsblock und verharre regungslos und wage nicht, meine Füße zu verschieben. Gib deine Fährte an, kleiner Bruder.«
»Ich, kleiner Fuß, komme zu dem Felsen«, rief Mogli, auf seiner Fährte laufend. »Nun setze ich mich unter dem Felsen nieder, stütze mich auf die rechte Hand und stelle den Bogen zwischen die Zehen. Lange warte ich so, denn tief ist hier die Spur meiner Füße.«
»Auch ich«, antwortete Baghira, hinter dem Felsen verborgen.
»Ich verharre, den Knauf des dornenspitzen Dinges auf einen Stein gestützt. Es gleitet ab, hier ist eine Schramme auf dem Stein. Gib Laut auf deiner Fährte, kleiner Bruder.«
»Ein, zwei dürre Zweige sind hier gebrochen und ein großer Ast«, antwortete Mogli gedämpft. »Wie deutet sich das? Aha! Nun ist alles klar! Ich, kleiner Fuß, gehe weg, geräuschvoll, laut stampfend, damit großer Fuß mich hören möge.« Schritt für Schritt bewegte sich Mogli von dem Felsen fort, und seine Stimme schwoll an, als er sich einem kleinen Wasserfall näherte. »Ich – gehe – weit – weg –, dort – dorthin – wo rauschendes – Wasser – mein – Geräusch – verdeckt; und – hier – warte ich. Künde deine Fährte, Baghira, großer Fuß.«
Der Panther sprang nach allen Richtungen, um auszumachen, wie die Fährte von großer Fuß von dem Felsen ab verlief. Dann rief er:
»Auf den Knien krieche ich hinter dem Felsen hervor, das dornenspitze Ding schleppe ich nach. Niemanden sehe ich; springe auf und renne. Großer Fuß rennt scharf. Deutlich ist die Fährte. Jeder folge der seinen. Ich laufe.«
Baghira fegte auf der deutlich gezeichneten Fährte hin, und Mogli folgte den Fußspuren des Gond. Kurze Zeit lag Schweigen über der Dschungel.
»Kleiner Fuß, wo bist du?« tönte es dann von Baghira herüber. Moglis