Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling

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zum offenen Meer, glatte Blöcke und streifige Felsen treten aus der körnigen Schneedecke hervor. Aber das alles ist in wenigen Wochen wieder verschwunden, und von neuem umklammert der wilde Winter mit ehernen Banden das Land, wieder kracht und stößt auf dem offenen Meer das Treibeis, stampft und rammt und stößt und splittert, bis es zuletzt zur festen Fläche zusammenfriert, zehn Fuß dick über die Küste hin und hinaus in die tieferen Gewässer.

      Im Winter pflegte Kadlu den Robben bis an die Grenze des Küsteneises zu folgen und spießte sie, wenn sie zu den Luftlöchern aufgestiegen kamen, um Atem zu holen. Der Seehund bedarf des offenen Wassers, um Fische zu fangen; im tiefen Winter aber erstreckt sich mitunter das Eis von der Küste aus über achtzig Meilen weit ohne Spalt oder Loch.

      Im Frühling zog sich Kadlu mit seiner Sippe vor dem tauenden Eise zurück nach dem felsigen Festland; dort errichteten sie Hütten aus Tierfellen, legten Schlingen für Seevögel oder stachen junge Robben, die sich am Gestade sonnten. Später zogen sie wohl südlich nach Baffinland, dem Ren nach und ergänzten ihren jährlichen Vorrat an Lachs aus den Hunderten von Strömen und Seen des Innern. Im September oder Oktober wanderten sie wieder nordwärts, um Moschusochsen zu jagen und den jährlichen Winterseehundfang zu betreiben. Sie reisten dabei mit Hundeschlitten, oft zwanzig und dreißig Meilen am Tag; manchmal fuhren sie auch an der Küste entlang in geräumigen Fellbooten – Frauenboote genannt. Die kleinen Kinder und Hunde stimmten die alten Gesänge an, indes sie dahinglitten in den bauchigen Booten von Kap zu Kap in den gläsernen, eisigen Fluten.

      Aller Luxus, von dem der Tununirmiut wußte, kam aus dem Süden – Treibholz für Schlittenkufen, Stabeisen für Harpunenspitzen, stählerne Messer, Blechtöpfe, in denen sich weit besser kochen ließ als mit den alten Specksteingeräten. Feuerstein, Stahl, sogar Streichhölzer kamen vom Süden, farbige Bänder zum Kopfputz für die Frauen, billige kleine Spiegel und rotes Tuch zum Einfassen von Staatsjacken aus Rentierhaut. Kadlu handelte mit dem kostbaren gewundenen Narwalhorn und Moschusochsenzähnen, die höher im Werte stehen als Perlen. Seine Abnehmer waren die Innuits des Südens, und diese wieder handelten mit den Walfischfängern und Missionsstationen von Exeter- und Cumberlandsund. So greift die Kette ineinander, und wohl denkbar wäre es, daß ein Schiffskoch in Bhendy-Basar sich einen Wasserkessel erstände, der dann seine Laufbahn über einer blakenden Tranlampe irgendwo jenseits des Polarkreises beendet.

      Kadlu war ein großer Jäger und reich an Eisenharpunen, Schneemessern, Vogelpfeifen und all den Dingen, die das Leben da droben in den gewaltigen Kälten erleichtern. Er war das Haupt seines Stammes oder, wie sie dort sagen, »Der Mann, der alles aus Erfahrung kennt«; das aber gab ihm weiter keine Autorität, außer daß er mitunter seinen Genossen raten konnte, ihre Jagdgründe zu verlegen. Kotuko jedoch benutzte gern die Stellung des Vaters, um in der fetten, faulen Innuitart über die anderen Knaben zu herrschen, wenn sie sich nachts im Mondlicht zusammenfanden, um Ball zu spielen oder ihre Kinderlieder dem Nordlicht vorzusingen.

      Ein Innuit fühlt sich mit dem vierzehnten Jahr seines Lebens als Mann; und Kotuko hatte es gründlich satt, immer nur Schlingen für Wildhühner und Blaufüchse anzufertigen oder – was ihm noch mehr zuwider war – mit den Frauen tagaus, tagein Seehunds- und Rentierhäute zu kauen, um sie geschmeidig zu machen, während draußen die Männer jagten. Es zog ihn in das Quaggi, das Singhaus, allwo die Männer zusammenkamen zu ihren Mysterien und der Angekok (der Zauberer) sie in höchst angenehmen Gruselzustand versetzte, wenn er die Lampe gelöscht hatte und sie dann das gespenstische Ren auf dem Dache herumtappen hörten; oder wenn der Angekok einen Speer in die gähnende schwarze Nacht hinausschleuderte, der dann aus dem Nichts mit blutdampfender Spitze zurückgeflogen kam. Gern hätte er mit der großartig müden Geste des Familienhaupts seine dicken Stiefel ins Netz geworfen; gern wäre er dabei gewesen, wenn die Jäger sich abends zusammenfanden und eine Art hausgemachtes Roulette spielten, hergestellt aus einem Blechtopf und einem Nagel. Hunderterlei hätte er gern getan, aber die Männer lachten über ihn und sagten: »Warte, Kotuko, bis du einmal die Hunde geführt hast. Jagen allein macht noch nicht den Fang.«

      Nun aber hatte ihm der Vater einen jungen Rüden zugesprochen, und die Dinge standen für ihn hoffnungsvoller. Kein Innuit verschwendet einen guten Hund an seinen Sohn, bis der Knabe etwas vom Hundefahren versteht; Kotuko aber war überzeugt, daß er alles und noch viel mehr verstünde.

      Hätte der junge Hund nicht eine eiserne Konstitution gehabt, so wäre er bald an Überfütterung und allzu rauher Behandlung eingegangen. Kotuko machte ihm ein kleines Geschirr mit einer Leine daran und trieb und hetzte ihn durch den Hausgang mit den Rufen: »aua! ja aua!« (Gehe rechts!) »Choi-achoi! Ja choi-achoi!« (Gehe links!) »Ohaha!« (Halt!) Der junge Rüde schätzte das sehr wenig, doch war das alles nur Kinderspiel gegen das erste Einspannen vor den richtigen Schlitten. Nichts Böses ahnend, setzte er sich in den Schnee und spielte mit der Trosse aus Seehundshaut, die sein Geschirr mit dem Pitu, dem schweren Leitseil am vorderen Ende des Schlittens, verband. Die Meute zog an, und der schwere, zehn Fuß lange Schlitten ging über ihn hinweg und zerrte ihn hinter sich her, wobei Kotuko lachte, daß ihm die Tränen über die Backen liefen. Dann kam Tag für Tag die grausame Peitsche an die Reihe, die zischt und pfeift wie der Nordwind über dem Eis, die anderen Schlittenhunde bissen und schnappten nach ihm, weil er sich auf die Arbeit noch nicht verstand, das harte Geschirr scheuerte ihn wund, auch durfte er nicht mehr mit Kotuko schlafen und mußte sich mit dem kältesten Platz im Hausgang begnügen – wahrlich eine harte Lehrzeit für den jungen Hund.

      Der Knabe lernte ebenso schnell wie der Rüde, obwohl es herzbrechend schwer ist, einen Hundeschlitten zu lenken. Jedes Tier, das schwächste dem Lenker zunächst, wird angeschirrt mit einer besonderen Leine, die unter dem linken Vorderlauf durchführend nach der Hauptleine läuft, an der sie mit einer Art Knopf oder Schlinge befestigt ist. Von da kann sie mit einer Drehung des Handgelenks losgestreift werden, wenn der einzelne Hund frei gemacht werden soll. Das ist oft notwendig, weil dem jungen Hunde leicht die Halteleine zwischen die Hinterläufe gerät und dann bis auf den Knochen einschneidet. Alle aber, wie sie da sind, wollen durchaus beim Laufen ihren näheren Freunden einen Besuch abstatten und springen dabei ein und aus zwischen den Leinen. Dann geht ein Gebalge los, und das Ergebnis ist ein Verheddern, schlimmer als nasse Fischleinen am Morgen nach dem Fang. Viel Unheil wird vermieden durch weisen Gebrauch der langen Peitsche, und es ist der Stolz jedes Innuitjungen, Meister in deren Handhabung zu sein. Leicht ist es wohl, ein festes Ziel am Boden zu treffen, aber äußerst schwer ist es, bei voller Fahrt des Schlittens einem der Hunde, der seinen Platz verlassen will, genau zwischen den Schultern eins zu versetzen. Straft man einen Hund wegen Ungehorsams und trifft aus Versehen mit der Peitsche einen anderen, dann fallen die beiden sofort übereinander her, und alle anderen müssen halten. Fährt man zum Beispiel allein und singt sich eins zum Zeitvertreib oder hat einen Freund neben sich und unterhält sich mit ihm, so halten die Hunde plötzlich, drehen sich um und setzen sich, um zu hören, was da gesprochen wird. Mehrmals waren Kotuko die Hunde davongegangen, weil er vergessen hatte, beim Halten den Schlitten anzublocken; manche Peitsche zerbrach er, zerriß eine Anzahl Riemen, bevor man ihm ein volles Gespann von acht Hunden mit dem leichten Schlitten anvertrauen konnte. Dann aber fühlte er sich als ein Mann von Bedeutung. Mit kühlem Herzen und ruhiger Hand glitt er über die dunklen Eisflächen dahin, schnell wie eine Meute in vollem Geläut. Zehn Meilen weit stürmte er dahin bis zu den Seehundslöchern; auf dem Jagdgrund angelangt, warf er die Leine des großen schwarzen Leithundes, des klügsten im Gespann, von dem Pitu los. Sobald der Hund ein Atemloch im Eis witterte, stürzte Kotuko den Schlitten um und trieb ein gekapptes Geweih in den Schnee, um daran das Gespann zu verankern. Dann kroch er Zoll um Zoll an das Luftloch heran und lauerte, bis der Seehund zum Atemholen aufstieg; rasch stieß er den Speer mit der Laufleine daran in die Tiefe und zog wenig später den Seehund zur Eiskante hinauf; dort stand der Leithund bereit und half, den toten Körper über das Eis nach dem Schlitten zu schleppen. Die angeschirrten Hunde begannen nun vor Aufregung zu heulen und zu schäumen; aber Kotuko brachte sie mit einem rotheißen Peitschenhieb quer über die Schnauzen zur Ruhe und wartete, bis der tote Körper des Seehunds steif gefroren war. Schwere Arbeit war die Heimfahrt. Der beladene Schlitten mußte mühsam über das holprige Eis bugsiert werden, die Hunde aber, anstatt zu ziehen, setzten sich alle Augenblicke nieder und blickten hungrig nach dem Seehund hin. Endlich aber kamen sie auf den ausgefahrenen Schlittenpfad, der nach dem Dorfe führte, und zockelten, die Köpfe gesenkt, die Ruten hochgerichtet,


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