Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze
Nachmittag anfangen? Wenn Robert erschienen wäre, hätten wir sicher noch eine Menge zu erledigen gehabt. Die Verabredung mit den Ungarn morgen früh musste auf jeden Fall noch wahrgenommen werden, damit sie nicht etwa in Berlin anriefen und fragten, wo ich denn bliebe.
Das würde bis Mittag dauern, mindestens. Anschließend von ihnen wegzukommen, würde gar nicht so einfach sein. Dafür musste ich mir noch eine glaubhafte Begründung ausdenken. Mit Roberts Auto müssten wir es über Györ bis nach Hegyeshalom schaffen, um gegen sieben Uhr abends die Leute zu treffen, die mich über den Grenzübergang Nickelsdorf nach Österreich hineinbringen sollten.
Wenn alles wie geplant klappte, wollten Robert und ich uns in der Nähe von Lutha wieder vereinen, um gemeinsam über die Wiener Autobahn an Linz und Salzburg vorbei nach München durchzufahren.
Die Österreichischen Behörden waren uns in der Frage der Auslieferung zu unsicher, deshalb hatten wir uns geeinigt, keine Zeit zu verlieren und möglichst schnell nach Bayern zu gelangen. Beim Fahren konnten wir uns abwechseln, Aufenthalte waren keine vorgesehen.
Eine Panne oder etwas Ähnliches durfte uns nicht passieren. Auch das Geld und die richtigen Papiere mussten auf dem Weg nach Hegyeshalom versteckt werden.
Da Robert heute nicht erschienen war, stand wohl bereits einiges in Frage von unseren Plänen. Demnach musste ich morgen mit den Ungarn unbedingt bis Mittag fertig werden, um es bis ein Uhr noch ins Astoria zu schaffen. Meine Eile würde sie sicher verwundern, wenn nicht sogar verärgern, da sie sich stets einiges für meine Betreuung einfallen ließen, was sie bestimmt auch dieses Mal getan hatten. Hoffentlich fiel mir bis dahin noch eine plausible Erklärung ein.
Was aber würde passieren, wenn Robert zu spät am Nachmittag eintraf? Würden wir es dann noch bis zur vereinbarten Zeit packen? Zwar ist die Europastraße 4 eine gute Straße und die Entfernung betrug nur einhundertsiebzig Kilometer. Eine Autobahn ist sie jedoch nicht, und ein gutes Vorwärtskommen war sehr vom Verkehr abhängig.
Würden die österreichischen Bekannten, falls wir sie morgen verpassten, am darauffolgenden Tag nochmals Anlauf nehmen? Und würde das nicht die Aufmerksamkeit der Organe erregen? Robert hatte die Zuverlässigkeit seiner Gewährsleute sehr gelobt. Dennoch konnte eine Menge schiefgehen bei unserem Unternehmen und jede Stunde, die ich hier sitzenblieb, war eine zuviel.
Ich beschloss schließlich, den Gellertberg hinaufzusteigen und den restlichen Nachmittag an der Zitadelle zu verbringen.
Wenn man den sorgfältig kleingepflasterten Zickzackweg zu diesem mächtigen Bauwerk erklimmt, breitet sich zunehmend das imponierende Panorama der Donaustadt unter einem aus. Da sieht man erst richtig, was das für eine stolze Metropole ist.
Und dann bist du endlich oben, umwanderst den Wall und saugst den Rundblick in dich ein, willst ihn nie mehr vergessen. Weit dehnt sich der ‚Blick rechts und links des Stromes bis in den Dunst der Vorstädte hinein. Die Freiheitsstatue hält ihren Palmenzweig, den Friedenszweig, gen Osten!
Symbolik der Erbauer für spätere Zeiten?
Im Osten geht die Sonne auf! Was wird mit dem Abendland?
Es haben sich die Zeiten geändert seit der Befreiung dieser Stadt von der Naziherrschaft am 13. Februar 1945, dem Tag, als eine andere europäische Kulturmetropole völlig zerbombt wurde.
Besonders schön wird es hier oben, wenn die Nacht hereinbricht und die Stadt ihre Lichter anzündet. Von den Budaer Bergen über den breiten Donaustrom mit seinen vielen illuminierten Brücken, die die Hügelstadt mit der Wiesenstadt verbinden, von den Pester Stadtvierteln bis hinunter zur Czebel-Halbinsel glitzert und blinkt das nächtliche Leben empor.
Bis zum Abend war noch Zeit. Der Hunger meldete sich wieder. Ich ging ins Restaurant, um erst einmal richtig zu essen. Die Bewirtung war gut. Eine Zigeunerkapelle spielte. Ich trank zwei Schoppen Roten zum umfangreichen und umständlich servierten Zigeunersteak. Ich geriet in Stimmung. Der Ärger und die Spannung darüber, dass es mit unserem Rendezvous nicht geklappt hatte, waren mit einem Mal wie weggeblasen. Ich bekam Lust, noch eines meiner kleinen Spiele zu spielen, draußen auf den Anlagen, und dann den Bus zu nehmen und in mein Hotel zu fahren.
Ich zahlte und ging hinaus. Ich suchte mir eine, die in Frage kam und folgte ihr möglichst unauffällig, so lange es irgend ging.
In der Touristenmenge war es leicht, eine zu finden. Sie war allein. Das heißt, sie hatte keinen männlichen Begleiter, nur eine Freundin. Das macht die Sache meist wesentlich leichter.
Männer, die gute Frauen zur Seite haben, sind stets etwas misstrauisch gegenüber ihrer Umgebung. Schon deshalb, weil sie ständig die Wirkung ihrer Schönen auf die Umwelt überprüfen müssen, womit sie sich anscheinend die Erfolgserlebnisse verschaffen, die sie so dringend benötigen wie du und ich auch. Das steckt noch so drin aus Urzeiten, dass im Geiste andauernd das Revier abgesteckt wird.
Allerdings kannst du daraus ersehen, dass dieses Verhältnis noch an seinem Anfang ist oder jedenfalls im Stadium des gegenseitigen Interesses. Später werden die Männer in der Regel schlapp, und sie wenden sich anderen Interessensgebieten zu. Sie beginnen, ihre immer noch attraktiven Frauen zu vernachlässigen und verlieren sie dadurch allmählich aus dem Auge.
Dann hast du gute Chancen, noch ein anderes Spiel zu spielen, eines für Erwachsene.
Ich machte mein harmloseres, und wir stiegen am Ende fast gleichzeitig in den Bus. Sie in ihren, ich in meinen, der mich über die Villànyi und die Alkotás zurück zum Varosmajor-Park brachte. Von da aus schlenderte ich gemächlich bis zu meinem Hotel, das ich gegen halb sieben abends wieder betrat.
Ich fuhr sofort hoch in mein Zimmer. Mir war plötzlich klar, dass ich heute nicht wieder in die Ringbar gehen würde, um diese Susza zu treffen, obwohl ich wirklich gerne gewusst hätte, wie es mit uns beiden ging.
Aber jetzt bewegten mich mit einem Mal ganz andere Gedanken, mit denen ich irgendwie erst ins Reine kommen wollte. Ich musste an Lothar denken und seltsamerweise auch an Helga. Ein bisschen auch an Barbara. Offensichtlich musste ich mir wohl allmählich eingestehen, dass der vor mir liegende Schritt schwieriger war, als ich es bisher hatte wahrnehmen wollen. Weshalb begann ich nun wieder, viel zu spät, an der Richtigkeit meiner Entscheidung zu zweifeln? Hatte ich nicht lange genug gezögert? War ich nicht mehrmals völlig am Ende gewesen und wäre am liebsten manchen Tag sofort aufgestanden, wenn dies nur möglich gewesen wäre?
Was war eigentlich los mit mir?
Seit meiner Entscheidung war nun fast ein halbes Jahr vergangen. Einmal musste der Sprung gewagt werden, sonst würde das zermürbende Hin und Her nie ein Ende haben.
Ich sollte mal ausschlafen, dachte ich.
Ich duschte und legte mich aufs Bett. Die gedämpften Geräusche des Hauses hüllten mich ein. Ich starrte gegen die Decke und war bemüht, einzuschlafen. Aber es ging nicht. Mir kam jene Begegnung mit Freund Thomas vom Frühjahr in den Sinn, die kurz nachdem Vater gestorben war, und wir mit Robert den Plan geschmiedet hatten, stattgefunden hatte.
Damals hatte ich versucht, für mich eine neue Basis zu finden, eine Orientierung, auf die ich mein weiteres Leben hätte gründen können. Ich fand, dass ich mich redlich bemüht hatte, aus jener Misere, in die ich geraten war, herauszufinden. War sie nun das Ergebnis meines eigenen Handelns oder der konkreten Lage, in der sich untere sozialistische DDR-Gesellschaft mittlerweile befand? Ich wusste keine Antwort.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein! Oder was hatte mich dazu gebracht, meinem sozialistischen Vaterland mit dem lächerlichen Kürzel als Namen, diesem ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat, dem realen Sozialismus, den Rücken kehren zu wollen?
5. Kapitel
1.
Wir saßen im backsteinroten Hotel „Zur Lausche“ in Waltersdorf im Zittauer Gebirge, unten im Restaurant. Allmählich kannte man mich da.
Es war ein Freitag im Mai 1982.
Erst am Tag vorher hatte ich mich, von einer andauernden Unruhe getrieben, zu