Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze
Küssen auf das schrumpelige Menschenbündel floh er in der darauffolgenden Nacht mit dem geliehenen Fahrrad seines Stammtischbruders und Lugauer Hilfskantors Böhler in Richtung Chemnitz, wo er es pflichtbewusst bei der Frau eines sich ebenfalls im Endkampf befindlichen Arbeitskollegen unterstellte.
Das Fahrrad wurde später zurückgegeben.
Karl Wauer schlug sich weiter erfolgreich bis Torgau durch, wo er am 15. April abends eintraf. Hier wartete er gemä seines Marschbefehls auf seine Einheit, die nicht kommen konnte, weil sie in den Kämpfen um die Seelower Höhen fast völlig aufgerieben worden war. Die spärlichen Reste, die es geschafft hatten, sich bis nach Teupitz zu retten, wurden in der dortigen Waldschlacht vernichtet oder in alle Winde verstreut.
Wauer schloss sich in Torgau einem Oberst der Artillerie an, der die Brücke über die Elbe mit einigen seiner Leute und einem Kommando der Militärpolizei für die Flüchtlingsströme freizuhalten suchte. Übrigens gelang es nicht, alle zurückflutenden Truppenteile, die ihrerseits so schnell wie möglich zu den Amerikanern wollten, davon abzuhalten. Wauer selbst spielte mehrmals mit dem Gedanken, sich auch abzusetzen.
Aber es waren Gerüchte durchgedrungen, dass die Russen bei der Schlacht um Berlin ungeheure Verluste erlitten hatten. So beschloss er, lieber noch einige Tage zu warten, um von Mosig vielleicht doch noch irgendein Lebenszeichen zu erhalten.
Er wartete vergeblich.
Denn Russen und Amerikaner einigten sich inzwischen über den vorläufigen Verlauf der Demarkationslinie. Am 1. Mai nachts war plötzlich die Brücke zu. Die Amis hatten sie dicht gemacht. Viele versuchten es noch über den Strom hinweg, überwiegend erfolglos. Die meisten ertranken.
Am 2. Mai kam der Russe, und Karl Wauer wurde als Kriegsfangener der Roten Armee interniert. Dadurch erhielt er die Möglichkeit, den Weg des deutschen Rückzuges, der vordem ein siegreicher Vormarsch gewesen war, in einer Art doppelter Negation wieder zu seinem ehemaligen Zielpunkt zurückzuverfolgen.
Es sollten fast fünf Jahre vergehen, bis er, als einer der Überlebenden heimkehrend, die Oder abermals in Richtung Deutschland überschritt.
3. Kapitel
1.
Als ich das Licht der Welt erblickte, schneite es, obzwar oder wohl eher, weil es April war.
Vom naheliegenden Kirchlein läutete das einzige Glöckchen zur Taufe eines unlängst geborenen Mitmenschen, der mir bis heute leider unbekannt geblieben ist. Denn es war Sonntag, nachmittags um zwei.
Laut Schwangerschaftskalender hätte ich erst fünf Tage später zur Welt kommen dürfen. Aber das wäre dann Freitag, der 13. April 1945 geworden. Da bin ich denn doch lieber ein Sonntagskind, wenn auch ein voreiliges. Auch so war ja die Welt damals unerfreulich genug.
Mutter hatte sich seit der vergangenen Nacht ziemlich abgeplagt mit mir. Auch Dr. Krause, unser Familienarzt, und Frau Katzer, die Hebamme, hatten sich alle erdenkliche Mühe gegeben, mir den Eintritt ins Erdenleben zu ermöglichen. Denn am Tag vorher hatte sich Mutter, wie das Hochschwangere anscheinend besonders gern tun, einfach etwas übernommen mit den tausend Hausfrauenpflichten, die DAVOR noch unbedingt zu erledigen sind, so dass es deswegen in der Nacht losgegangen war.
Vierzehn Stunden Geburt sind eine im Grunde übermenschliche Leistung. Mutter war deshalb froh, als es endlich vorbei war. Ich erschien mit zweifach um den Hals geschlungener Nabelschnur und begann dennoch zu leben.
So glücklich ich bin, dass ich das Erdenreich an einem Sonntag betreten durfte, weiß ich also, dass die Initiative dazu nicht von mir aus ging. Vielmehr wurde ich gewaltsam aus dem schützenden Schoss herausgedrängt, wie alle Menschen vor mir, weil die Anstrengung, solch eine reife Frucht mit sich herumzuschleppen, auch einer erwartungsfroh liebenden Mutter nicht länger als von Gott verordnet zugemutet werden kann.
Es wurde berichtet, dass wir beide, Mutter während, ich dagegen nach der Geburt, kräftig geschrien hätten. Das finde ich beruhigend. Ich meine, dass ich gleich von Anfang an mit meiner Mutter so prinzipiell übereinstimmte.
An den kurzen Besuch meines Vaters am Tage nach meiner Geburt, der ihm ohne Frage viel bedeutete, erinnere ich mich nicht mehr. So etwas können dagegen die Leute aus den Geschichten von Günter Grass, was ich großartig finde. Allerdings verdanke ich diesem Besuch höchstwahrscheinlich meinen Namen. Weder Mutter noch Vater haben mir jedoch jemals erklärt, welche Gründe sie bewogen, mir diesen berühmten Namen zu verleihen. So bin ich nur auf Vermutungen angewiesen.
Einerseits war mein Vater eingefleischter Lutheraner. Martin Luther war für ihn ein Banner. Er bedeutete für ihn mehr, als für die Katholiken der Papst.
Am 4. April 1968 wurde dieser Name noch einmal sehr populär, weil der schwarze Referend Martin Luther King in Memphis ermordet wurde. Heute freuen wir uns auf den 500. Geburtstag des Augustinermönches, der in unserem Land voraussichtlich ganz groß gefeiert werden wird; unter Führung der Repräsentanten der Partei der Arbeiterklasse versteht sich.
Aber dies konnte es ja damals nicht sein. Schon eher die Tatsache, dass der Vater meines Vaters Martin geheißen hatte. Vater stand auf Sippe, hatte auf diesem Gebiet etwas geforscht und einen ansehnlichen Stammbaum zusammenbekommen. Großvater väterlicherseits war übrigens Apotheker, der von Mutters Linie Lehrer. Ich weiß nicht, ob ich auf eine solche Mischung stolz sein muss. Die Erbanlagen sollen in der Regel immer eine Generation überspringen. Man sagt, dass ich Mutters Vater ähnlich sehe. Immerhin wäre es doch ein schönes Alibi hinsichtlich meiner Entwicklungsanlagen und für einen anständigen IQ. Den Rest, das habe ich mittlerweile gelernt, darf ich ruhigen Gewissens auf meine Umwelt schieben. Du siehst, ich kann wirklich nichts dafür...
Was meine frühe Kindheit anbetrifft, bin ich nicht sicher, ob ich mich an bestimmte Geschichten selber erinnere, ob ich sie aus den Tagebuchaufzeichnungen meiner Mutter kenne oder ob sie nur von ihren Erzählungen herrühren, die sie oft, voller dichterischer Freude und Übertreibungslust, dem näheren und ferneren Bekanntenkreis auftischte. Natürlich war ich irgendwie großartig und ein ganz besonderes Kind. Welche Mutter möchte bei ihrem Kind an dieser Tatsache zweifeln?
Es ist allerdings wichtig festzustellen, dass es sich bei mir um eine schöne Kindheit handelte. Trotz oder vielleicht gerade wegen des täglichen Kampfes um ein bisschen Essen und Anzuziehen. Was waren wir damals glücklich über Kleinigkeiten!
Und wir lernten früh, uns selbst zu kümmern, lernten, dass es ohne Mühe nichts gab auf dieser Welt. Wie trist ist es doch dagegen heute oft, nachdem dafür gesorgt wurde, dass alle Maßstäbe verloren gegangen sind.
2.
Das Vaterhaus war zweistöckig, mit ausgebautem Boden wegen der Flüchtlinge, die bis 1952 bei uns wohnten. Es war gelb abgeputzt, wie viele dieser Bergarbeiterhäuser im westerzgebirgischen Steinkohlegebiet. An einigen Stellen bröckelte der Putz, aber sonst war es stabil.
Zum Haus gehörte noch ein massiver Schuppen, der die gleiche Farbe hatte. Der Hof, in welchem ein sehr hoher Apfelbaum stand, wurde nach hinten von der Hecke des angrenzenden Friedhofs geschützt und an der Seite, wo der Hundezwinger stand, von einem mannshohen Bretterzaun mit Tor. Nach vorn, der Straße zu, gab es einen großen Garten mit Wiesen, Obstbäumen und ganzen Rabatten von Haselnusssträuchern.
Im Erdgeschoss wohnten Leute, an die ich mich nicht weiter erinnere.
Wir wohnten im Obergeschoss.
Am besten besinne ich mich auf die große Wohnküche mit dem gewaltigen, gesetzten weißen Kachelherd, der einen Sims voller Töpfe und irdener Behältnisse, einen eingebauten Heißwasserbehälter, der ständig gelötet werden musste, und eine tiefe Backröhre besaß, die mir lange Zeit eine Art verwunderter Ehrfurcht einflösste, wegen der erstaunlichen Verwandlungen, die oftmals in ihrer Gluthitze stattfanden. Weiter enthielt unsere Küche eine blau lackierte Eckbank mit Tisch, auf und unter der sich nach meiner heutigen Erinnerung ein wichtiger Teil meiner Kindheit abspielte.
Ein riesiger