Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze
Budapester Projektanten bestand schon mehrere Jahre und wurde von mir besonders gepflegt. Da nahm es mir eine kleine Freundin ohne weiteres ab. Für so etwas hatte er Verständnis. Ab und zu servierte ich ihm eine nette Geschichte, worüber er sich freute.
Flug und Unterkunft waren deshalb billig für mich, da sie der Betrieb bezahlte.
Natürlich war ich auf dem Flughafen in Schönefeld nervös gewesen, weil ich Sorge hatte, dass der Zoll meine unerlaubten Devisen entdecken könnte.
Es wäre das erste Mal gewesen, dass sie sich die dicken Bündel Projektierungsunterlagen näher angesehen hätten, zu deren Mitnahme ich entsprechend meinen Reiseunterlagen berechtigt war. Ein besseres Versteck war mir leider nicht eingefallen. Es ging immerhin um fünftausend D-Mark.
Die DDR-deutschen Zöllner waren korrekt und freundlich gewesen, ebenso die Ungarn bei der Einreise. Im Grunde fand ich die Kontrolle ziemlich lax. Wieso war man sich so sicher, dass es bei uns keine Terrorüberfälle auf Flugzeuge gab?
Ich trug mein gesamtes Barvermögen bei mir. Den größten Teil hatte ich verbraucht, um bei Bekannten nach und nach unsere Binnenwährung in die frei konvertierbare umzusetzen. Dabei machte ich die Erfahrung, dass Westgeld immer teurer wurde. Ökonomisch hatte ich also alle Brücken abgebrochen. Alle wertvolleren Dinge waren verkauft. Nur die Möbel standen noch in der Wohnung an der Warschauer Straße. Sie waren nicht allzuviel wert. Einiges Porzellan hatte ich in einem großen Karton auf den Dachboden von Mutters Häuschen gebracht.
Ich würde ihr schreiben, wie er zu finden war.
Die erste Hürde war genommen, denn ich lag hier in einem Hotelzimmer in Budapest nach einer mehr oder weniger sinnvoll verbrachten Nacht. Musste ich sie bereuen?
Schließlich war ich in den letzten Wochen wegen der notwendigen Reisevorbereitungen und auch durch verschiedene Aufregungen im Betrieb im Zusammenhang mit der kritischen Phase, in der wir uns gerade befanden, zur Abstinenz verurteilt gewesen.
Mit Komplikationen wegen dieser Susza brauchte ich wohl nicht zu rechnen.
Ein Uhr mittags sollte es soweit sein. In vier Stunden würde ich wissen, ob Robert es wirklich geschafft hatte. Wir wollten uns im Hotel Astoria an der Rakoczi ut treffen. Vorausgesetzt, dass er den österreichischen Pass für mich hatte und damit heil nach Ungarn hereingekommen war.
Es ist noch immer illegaler Menschenhandel. Obwohl die Deutsche Demokratische Republik lange Mitglied der Vereinten Nationen ist und damit den Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 als originäres Recht für ihre Bürger anerkennen müsste.
Auch die Helsinki-Akte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vom 1. August 1975 war von uns unterschrieben worden. Wir legen aber Wert darauf, dass dieses Dokument von den Seiten „in seinem Zusammenhang angewendet wird“. Das bedeutet für das Individuum, dass es sich eben nicht nach Gutdünken auf einzelne Abschnitte daraus berufen kann, wie zum Beispiel auf Punkt 1 von Korb vier. Wahrscheinlich waren aus diesem Grunde bei der letzten Überarbeitung unserer Verfassung alle Formulierungen zu diesen Grundrechten vorsichtshalber weggelassen worden.
So einfach war die Materie des Sozialistischen Rechts, obwohl es für die Arbeiterklasse gemacht ist, denn doch nicht. Das konnten nur Naivlinge annehmen.
Also musste man sich selbst helfen. Unseren Treff hatten wir sicherheitshalber für die folgenden drei Tage festgelegt. Es stand viel auf dem Spiel für beide. Über meine innere Spannung brauchte ich mich gar nicht zu wundern. Aber mich belasteten die Alpträume der letzten Zeit. Ich war ziemlich mit den Nerven herunter, das stand fest. Doch in meinem Falle konnte kein Psychiater helfen.
Wann waren wir eigentlich in Wielyczka gewesen, Barbara, Lothar und ich? Im Sommer vor dem Jahr, in welchem wir uns trennten, also 1978, vor vier Jahren?
Diese Inkarnation menschlicher Arbeit hatte mich damals stark beeindruckt. Welch ein Denkmal unermüdlichen Fleißes und unbeugsamen ARBEITSWILLENS! Ein Traum in Salz, beinahe ein Alptraum!
Meine Unruhe hatte noch einen anderen Grund. Je näher der Tag heranrückte, desto unsicherer war ich mir, ob ich das Richtige tat.
War ich wirklich fertig mit meiner Vergangenheit? Hatte ich sie schon bewältigt. Gibt es das überhaupt, dass man Vergangenheit BEWÄLTIGT?
Ich stand auf und trank langsam das letzte Glas Sekt aus, welches meine Nachtgefährtin übriggelassen hatte. Es schmeckte lau und fad.
4.
Ich will es am besten gleich vorweg nehmen, damit kein falscher Eindruck aufkommt bei allem, was ich noch zu berichten habe: Das wird keine Beichte, Anklage oder Rechtfertigung. Wir haben heute niemanden mehr, dem wir die Schuld in die Schuhe schieben können, denn wir tun alles auf der Grundlage der einzigen wissenschaftlichen Weltanschauung. Geheimnisvolle Zwänge, unbestimmte Gefühle, zufällige Stimmungen waren nie Grundlage unserer Entscheidungen, oder?
Ich bin schließlich genauso unschuldig wie alle anderen!
Allerdings ist es auch möglich, dass ich ebenso mitschuldig bin wie alle anderen und wie die, die ich noch beschreiben werde. Vielleicht allein deshalb, weil wir nicht manchmal, wenn wir das untrügliche Gefühl hatten, dass es jetzt eigentlich an der Zeit wäre, einfach aufgestanden sind und wenigstens laut SCHEIßE geschrien haben, nur weil wir Angst hatten, ein klein wenig von unseren wohlerworbenen Pfründen zu verlieren.
Kommt mir ja nicht wieder mit den Ausreden, die unsere Väter bereits gebraucht haben: Das hätten sie nicht gewusst und auch nicht ahnen können!
Es gab genügend Propheten im eigenen Lande, die die Zeichen der Zeit sahen und zu deuten wussten! Aber die Woge des Volkswillens hat die Verführer meist gut getragen, wo sie sie hätte verschlingen sollen.
Auch Anita, Barbara und Helga trifft keinerlei Schuld. Was hätten sie gegen mich ausrichten sollen?
Nein, es geht darum, dass ich mich selbst erkenne. So sehr ich mich in der letzten Zeit darum bemühe, so unmöglich scheint es aber auch zu sein.
2. Kapitel
1.
Das Wetter verlief anders, als es der Wetterbericht vorausgesagt hatte.
Dieser späte März war mehr ein April. Den ganzen Tag hatten sich Schnee- und Regenschauer mit gleissendem, die Landschaft in unwirkliche Klarheit tauchendes Sonnenlicht abgewechselt. Und jetzt versank eine blutrote Sonne hinter den Hügeln, auf denen die Stadt lag.
Für Oberleutnant Wauer wirkte sie an diesem Abend beinahe wie ein Symbol. Er dachte zurück an seine Gymnasialzeit, an die säuerlichen Redewendungen seines Studienrates Beierlein aus Plauen, von denen sich viele lange Zeit als geflügelte Worte unter den Kommilitonen gehalten hatten.
„Im Osten geht die Sonne auf, meine Herren, aber im Westen ist ihr Untergang vorbereitet. Das können sie sich merken.“ Das war während der Inflation gewesen. Beierlein war Hobbysinologe und Sozialdemokrat, unter anderem. Niemand liebte ihn recht, weder Schüler noch Lehrerkollegen. Seine Wertskala lag so völlig verschieden zu der der anderen. Man empfand sein Wesen und seine Anschauungen als zu selbstzerstörerisch.
Aber, so musste sich Wauer in der jüngsten Vergangenheit immer wieder sagen, auf eine eigene schmerzvolle Weise schien Beierlein jetzt recht zu behalten. Seit zwei Jahren deutete sich der Untergang der nationalsozialistischen Sonne als große Wahrscheinlichkeit an.
So hatte es der Studienrat allerdings wohl gar nicht gemeint. Ihm ging es mehr um die Chinesen und die „Gelbe Gefahr“, und so sah er den Untergang der Abendländischen Kultur. Aber wurde der Anfang nicht jetzt gemacht, wenn auch zunächst von den Russen?
Der Oberleutnant war auf dem Weg zu seinem Abteilungschef. Der Major wartete sicher schon, dessen war er gewiss.
Am Nachmittag hatte Wauer befehlsmäßig Verbindung mit den Artilleriebeobachtern der ersten