Unter den Bäumen des Himmels. Ludwig Wolf
die Mittagspause erst um vierzehn Uhr endete. Es war nicht viel los in dem Laden, und die Zeit bis achtzehn Uhr zog sich so zäher dahin als ein alter Kaugummi auf sommerheißem Asphalt. Wenn erst einmal alles nachgeteilt, geradegerückt und abgestaubt war, herrschte tote Hose.
Als Hannes um eins vom erfolgreichen Pizzaeinsatz zurückkam, änderte sich die Struktur des Tages erheblich.
„Der Avanzotti will dich nach deiner Mittagspause sehen.“
Zotti war der Geschäftsführer der Firma. Ein sympathischer Typ, der Josef auch eingestellt hatte. Wahrscheinlich ging es um einen neuen Bereich, den er noch dazu übernehmen sollte. Erst vor einem Monat hatte er die Verantwortung für die Befestigungsabteilung bekommen.
„Okay. Ich geh dann jetzt.“
Josef verbrachte die Mittagspause mit einem Käsebrot, einem Hefeweizen in der Dose, zwei Enten, mehreren Fischen und fünfzehn Seiten eines unsäglichen Schundromans auf einer grünen Bank neben einem sehr langsam und deshalb geräuschlos fließenden Bach. Die Qualität solcher Trashliteratur aus den siebziger Jahren bestand größtenteils aus ihrer unverblümt naiven Direktheit, und aus ihrer unbedarften politischen Inkorrektheit. Herrlich! Was an großer Klasse daraus entstehen konnte, hat Quentin Tarantino mit Pulp Fiction wunderbar vorgeführt. In diesem Fall war das Heft ein Vampir Gruselroman. Es trug die Nummer fünfundvierzig und den Titel „Die Blut GmbH“. Die pralle Story des Hefts ließ Josef gutgelaunt an seinen Arbeitsplatz zurückkehren. Bester Dinge ging er zu Avanzotti ins Büro.
„Aufgrund der Geschäftsentwicklung, die für uns nicht erwartungsgemäß verläuft, müssen wir uns leider wieder von Ihnen trennen. Das hat nichts mit Ihnen persönlich oder mit Ihrer Leistung zu tun.“
Diese unerwartet schlechte Nachricht ließ Josef sprachlos im Sessel hocken, die weiteren entschuldigenden Ausführungen Avanzottis registrierte er kaum noch. Nutzten einem sowieso nichts. Warum lief nichts mehr bei ihm? Was sollte er tun, wenn es eh nicht an ihm lag? Konnte es dann nicht auch wenigstens ein anderer für ihn schlucken? Am besten der, an dem es lag? Gut, wenigstens war das hier eine korrekte Sache. Nicht zu vergleichen mit den Reibachs, denen er zuvor auf den süßen Leim gegangen war. Wie ein bescheuerter Vogel auf den geleimten Ast. Als braver Mitarbeiter hatte er am kapitalistisch hinterfotzigen Steckerl gepickt. Immer war alles super gewesen, er Josef, der Beste, beinah schon unentbehrlich gewesen. Dass die Bezahlung nicht adäquat gewesen war, machte ihn nicht misstrauisch, in Österreich war das der Normalfall. In so einem kleinen Land konnte man nur als Millionär reich werden. Die Reibachs hatten diesen Standard schon erreicht, was allein an vier Autos deutlich wurde. Zwei brauchte es anscheinend für die Firma, noch eines für die Frau, obwohl die ohnehin nur in die Firma fuhr, und eines für den Sport. Ferrari Testarossa. Rot. Auch sonst kam nur das beste Bike, der beste Dress, die coolste Sonnenbrille, der allerbeste Radrennschuh wie das ebensolche Laufpatscherl in Frage. Style war alles, die Bräune wurde extra dazukomponiert. Der Werbeaufdruck der eigenen Firma war da nur noch narzisstische Folgelogik. Im Geschäft entblödete sich die Frau nicht, Bohrmaschinen und Schleifscheiben in Ed Hardy Shirts und Sneakers feilzubieten. Wirklich schick. Unvergessliche Bilder, wenn dreckverschmierte Arbeiter in ihren Monturen die schraubende Hardware aus der gepflegten Hand der Chefin entgegennahmen. Sie war eine Lichtgestalt, die jedem Kunden deutlich machte: Du bist nichts, du brauchst mich und nicht umgekehrt ich dich. Ich bin alles, sei froh dass du deine Arbeitsmittel von mir bekommst, sonst wärst du less of job. Es ist schon richtig, dass du mich bezahlen musst und nicht andersrum ich dich. Ich würd´s auch nicht überleben. Du schon. Du musst. Jeden Tag deines beschissenen Daseins musst du es, denn du hast kein Kapital wie ich.
Nach der Weihnachtsfeier hatte Josef zu ahnen begonnen, dass hinter ihrem durchschnittlichen, doch mehr unansehnlichen wie bleichen Aknegesicht, selbstverständlich von getönter Designerbrille geometrisch eingerahmt wie ein sauteurer Mondrian, und von zu dünnen blonden Haaren wie Mia Farrow in Polanskis Hexenzirkel quasi burschikos umhüllt, ein neurotisches Minenfeld lag, das man besser nicht betrat. Die undeutliche Wässrigkeit ihrer graublauen Augen bekam eine dermaßen entsetzt scharfe Wachheit, als er ein Rumpsteak bestellte, und sie stöhnte hörbar in Richtung ihres Mannes, dass man augenblicklich wusste, was sie meinte. „Warum frisst der Scheiß-Lohnempfänger nicht einfach Scheiß-Spaghetti mit Tomatensoße und einem grünen Salat? - Einem kleinen grünen Salat. Weiß denn der Möchtegern nicht, was er uns eh schon das ganze Jahr über kostet? Einfach so? Von Rechts wegen? Steuer, Versicherung, das ganze Pi-Pa-Po in diesem Scheiß-Sozialstaat?“
Dabei hatte Josef das Rumpsteak bestellt, weil es billiger als das Filetsteak war. Und Nudeln konnte er im Restaurant nun mal nicht essen. Denn da konnte er beim Essen nur an die eigenen denken, denn er kochte sie selber weit besser. Al dentiger. Die Soße pfiffiger.
Ihr Mann verriet sich indessen nicht, schwadronierte lieber weiter über seine Ausbildungszeit, wo alle schon schwer unter Druck aber doch irgendwie lustig drauf waren. Einmal hatte sich sogar einer den eigenen Schädel direkt in seinem Büro weggeblasen, weil er dem Druck nicht mehr gewachsen war. Warum er, der Chef, nicht einmal seiner Frau gewachsen war, blieb unerwähnt, schlug ja auch erst ein paar Monate später zu Buche, als Josef auf die gleich hinterfotzige Art vom kapitalistisch klebrigen Süßholzsteckerl gespackt wurde, wie man ihn vorher darauf angepickt hatte. Auf miese Art und mit ebenso miesen Nachwürfen. Das Vorurteil des kleinschwänzigen Sportwagenfahrers erfüllte sich ebenso wie das von der hysterischen Bandbreite, die eine ungefüllte Gebärmutter entwickeln konnte.
„Mach mir bitte die Hündin.“
„Nein! Knie nieder! Ich hole das Halsband.“
Josef sah es jetzt ganz klar. Fruchtlos. Um einige Monate zu spät. Jetzt hockte er schon wieder in einer Kündigungssituation. Aber die war anders gelagert. Eine größere Firma, der Personalchef so auch nur ein Angestellter, der marktkonform agierte. Freundlich agierte. Angeblich agierte. Im Grunde war das alles nur noch beschissener. Da hatte man überhaupt keinen Angriffspunkt mehr, keinen wirklich Schuldigen, nur mehr Watte rundherum. Scheiß-Geld, das man nicht mehr angreifen konnte, das einen zudeckte, erstickte. War das eigentlich noch anständiges Büttenpapier, auf dem sich die grafischen Linien und Schnörkel in diversen Sicherheitsmerkmalen darboten? Seit es diese Währung aus Toren und Brücken gab wurde man den Eindruck nicht los, dass das nur eine schrottige Übergangslösung war. Eine Abzocke zwischendurch, bis zum nächsten Schritt, zur digital kontrollierten Kapitalabsaugung. Von Geburt an am Tropf der Gönner hängen, per Fingerprint verhaftet zur lebenslangen Rückzahlung der ungewollten Fütterung. Bis man die Schlapfen an den Überboden spackte, die Kosten der letzten Kiste auch noch an die Gönner überwiesen wurden. Von der nächsten Generation. No way out. Hope I gonna die, before I get old.
Josef sagte: „Das ist sehr schade. Sollten sich die Dinge wieder besser entwickeln, dann denken Sie bitte an mich.“
Es war erstaunlich, wie viele Gedanken einem in einer so kurzen Zeit der Redepause durch den Kopf schießen konnten.
Avanzotti nickte.
Und Josef verließ das Büro.
(1)
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen.“
„Gehen wir es wieder einmal an?“
„Scheiss Wetter.“
„Ja.“
„Ist normal.“
„So ist es wenigstens nicht um die Zeit schade.“
„Das nicht.“
„Ja, klar.“
„Ist ja schon das ganze Monat schon so beschissen.“
„Ja.“
2. Freizeit ist Freiheit?
Spüren
Der Lawinenstrich war bretthart. Der harte Harsch in sich verschmolzener Eis- und Schneekristalle bot überhaupt keinen Halt, das Gelände war ein einziger Abgrund, hunderte Meter tief, ein Gefälle dessen Prozentwert man sich gar nicht vorstellen