Liebe, die auf Trümmern wächst. Maxi Hill
benutzte den heiligen Fluss als Sinnbild für Unwiederbringliches.
»Hier wohnt schließlich jetzt der Chef von den Focke-Wulf-Flugzeugwerken, draußen am Flugplatz. Weißt du, wo die FW190 montiert wird. Das ist ein Jagdflugzeug und Aufklärer für die Luftwaffe,... «
Seine Erklärung rührte Ilse nicht, das hatte er vermutlich aus ihren Augen lesen können oder wer weiß woher. Wohl deshalb fügte er vermutlich noch eine leidenschaftliche Verteidigung an: »Leuten mit so kriegswichtigen Aufgaben kann man nicht irgendeine Kaschemme anbieten…«
Hinter ihrer Stirn machte es klick. Sie musste schnell wieder gehen, durfte sich nicht zu lange allein mit dem jungen Herrn unterhalten. Was würde Mutter dazu sagen, oder gar Max? Was sollte man überhaupt von ihr denken?
Bevor sie das sagte, war er nach vorn gesprungen und hatte bereits die Tür zu einem der Räume geöffnet. Dabei war ihr aufgefallen, dass er leicht hinkte, nicht offensichtlich, vermutlich nur, wenn er einen Schmerz wahrnahm, aber seine Umwelt nicht.
Der Salon, wie Werner ihn nannte, war in jenem hellen Beige gehalten wie der Grundton des Marmors in der Vorhalle. Man spürte viel Geschmack und viel Geld hinter den Dingen. Mitten im Raum eine Polstergruppe aus feinstem Leder, mit Kissen bestückt. Die Accessoires des Raumes passten sich trefflich dem edlen Marmor an, aus dem auch der Tisch in der Mitte des Raumes bestand. Auch den Kamin zierte eine Kante aus farbigen Steinen. An der Wand links der Tür standen halbhohe Schränke mit Leuchtern. Zwischen den hohen Fenstern streckten sich schmale Vitrinen gefüllt mit Nippes und Büchern..
Vermutlich fühlte sie, dass er sie beobachtete, und wie er seine Augen auf ihren Nacken, auf ihren weißen Hals gerichtet hat. Beinahe wollte er seine Hand auf ihre Schulter legen, mehr noch, seine Lippen auf ihre Haut pressen, und wäre es nur die Haut ihrer Hände. Jeder andere Mann hätte es angesichts ihrer Verzückung genau so probiert, in genau dieser Reihenfolge. Und jeder andere hätte Worte hingehaucht, die eine Dienstbotin im Leben noch nie gehört hat.
Mit leiser Stimme sagte sie: »Ich habe noch andere Aufträge zu… Ich meine, ich sollte jetzt gehen.«
Er wird sie nicht aufhalten dürfen, ohne später gescholten zu werden.
»Ich kann dir das Zeug nicht … ich meine, unsere Haushälterin ist auch noch nicht zurück.«
Das war nicht gelogen. Wer ein solches Haus besitzt, ist nicht nur reich an Mitteln, der hat auch Personal. Leider ist das im Moment einzig verfügbare Personal nicht so reich an Verführungskünsten, wie es — verflixt — viel besser wäre. Dafür war Werner Kaluza, wie er glaubte, offen für Inspirationen und Einfälle. Ihm war zwar beides nicht direkt in die Wiege gelegt worden. Im Gegenteil. Er weiß nicht einmal so genau, wo seine Wiege stand. Er weiß nur eines, seine Eltern sind zu Beginn des Krieges spurlos verschwunden. Man sagte hinter vorgehaltener Hand, sie seien umgekommen, und das habe damit zu tun, dass sie gegen etwas oder jemanden aufsässig geworden waren. Mehr konnte er aus den heimlichen Gesprächen, die andere Menschen führten, nicht heraushören. Seit fünf Jahren lebte er in diesem Haus in Einsamkeit. Hätte die Familie einen Sohn, es wäre vermutlich nicht weniger einsam für ihn. Ein solcher aber würde niemals mit einem Vortrag über Wohnqualität für eine Dienstbotin seinem Status Rechnung tragen wollen. Welcher junge Herr hatte das nötig? Warum begriff sie das nicht?
Ilse spürte das Unbehagen in Werner, deutete es aber gründlich falsch. Sie war bestrebt, ihre Starre zu überwinden. Junge Herrschaften waren unberechenbar. Dafür gab es genug Belege.
Abrupt drehte sie sich auf den Fersen um und griff hastig nach ihren Kartons, die Werner auf den Absatz am Geländer gelegt hatte.
Ehe sie konsequent werden konnte, kam, was sie befürchtet hatte. Er packte sie bei den Schultern, dass sie zu Tode erschrak. Sein Gesicht war jetzt direkt vor ihrem und seine Augen schienen sie zu durchbohren.
»Ich heiße Werner, bin der Hausbursche und wohne im Souterrain.«
Ilse glaubte, sie konnte Minuten lang keinen Muskel rühren. Als die Starre sie letztlich doch noch verließ, sagte sie endlich in ihrer kessen Art, die sofort abrufbar war, als sie sich unter Gleichen wusste: »Das will ich sehen.«
Dieses Souterrain war kein Verlies, in das man jemanden abschob, der es nicht anders verdient hatte. Aber auch kein Versteck wie das von Max.
Werners Bleibe war ein solides Zimmer mit Kanonenofen und Wasserhahn nebst Ausgussbecken. Mehr brauche er nicht, beteuerte er. Gutes Essen bekomme er schließlich auch.
Und dann erzählte er, dass er bald neunzehn werde und dass er seit November '44 beim Volkssturm wichtige Aufgaben erfülle. Sein Vormund habe es damals sofort für ihn «eingefädelt». Man wollte, dass er ein nützlicher und zuverlässiger Volksgenosse werde.
Ilses Achseln zuckten nichtssagend. Nicht anerkennend, nicht ablehnend. Dennoch war sie entschlossen, endlich zu gehen. Als er sie zwischen Tür und Angel fragte, ob sie ihm böse sei, dass er nicht gleich bemerkt habe, was sie über ihn geglaubt hatte, wurde sie keck: »Nicht, wenn du mit mir ins Kino gehst. Zu Ilse Werner.«
»Das ist mein Ding«, erwiderte er und hoffte, sie konnte nicht spüren, wie sein Herz in der Brust hämmerte.
Sie verabredeten sich für den kommenden Samstag, sofern der Volkssturm ihn nicht rufe.
Den Karton mit der Bestellung von der Frau des Hauses hatte sie Werner letztlich doch anvertraut. Das heißt, sie hatte ihn ihm aufgeschwatzt, um den Weg nicht noch einmal zurück zu müssen, nachdem sie im Hotel Berliner Hof war, das direkt auf ihrem Heimweg lag. Sie überquerte frohen Mutes die Promenade und tauchte ein in den winterruhigen Park, den sie schon zuvor durchschritten hatte. Jetzt sah sie die Welt ganz anders; nicht mehr so trist und grau. An den Sträuchern unterhalb der Stadtmauer glitzerten weiße Schneebeeren, als hätte sie ein Engel mit Diamanten bestückt. Mit einer Hand pflückte sie von den eiskalten, hart gefrorenen Beeren so viel sie konnte, füllte ihre Manteltasche damit und warf beim Weitergehen immer eine nach der anderen Beere, die sie Knallerbsen nannte, auf die Pflastersteine. Mit kleinem Jauchzen in der Brust trat sie übermütig auf eine jede, dass es unter ihren Schuhen nur so knackte. Jeden einzelnen Laut begleitete ein Wort in ihrem Kopf. Er…geht…mit …mir…ins…Kino…! Werner und Ilse…zu…Ilse…Werner…! Was für ein herrlicher Kriegstag…
EINE TRISTE ZEIT
Ilse hatte sich beeilt, alle Aufgaben des Tages zu schaffen und rechtzeitig am Treffpunkt zu erscheinen. Im Schatten der Kirche war es windstill, und sie konnte ihr wollenes Tuch lockern, das sie anstelle des Hütchens trug, weil das Tuch sie besser wärmte und weil sie darin etwas älter wirkte. Außerdem konnte sie es im Kino um die Schultern binden.
Voller Ungeduld durchmaßen ihre Blicke den Platz bis hinüber zu den Kammerspielen. Von Werner war nichts zu sehen. Ihre Füße, an denen sie heute zum ersten Male in diesem Winter hohe Stiefel trug, scharrten im Kies. Max hatte das Oberleder so leidlich geflickt, damit sie auch noch den dritten Winter herhielten. Ihre Augen füllten sich mit Feuchtigkeit, die sie der Kälte zuschrieb, nicht etwa der Enttäuschung über den ersten Jungen, den sie erhört hatte — der sie erhört hatte. Letzteres war vermutlich ihr Pech. Mädchen hatten kein Recht, einen Jungen zu einem Treffen zu bewegen.
Wie sie so stand, verdunkelte sich mit einem Mal die Welt und über ihre Augen fuhr ein eisiges Etwas. Ihr Herz wollte aufhören zu schlagen, ihre Fäuste wollten zu schlagen beginnen.
»Hier bist du. Ich stehe schon seit zwanzig Minuten an der Ecke«, sagte eine Stimme, derweil sich ihre Welt wieder erhellte, jedenfalls so, wie es der frühe Abend gestattete. Mit dieser Stimme wich das eisige Etwas vor ihren Augen. Es waren zwei Hände, die sich über ihr Gesicht gelegt haben, über ihre Augen. Und die Stimme, die dazugehörte, war die beste Stimme, die sie jetzt hören wollte, und es war ihr völlig egal, dass die Stimme ebenso unterkühlt klang wie ihre.
»Ich bin auch schon lange hier — wie abgemacht.«
»Oh…Dann müssen wir wohl bald lernen, wo Ost und wo West liegt, verehrtes Fräulein.«
Auch