Liebe, die auf Trümmern wächst. Maxi Hill
wie sie ja wusste, in Richtung Süden.
»Dann komm«, forderte er. »Die Frontberichte werden längst gelaufen sein.«
Die Frontberichte? Wenn sie Max glauben konnte, waren diese Berichte nur noch Lügen. Woher er das wissen wollte in seinem Keller, war Ilse unklar, aber er ging ja nachts irgendwohin… Vielleicht erfuhr er dort viel mehr als sie aus ihrer «Göbbels-Schnauze».
Werner zog sie mit sich. Sie kauften jeder eine Kinokarte und schlichen sich gebückt in die erstbeste Sitzreihe. Der Kinosaal war ebenso eisig wie alles an ihr. Heizmaterial war knapp, und wenn man Pech hatte, fiel auch noch der Strom aus, wie sehr oft seit fast einem Jahr. Werner meinte, für das Vorführgerät habe man Notstrom, was immer das heißen mochte. Ilse hatte von den technischen Dingen keinen Schimmer.
Jetzt saßen sie gespannt nebeneinander. Über Ilses Haut huschte ein Schauer, in ihrer Brust loderte ein kleines Feuer. Zu jeder anderen Zeit wäre sie sicher gewesen, dass dieses Feuer der Erwartung einer erbaulichen Abwechslung vom täglichen Hin und Her geschuldet sei. Heute war sie sich der Ursache nicht mehr klar. Am liebsten würde sie sich an Werner kuscheln, auf dass er sie wärmen möge, aber einen zweiten Fehler durfte sie sich nicht erlauben. Sie war kein Kind mehr.
Die Bilder auf der Leinwand flimmerten schon eine Weile. Es fiel ihr schwer, die schöne Frau ganz auf sich wirken zu lassen neben dem Jungen, der ebenso den Namen dieser Filmschauspielerin trug wie sie.
Im Cafe Rigoletto spielt gerade Victor de Kowa — alias Karl Zimmermann — Klavier. Eigentlich gehört seine ganze Leidenschaft der klassischen Musik, weil er aber Geld verdienen muss, wird seine Oper noch lange auf sich warten lassen müssen. Da lernt er die Schlagersängerin Anni Pichler kennen und will sie sofort zu seiner Musik bekehren. Doch selbst der Privatunterricht auf seiner Junggesellenbude kann sie nicht von ihrer Musik abhalten. Trotz allem finden sich die beiden so sympathisch, dass sie nach kurzer Zeit heiraten.
Eine einzige Komödie, eine süß-romantische Geschichte von einem musikalischen Pärchen mit Lebenslust und Turbulenz war die perfekt ablenkende Unterhaltung in dieser Zeit des Darbens und Hoffens, des Zweifelns, aber auch des inneren Widerstandes gegen alle Widrigkeiten, in die ein ganzes Volk geraten war. Es strahlte im Kinosaal jedes Gemüt angesichts der schwungvollen Melodien, die passgenau zwei Herzen zueinander führten. Eine einzige Vision vom Glück in romantischer Einheit gegen alle Widerstände.
Werner hatte bemerkt, dass Ilse, seit sie die Plätze fanden, stocksteif da saß. Hoffentlich war sie nicht von ihm abgerückt. Viel Platz war nicht, aber sie hätte durchaus enger an ihn heranrücken können. Vorsichtig schob er seinen Arm über ihre Stuhllehne, achtete aber darauf, sie nicht zu bedrängen. Bei flackerndem Licht, das der Film auf die Gesichter der Amüsierten warf, konnte er sich nicht auf die Handlung konzentrieren. Er musste sie immer wieder anstarren. Bei diesem Licht und mit der Erwartung in seinem Herzen war sie noch schöner als an jenem Tag, da sie plötzlich vor ihm stand. Sie wirkte zerbrechlich und doch auch wieder so kess mit dem gescheitelten Haar, das seitlich durch zwei Kämmchen hinter den Ohren festgehalten wurde. Bisweilen, wenn ein heller Lichtstrahl sie erfasste, glitzerten genau dort winzige Glasperlen wie Diamanten.
Jetzt, da er so nah bei ihr war, kam ihm die ganze Situation ins Bewusstsein. Ein Zufall, dass die Herrschaften nicht zu Hause waren, und dass Frau Meyer, die Haushälterin, für diese Zeit frei bekommen hatte. Wie oft verändert ein Zufall das ganze Leben? Wer weiß das besser, als ein verlassener Sohn? Er hoffte, dass es mit ihm und Ilse keine bösen Zufälle gibt, die sie ihm wieder entrissen. Was müsste er dagegen tun? Hätte er dieselbe Chance wie der Karl im Film?
Sie könnte ebenso aus der Stadt flüchten, wie es schon viele getan haben, seit man davon hörte, dass der Russe zurückschlug und unaufhaltsam vorrückte.
Wie aus Versehen drückte sein Arm fester gegen ihre Schulter, und er glaubte zu spüren, dass sich ihr Nacken seinem Arm entgegen lehnte. Werner atmete schwer, während Ilse gerade über eine Szene im Film leise kicherte. Er war kein Typ für eine Musik-Komödie, würde lieber den Kriegsfilm »Der Fall Rainer« mit Paul Hubschmid sehen wollen, oder den Krimi »Doktor Crippen an Bord«. Vielleicht noch den Fußball-Film »Das große Spiel« mit René Deltgen und Gustav Knuth. Er war trotzdem zufrieden. Neben Ilse war ihm jeder Film recht. Dass es mit diesem Mädchen so schnell gehen würde, hätte er niemals vermuten können. Sie wirkte so beherrscht — so beherrschend — so über ihm stehend und selbstsicher mit ihren Paketen, dass er nicht anders gekonnt hatte, als die kleine Verwechslungs-Komödie auszukosten.
Nicht er hatte sie belogen. Sie hatte ihm die Rolle des jungen Herrn zugesprochen. Es war verwunderlich, dass sie trotz der Wahrheit, um die er nicht gekommen war, sich auf ihn — einen Hilfsburschen —überhaupt eingelassen hatte. Hoffentlich nicht nur dieses eine Mal…
In einer Filmszene, in der das Paar sich küsste, spürte Werner eine Hand auf seinem Schenkel. Vorsichtig legte er seine darüber und wand sein Gesicht ihrem zu. Ab diesem Moment konnten Werner und Ilse der Handlung kaum noch folgen. Im nächsten Moment —was war nur los, sein Leib möchte zerspringen? — küssten sie sich, erst vorsichtig, dann innig und intensiv, wie noch keiner von ihnen je geküsst hat und wie es Ilse niemals hätte als schön vorhergesehen.
Sie hielten sich an den Händen und träumten von besseren Zeiten, ähnlich denen, die von der Leinwand flimmerten. Einmal würde es den Endsieg geben.
Beide waren zu verliebt, um sofort mit dem Abspann aufzustehen und zu gehen, wie die anderen Zuschauer. Jeder der beiden wünschte, diese Stunden würden nie enden. Sie hatten kaum eine andere Chance, ihre Liebe auszuprobieren. Im Kino gab es für die jungen Leute noch die einzige Rückzugsmöglichkeit. Zum Tanzen in einem der Ballhäuser war Ilse noch zu jung und das Theater war geschlossen.
Draußen fuhr Ilse ein eisiger Wind durch das Haar. Sie zog ihr Wolltuch über den Kopf und zögerte noch lange, Werner ade sagen zu müssen. Für ihn war der Weg bis zur Promenade ein Katzensprung, aber sie hatte noch zwei Kilometer quer durch die Stadt vor sich, und wenn sie sich nicht beeilte, kam die Sperrstunde dazwischen.
»Du glaubst doch nicht, dass ich dich alleine durch die Dunkelheit laufen lasse«, sagte er mit einer so weichen Stimme, dass sie sich unwillkürlich an ihn lehnte, egal, ob man sie dafür tadelte. Sie schenkte ihm dafür das, was er ein süßes Lächeln nennen würde und wofür sie sich nicht im Geringsten anstrengen musste.
»Das kannst du nicht«, protestierte sie zum Schein ganz brav, aber sie wünschte so sehr, er könnte es tun. »Du schaffst es nicht zurück bis zur Sperrstunde…«
Er nahm ihr schönes Gesicht in beide Hände, blinzelte im letzten Licht, das von der Eingangsleuchte noch funzelte und gab sich weltmännisch.
»Wozu habe ich das hier?« Er zog etwas Weißes aus seiner Tasche und schwenkte es für eine Sekunde vor seiner Brust, ehe er es wieder verschwinden ließ. Wie sich herausstellte, war es die Armbinde für Mitglieder vom Volkssturm. Und jetzt erfuhr Ilse auch, dass er eingesetzt war, um Gräben auszuheben, Wälle aufzuschütten, Barrikaden zu errichten oder Brücken zu bewachen. Im Moment aber habe er im Theater zu tun. Dort fühle er sich wohl. Sein Gruppenführer sei ein einfacher Arbeiter und damit ein anderer Typ als sein Vormund. Er sei gottlob ein verständnisvoller Mann, aber Befehl sei Befehl…
Werners Worte klangen noch lange in der stillen Luft nach. Eng umschlungen liefen zwei junge Menschen durch die dunkle Stadt. Kaum eine Laterne leuchtete, aus den Fenstern drang kein einziger Lichtschein. Der Verdunklungsbefehl galt ebenso wie die Sperrstunde als heilig.
Ilse leuchtete ein, dass diese Armbinde Werners Alibi sein konnte, falls er nach der Sperrstunde von einer Kontrolle erwischt werden würde. Er würde sie auf dem Heimweg anlegen, und in Ausreden, so sagte er, sei er nicht mehr verlegen. Warum sollte er auch. Aus vielen heimlich belauschten Gesprächen seiner Herrschaft kenne er Argumente für den eigenen Vorteil, wie er sie nie aus sich heraus gefunden hätte.
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