DER TEMPEL. Michael Mühlehner
sie mit der Situation umgehen sollten.
Für Diego Sentera war der Fall klar, ein illegaler Schatzräuber, der ihnen vielleicht von Cartagena aus gefolgt war. Warum er keine Kleidung trug, und sie auch keine Ausrüstungsgegenstände gefunden hatten, war für den Comandante nur nebensächlich. Es galt, den sagenhaften Fund von El Dorado zu schützen. Darum wollte er auch keine Polizei über das Satellitentelefon rufen.
Vorläufig würde der Fremde im Camp bleiben, vor dem Zelt stand eine bewaffnete Wache.
Das war auch einer der Gründe, warum sie den Fremden nicht im Lazarett-Zelt untergebracht hatten. Sie wollten ihn vorläufig isoliert halten, es wurde ohnehin schon zu viel gemunkelt.
Das ist also der Stand der Dinge, dachte Maeve Kilburn, wir haben El Dorado gefunden und stehen vor einem Berg von Problemen.
Wenn sie in die Gesichter der anderen blickte, den hungrigen Glanz richtig deutete, dann würde es auch Schwierigkeiten beim Einhalten der Prioritäten geben.
„Komm schon, Maeve, du kannst dich ruhig ein wenig freuen! Das ist der bedeutendste Fund einer Grabungsexpedition seit Schliemanns Entdeckung von Troja!“
Unwillkürlich musste Maeve den Computerspezialisten anlächeln. Ty Jackson gehörte eindeutig zu den Idealisten. Ein verwegenes Grinsen kerbte das mit Bartstoppeln bedeckte Gesicht. Die dunklen Haare standen wellenförmig nach allen Seiten ab. Blaue Augen funkelten in einem sonnengebräunten Gesicht. Ty hätte jederzeit als Surf Boy in einem Film mitspielen können. Doch er hatte sich der Erforschung des Altertums gewidmet, versuchte mittels modernster Technik der Vergangenheit die Rätsel vergangener Kulturen zu entreißen.
Und er war erfolgreich damit.
„Was ist schon Troja“, sagte Reardon pathetisch. „Dieser Fund macht uns berühmt und reich! El Dorado – ich kann es immer noch nicht glauben!“
„Behalten Sie einen kühlen Kopf, Amigo“, sagte Doktor Rastillas bedächtig. Er blickte auf sein halbvolles Glas Whisky. „Bisher haben wir nur die Tempelkammer gesehen. Nichts deutet darauf hin, dass auch die anderen Räume mit Gold überzogen sein müssen, oder dass darin unermessliche Schätze gelagert sind. Von der Tempelkammer führt kein Weg weiter. Wir sollten auch diesen Fremden nicht vergessen, und Sentera vermisst einen Mann aus seiner Gruppe.“
Reardon winkte lässig ab. Sein Glas war schon wieder leer, seine Augen glänzten matt.
„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wir sind den alten Aufzeichnungen gefolgt, haben uns also an die Fakten gehalten – und voila! – hier ist El Dorado!“
„Eine abseits gelegene Pyramide, erbaut von einem unbekannten Stamm“, fuhr Rastillas fort. „Bisher konnten wir das Bauwerk keiner Kultur zuordnen. Die Fresken enthalten Arbeiten verschiedener andinischer Völker, Maya, Inkas und selbst aztekische Symbole und Stile wurden verwendet. Welche Bedeutung wird ihr zugeschrieben? Gleichfalls gibt mir der Standort zu denken.“
„Was ist daran denn komisch?“ fragte Doktor Reardon und seine Stimme hatte einen herausfordernden Klang. Maeve wurde bewusst, dass sie in den sich anbahnenden Disput eingreifen musste.
„Kolumbien spielte niemals eine zentrale Rolle in den führenden präkolumbianischen Kulturen. Obwohl sich das Reich der Inkas von Peru bis Mexiko ausdehnte, drangen sie niemals tief in die Regenwälder Kolumbiens ein. Sie nannten diesen unermesslich weiten Urwald das ´Wilde Land´. Hier hausten Geister und Dämonen. Und auch die Azteken und Maya in Mittelamerika schienen Kolumbien zu meiden. Im Gegensatz zu den anderen Ländern Lateinamerikas hat sich hier niemals eine Hochkultur entwickelt. Kolumbien wurde von wilden Stämmen bewohnt, kriegerisch und barbarisch, mit archaischen Riten. Die spanischen Konquistadoren berichteten von Kannibalen und Eingeborenen, die mehr Tieren als Menschen ähnelten. Warum sollte man in dieser Wildnis El Dorado erbauen, das Paradies aus Gold und Juwelen? Wer hätte Freude daran, hier zu leben, wo der Tod tausendmal drohte? Und dieser Felskessel, abgelegen und beinahe unzugänglich. Warum baut man hier einen Schatztempel?“
Reardon schnaubte, als er die Argumente seines Kollegen hörte. Er wusste so gut wie Rastillas, dass El Dorado in der Nähe des Guatavita-Sees unweit von Bogota vermutet wurde. Aber was zählten schon Vermutungen gegenüber den harten Fakten.
„Sie sollten sich selbst hören, lieber Doktor! Das klingt ja fast, als hätten Sie Angst davor, die Wahrheit zu akzeptieren. Fürchten Sie sich vor El Dorado?“
„Nicht vor dem Mythos, aber vor dem, was er aus den Menschen macht!“
Der amerikanische Anthropologe murmelte etwas Abfälliges und erhob sich wankend.
„Wenn mich die Kollegen entschuldigen wollen, ich habe noch zu arbeiten.“
Rastillas blickte ihm nach, wie er das Zelt verließ.
„Ich glaube, wir stecken schon knietief in den Problemen.“
„Dann widmen wir uns wieder der Arbeit“, sagte Maeve Kilburn beschwichtigend. „Als erstes gilt es, wieder Ordnung in das Lager zu bringen. Danach kümmern wir uns um die Pyramide.“
Sie hatten das Tempelhaus mit Planen und Zeltbahnen notdürftig gegen Wind und Wetter abgedeckt.
„Ty, wie steht es mit deiner Ausrüstung?“
Es wurde noch ein langer arbeitsreicher Nachmittag.
***
Schmerzen! Als hätte man seine Knochen unter Mühlsteinen zerrieben. Sein Mund war trocken, in den Ohren war ein anhaltendes Pfeifen, das sich wie mit Dolchstichen in seinen Schädel bohrte. Eine Vielzahl von Gerüchen drang ihm in die Nase, allesamt fremd. Er konnte nichts zuordnen. Seine Sinne waren noch zu verwirrt.
Er versuchte ruhig einzuatmen, aber die Luft fühlte sich an, als würde er flüssiges Feuer inhalieren. Die Lungen brannten. Durch seinen Kopf tobte wildes Sturmgebraus.
Auf einem ölig schimmernden Meer tanzten Buchstaben wie Ping-Pong-Bälle. Zwei Wörter, die einen Namen bildeten.
Ich heiße Deighton Croft, dachte er inbrünstig. Das ist mein Name. Deighton Croft!
Diese Tatsache erschien ihm äußerst wichtig. Alle anderen Erinnerungen blieben tief unter der Oberfläche, niedergedrückt vom Gewicht und der Kraft der schmierig-dunklen See. Ein finsterer Sog wollte nach ihm greifen.
Mit einem Keuchen riss Deighton die Augen auf und schnellte hoch. Schleier flimmerten vor seinem Gesichtsfeld, verwaschene Konturen, die sich einer Fixierung widersetzen.
Er glaube links von sich eine Bewegung zu sehen und hob den Arm.
Für einem Moment war ihm, als würde er etwas flüchtig berühren. Ein schrilles Geräusch gellte durch seine Gehörgänge.
Er versuchte sich zu konzentrieren, kniff die Augen zusammen. Wirbelnde Schleier, Lichtpunkte, die Annahme einer Bewegung. Dann traf ihn etwas ins Gesicht und schleuderte ihn zurück.
Er wurde angegriffen! Rein instinktiv rollte er zur Seite, trat mit dem Fuß aus, kam hoch und wirbelte herum. Er starrte in eine graue, verwaschene Welt die voller Bewegungen war. Schemen wie Geister umringten ihn. Er stolperte, als eine plötzliche Schwäche seine Beine weich werden ließ. Er fing seinen Sturz ab, verlor aber die Kontrolle über seine Muskeln. Etwas krachte gegen seinen Hinterkopf und warf ihn vornüber.
Einen Momentlang glaubte er Stimmen zu hören.
„Das… ein…Wilder! Sollte…totprügeln…fesseln!“
Er versuchte den Worten einen Sinn abzuringen. Nur am Rande nahm er wahr, dass er auf die Füße gerissen wurde.
Arme wie Tentakel schlangen sich um seinen Leib. Deighton wehrte sich in grimmiger Wut, sprengte den Griff, warf sich herum und rannte. Er prallte mit dem Knie gegen etwas Hüfthohes, kam aus dem Takt, hastete weiter und rannte gegen eine Art Stoffwand, die ihn zurückschleuderte. Dann waren die anderen heran. Diesmal fackelten sie nicht lange. Bevor er das Bewusstsein verlor, glaubte er einen Schimmer von Rot zu sehen.
„Aufhören!“,