Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
Aljoscha atmete nur mühsam; er war froh hinauszukommen, aber er freute sich auch, daß der Starez sich nicht gekränkt fühlte, sondern heiter war.
Der Starez wollte sich zur Galerie begeben, um die Wartenden zu segnen. Aber Fjodor Pawlowitsch hielt ihn doch noch an der Tür der Zelle fest.
»Gottgefälligster Mensch!« rief er gefühlvoll. »Erlauben Sie mir, Ihnen noch einmal die Hand zu küssen! Mit Ihnen kann man noch reden, mit Ihnen kann man leben! Sie glauben wohl, daß ich immer so dumm bin und den Possenreißer spiele? So sollen Sie wissen, daß ich mich die ganze Zeit absichtlich verstellte, um Sie auszuforschen. Ich habe die ganze Zeit an Ihnen herumgetastet, ob man wohl mit Ihnen leben könnte, ob mein bescheidenes Persönchen neben Ihrer stolzen Person einen Platz fände. Ich stelle Ihnen ein Belobigungszeugnis aus: Man kann mit Ihnen leben. Und jetzt werde ich schweigen; die ganze Zeit werde ich schweigen. Ich werde auf dem Lehnstuhl sitzen und schweigen. Jetzt, Pjotr Alexandrowitsch, ist es an Ihnen, zu reden; jetzt sind Sie die Hauptperson – für zehn Minuten.«
1 Naprawnik: russ. Dirigent in St. Petersburg
2 Diderot: franz. Enzyklopädist, Aufklärer und Schriftsteller, † 1784
3. Gläubige Weiber
Unten an der kleinen hölzernen Galerie, die an die Außenseite der Ringmauer angebaut war, hatten sich diesmal nur Weiber aus dem einfachen Volk versammelt, etwa zwanzig. Man hatte sie benachrichtigt, daß der Starez endlich herauskommen werde, und so drängten sie sich erwartungsvoll. Die Gutsbesitzerin Frau Chochlakowa und ihre Tochter, die auch auf den Starez warteten, waren auf die Galerie herausgekommen, befanden sich aber in jenem Teil, der für vornehmere Besucher bestimmt war. Frau Chochlakowa, eine reiche, stets geschmackvoll gekleidete junge Dame, war eine sehr angenehme Erscheinung, ein wenig blaß, mit sehr lebhaften, fast ganz schwarzen Augen. Sie war erst dreiunddreißig Jahre alt und schon seit fünf Jahren Witwe. Ihre vierzehnjährige Tochter litt an einer Lähmung der Beine. Das arme Mädchen konnte seit einem halben Jahr nicht gehen und mußte auf einem bequemen Rollstuhl gefahren werden. Sie hatte ein entzückendes Gesichtchen, das zwar infolge der Krankheit etwas schmal, aber trotzdem sehr lustig war. In ihren großen dunklen Augen mit den langen Wimpern lag etwas Schelmisches. Die Mutter hatte schon seit dem Frühjahr die Absicht, sie ins Ausland zu bringen, doch hatte die Verwaltung des Gutes sie aufgehalten. Etwa eine Woche hielten sie sich schon in unserer Stadt auf, mehr in geschäftlichen Angelegenheiten als zu einer Pilgerfahrt, und schon einmal, vor drei Tagen, hatten sie den Starez besucht. Jetzt waren sie plötzlich wiedergekommen, obgleich sie wußten, daß der Starez kaum noch jemand empfangen konnte, hatten sie inständig das Glück erfleht, »den großen Heilbringer sehen zu dürfen«. Während sie auf den Starez warteten, saß die Mama neben dem Rollstuhl der Tochter, und zwei Schritte entfernt stand ein alter Mönch, der aus einem fernen, wenig bekannten Kloster im Norden gekommen war. Er wollte sich gleichfalls vom Starez segnen lassen.
Als der Starez auf der Galerie erschien, schritt er an allen eben erwähnten Personen vorbei und ging zunächst zum einfachen Volk. Die Menge drängte zu den drei Stufen, die auf die niedrig gelegene Galerie führten. Der Starez trat auf die oberste Stufe, legte das Schultertuch um und segnete die herandrängenden Frauen. Auch eine Schreikranke wurde an beiden Armen zu ihm hingezogen. Kaum hatte sie den Starez erblickt, begann sie unbändig zu winseln und zu schluchzen und zuckte wie bei einem epileptischen Anfall am ganzen Körper. Der Starez legte ihr das Schultertuch auf den Kopf und sprach ein kurzes Gebet über sie, worauf sie gleich verstummte und sich beruhigte. Ich weiß nicht, wie es jetzt damit steht, aber in meiner Kindheit hatte ich oft Gelegenheit, diese Schreikranken auf dem Lande und in Klöstern zu sehen und zu hören. Man führte sie zur Messe, und sie kreischten oder bellten wie Hunde, so daß es durch die ganze Kirche schallte; brachte man sie aber zum Sakrament, hörte die »Besessenheit« sofort auf, und die Kranken beruhigten sich für einige Zeit. Das machte auf mich als Kind einen außerordentlichen Eindruck und erfüllte mich mit großem Erstaunen. Aber damals hörte ich auf meine Fragen von einigen Gutsbesitzern und besonders von meinen Lehrern in der Stadt, das alles sei nur Verstellung, Arbeitsscheu, und lasse sich jederzeit durch Strenge beseitigen, zur Bekräftigung wurden allerlei Geschichtchen erzählt. Später hörte ich zu meiner Verwunderung von Fachärzten, daß es sich hierbei ganz und gar nicht um Verstellung handle, sondern um eine schreckliche Frauenkrankheit, die vor allem bei uns in Rußland auftritt und von dem schweren Los unserer Dorfbewohnerinnen zeugt! Ursache der Krankheit sei, daß nach schweren Entbindungen, die nicht ordnungsgemäß und ohne ärztlichen Beistand vorgenommen werden, zu früh wieder anstrengende Arbeit aufgenommen werde; hinzu kämen ausweglose Sorgen, Schläge und so weiter, was manche Frauennaturen nicht wie so viele andere ertragen könnten. Die seltsame augenblickliche Heilung »besessener« und um sich schlagender Frauen angesichts des Sakraments – eine Heilung, die man mir als von den Pfaffen inszenierten Hokuspokus erklärt hatte – erfolge wahrscheinlich ebenfalls auf natürliche Weise. Die Frauen, die die Kranken zum Sakrament brachten, und vor allem die Kranken selbst seien fest überzeugt, daß der unreine Geist es niemals erträgt, wenn sie zum Sakrament geführt werden und vor ihm ihre Knie beugen. Aus diesem Grunde vollziehe sich in den nervösen und natürlich geisteskranken Frauen im Augenblick des Kniefalls vor dem Sakrament eine unvermeidliche Erschütterung des gesamten Organismus, hervorgerufen durch den festen Glauben an das Wunder der Heilung. Und so trete sie denn auch ein, wenngleich nur für sehr kurze Zeit.
Und sie trat auch jetzt ein, sobald der Starez die Kranke mit dem Schultertuch bedeckt hatte.
Viele der ihn umdrängenden Frauen waren vom Eindruck des Augenblicks überwältigt und brachen in Tränen der Rührung und des Entzückens aus. Andere wollten wenigstens den Saum seines Gewandes küssen. Manche sprachen Gebete. Der Starez erteilte allen den Segen und ließ sich mit einigen in ein Gespräch ein. Die Schreikranke kannte er schon; sie war nicht zum erstenmal und nicht von weit her, sondern aus einem nur sechs Werst entfernten Dorf zu ihm gebracht worden.
»Aber da ist eine, die kam von weit her!« sagte er und zeigte auf eine noch gar nicht alte, aber sehr magere, abgezehrte Frau, deren Gesicht von der Sonne verbrannt, ja geradezu schwarz war. Sie lag auf den Knien und sah den Starez starr an. In ihrem Blick lag etwas wie Verzückung.
»Ja, von weit her, Väterchen, von weit her, dreihundert Werst von hier. Von weit her, Väterchen, von weit her«, erwiderte sie in singendem Tonfall und wiegte den Kopf gleichmäßig von einer Seite zur anderen; eine Wange stützte sie dabei mit der Hand. Ihre Worte klangen wie Klagegesang.
Es gibt beim einfachen Volk einen schweigenden und geduldigen Kummer; er tritt in sich zurück und bleibt stumm. Aber es gibt auch einen hervorbrechenden Kummer; der macht sich einmal in Tränen Luft und geht dann über in Klagegesang. Das ist besonders bei Frauen der Fall. Aber er ist nicht leichter als der schweigende Kummer. Der Klagegesang wirkt nur insofern lindernd, als er das Herz noch mehr zerreißt. Ein solcher Kummer verlangt nicht nach Trost; er nährt sich von dem Gefühl seiner Untröstbarkeit. Der Klagegesang entspringt dem Bedürfnis, die Wunde immer von neuem zu reizen.
»Du gehörst gewiß zum Kleinbürgerstand?« fuhr der Starez fort und sah die Frau teilnahmsvoll an.
»Wir sind aus der Stadt, Vater, aus der Stadt; wir stammen vom Land, aber wir sind jetzt Städter, wohnen in der Stadt. Um dich zu sehen, bin ich gekommen, Vater. Wir haben von dir gehört, Vater, wir haben von dir gehört. Mein kleines Söhnchen habe ich begraben, und da bin ich gegangen, zu Gott zu beten. In drei Klöstern bin ich gewesen, und nun haben mir die Leute geraten: Geh auch noch dorthin, Nastasjuschka! Das heißt, zu Ihnen, Täubchen, zu Ihnen. Da bin ich also hergekommen. Gestern war ich im Nachtgottesdienst, und heute bin ich zu Ihnen gekommen.«
»Worüber weinst du denn?«
»Um mein Söhnchen gräme ich mich, Väterchen. Beinahe drei Jahre war es alt, es fehlten nur drei Monate. Um mein Söhnchen quäle ich mich, Vater, um mein Söhnchen. Er war der letzte Sohn, der mir geblieben war. Vier hatten wir, Nikituschka und ich. Aber die Kinderchen bleiben nicht bei uns. Teuerster, sie bleiben nicht. Die drei ersten habe ich begraben und mich nicht allzusehr gegrämt, den letzten aber kann ich nicht vergessen. Er steht immer vor mir und weicht nicht. Er hat mir die Seele ausgesogen. Ich sehe seine Wäsche an,