Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
fort, lieber Mann, laß mich wallfahrten gehen!‹ Er ist Droschkenkutscher, wir sind nicht arm, wir betreiben das Fuhrgeschäft selbständig, alles gehört uns, die Pferde und der Wagen. Aber was haben wir jetzt von unserem Hab und Gut? Er hat in meiner Abwesenheit sicher angefangen zu trinken, mein Nikituschka, ganz sicher, das war auch früher schon so, kaum wandte ich den Rücken, wurde er schwach. Aber jetzt denke ich gar nicht an ihn. Jetzt bin ich schon drei Monate von Hause fort. Ich habe alles vergessen, alles vergessen und mag mich nicht erinnern; was sollte ich jetzt auch bei ihm? Ich habe mit ihm abgeschlossen, ganz und gar abgeschlossen, mit allen Menschen habe ich abgeschlossen. Und ich möchte jetzt mein Haus und mein Hab und Gut nicht sehen, am liebsten möchte ich jetzt überhaupt nichts sehen!«
»Hör zu, Mutter!« sagte der Starez. »In alten Zeiten sah einmal ein großer Heiliger im Gotteshaus so eine Mutter wie dich, die weinte auch um ihr einziges Kind, das Gott zu sich gerufen hatte. ›Weißt du denn nicht‹, sagte der Heilige ›wie keck diese Kindlein vor Gottes Thron sind? Niemand ist kecker als sie im Himmelreich. Du hast uns das Leben geschenkt, Herr, sagen sie zu Gott, aber kaum hatten wir es erschaut, hast du es uns schon wieder genommen! Und dann bitten und flehen sie so keck, daß ihnen der Herr ohne Verzug den Rang von Engeln verleiht. Und darum‹, sagte der Heilige, ›freue auch du dich, Weib, und weine nicht; denn auch dein Kindlein ist jetzt beim Herrn in der Schar der Engel.‹ So sprach in alten Zeiten der Heilige zu der weinenden Frau. Er war ein großer Heiliger und konnte unmöglich die Unwahrheit sagen. Daher wisse auch du, Mutter, daß dein Kindlein jetzt froh und heiter vor Gottes Thron steht und für dich betet. Und darum weine nicht, sondern freue dich!«
Das Weib hörte ihn an mit gesenktem Kopf, die eine Wange in die Hand gestützt. Sie seufzte tief:
»Genauso hat mich Nikituschka getröstet; Wort für Wort wie du hat er gesagt: ›Du Unvernünftige, was weinst du? Unser Söhnchen singt jetzt bei Gott dem Herrn zusammen mit den Engeln.‹ Das sagte er zu mir, aber er selbst weint, das sehe ich, er weint genauso wie ich. ›Das weiß ich‹, sage ich, ›Nikituschka. Wo sollte er denn auch anders sein als bei Gott dem Herrn? Nur hier, hier bei uns ist er jetzt nicht, Nikituschka, hier neben uns, wo er früher saß!‹ Ach, wenn ich ihn doch nur ein einziges Mal, nur einen einzigen Augenblick wieder sehen könnte! Ich würde nicht zu ihm hingehen, würde kein Wort sagen, in einer Ecke würde ich mich verstecken. Nur ein einziges Augenblickchen möchte ich ihn sehen und hören, wie er auf dem Hof spielt und wie er dann gelaufen kommt und mit seinem kleinen Stimmchen ruft: ›Mütterchen, wo bist du?‹ Wenn ich nur ein einziges Mal hören könnte, wie er mit seinen Füßen tapp tapp durchs Zimmer läuft, nur ein einziges Mal! So schnell, so schnell kam er manchmal zu mir gelaufen und schrie und lachte! Wenn ich doch nur seine Füßchen hören könnte, ich würde sie gleich erkennen! Aber er lebt nicht mehr, Väterchen, ich werde ihn nie wieder hören. Hier, das ist ein Gürtelchen, aber er selbst ist nicht mehr, ich werde ihn nie wieder sehen und hören!«
Sie zog aus ihrem Busen ein kleines gesticktes Gürtelchen, doch kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, begann sie krampfhaft zu schluchzen, sie bedeckte die Augen mit den Fingern und konnte die Tränen nicht halten.
»Das ist das alte Wort«, sagte der Starez, »Rahel beweint ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen; denn es ist aus mit ihnen. Das ist nun einmal das Los, das euch Müttern auferlegt ist. Laß dich nicht trösten, du brauchst dich nicht trösten zu lassen. Laß dich nicht trösten und weine, nur erinnere dich jedesmal, wenn du weinst, daß dein Söhnchen einer der Engel Gottes ist und von dort auf dich herabschaut, dich sieht, sich deiner Tränen freut und sie Gott dem Herrn zeigt. Noch lange wird dir dieses große mütterliche Weinen beschieden sein; zuletzt aber wird es sich in eine stille Freude verwandeln, und deine bitteren Tränen werden nur noch Tränen stiller Rührung und der Läuterung des Herzens sein, die dich vor Sünden bewahrt. Deines Sohnes aber werde ich in meinem Gebet gedenken, ich will für die Ruhe seiner Seele beten. Wie hieß er denn?«
»Alexej, Väterchen.«
»Ein lieber Name. Nach Alexej, dem Gottesmann?«
»Ja, Väterchen, nach Alexej, dem Gottesmann.«
»Das ist ein großer Heiliger! Ich werde deines Sohnes in meinem Gebet gedenken, Mutter, und deiner Trauer werde ich gedenke, und deines Mannes, daß er gesund bleiben möge. Aber daß du ihn verläßt, ist eine Sünde. Geh zu deinem Mann und behüte ihn! Sonst wird dein Sohn von dort sehen, daß du seinen Vater verlassen hast, und er wird über euch weinen. Warum willst du seine Seligkeit stören? Er lebt ja, er lebt; denn die Seele lebt ewig. Wenn er auch leiblich nicht mehr im Hause weilt, ist er doch unsichtbar um euch. Aber wie wird er ins Haus kommen, wenn du sprichst, dir sei dein Haus verhaßt geworden? Zu wem wird er kommen, wenn er den Vater und die Mutter nicht zusammen findet? Sieh, jetzt träumst du von ihm und quälst dich im Traum; dann aber wird er dir sanfte Träume senden. Geh zurück zu deinem Mann, Mutter! Gleich heute geh zu ihm!«
»Ich werde zu ihm gehen, du mein Bester, auf dein Wort hin werde ich zu ihm gehen. Du hast mein Herz ergründet. Nikituschka, du mein Nikituschka, du wartest ja auf mich, du wartest auf mich!« redete die Frau vor sich hin; doch der Starez hatte sich schon zu einer alten Frau gewandt, die nicht wie eine Pilgerin, sondern eher städtisch gekleidet war. Man sah es ihr an den Augen an, daß sie ein Anliegen hatte und gekommen war, um eine Mitteilung zu machen. Sie war, wie sie angab, die Witwe eines Unteroffiziers aus unserer Stadt. Ihr Sohn Wassenka habe in einem Militärbüro gedient und sei nach Sibirien gekommen, nach Irkutsk. Zweimal habe er geschrieben, aber seit einem Jahr nicht mehr. Sie habe sich nach ihm erkundigen wollen, wisse aber in Wirklichkeit nicht, wie sie das anstellen solle.
»Da sagte mir neulich Stepanida Iljinitschna Bedrjagina, eine sehr reiche Kaufmannsfrau: ›Weißt du was, Prochorowna, schreibe den Namen deines Sohnes auf einen Zettel für das Verzeichnis der Verstorbenen‹, sagte sie, ›bring den Zettel in die Kirche und laß eine Messe für die Ruhe seiner Seele lesen. Dann‹, sagte sie, ›wird er sich in seiner Seele beunruhigt fühlen und dir einen Brief schreiben. Das ist ein zuverlässiges, ein vielfach erprobtes Mittel‹, sagte Stepanida Iljinitschna. Ich habe aber doch meine Zweifel ... Du unser Licht, ist das wahr oder nicht? Und ist es recht, so was zu tun?«
»Wirf den Gedanken von dir! Du solltest dich schämen, danach überhaupt zu fragen. Wie ist es denn möglich, daß man für einen Lebenden eine Seelenmesse lesen läßt, und noch dazu als leibliche Mutter! Das ist eine ähnlich große Sünde wie Zauberei; nur wegen deiner Unwissenheit kann sie dir verziehen werden. Bete lieber zur Himmelskönigin, der willigen Beschützerin und Helferin, für seine Gesundheit und daß sie dir deinen unrechten Gedanken verzeihen möge. Und dann noch eines, Prochorowna: Entweder kommt dein Sohn bald selbst zurück, oder er schickt einen Brief. Das wisse! Geh und verhalte dich von nun an ruhig! Dein Sohn ist am Leben, sage ich dir.«
»Du unser Lieber, Gott belohne dich, du unser Wohltäter, der du für uns und unsere Sünden betest!«
Der Starez hatte in der Menge bereits die glühenden Augen einer abgezehrten, offenbar schwindsüchtigen jungen Bäuerin bemerkt. Schweigend sah sie ihn an, ihre Augen baten um etwas, aber sie schien sich zu fürchten, näher zu kommen.
»Was führt dich her, meine Liebe?«
»Erlöse meine Seele, Vater!« sagte sie leise und langsam, fiel auf die Knie und beugte sich bis zu seinen Füßen. »Ich habe gesündigt, Vater. Ich fürchte mich wegen der Sünde.«
Der Starez setzte sich auf die unterste Stufe, und die Frau näherte sich ihm, ohne sich von den Knien zu erheben.
»Ich bin das dritte Jahr Witwe«, begann sie fast flüsternd und schien dabei am ganzen Körper zu zittern. »Ich hatte es schwer in der Ehe, er war alt und schlug mich. Dann lag er krank, ich sah ihn an und dachte: Wenn er nun wieder gesund wird und aufsteht, was dann? Und da kam mir dieser Gedanke ...«
»Warte!« sagte der Starez und brachte sein Ohr ganz dicht an ihre Lippen. Die Frau sprach flüsternd weiter, so daß die anderen kaum ein Wort auffangen konnten. Sie war bald fertig.
»Das dritte Jahr?« fragte der Starez.
»Ja, das dritte. In der ersten Zeit dachte ich nicht daran; doch dann wurde ich krank und kränker und verlor meine