Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
ihn gelacht hatte.
»Alexej Fjodorowitsch«, schrieb sie, »ich schreibe Ihnen, ohne daß ein Mensch davon weiß, auch ohne Mamas Wissen, und ich weiß, daß das nicht recht von mir ist. Ich kann aber nicht länger leben, wenn ich Ihnen nicht von dem Gefühl sage, das in meinem Herzen entstanden ist. Doch es darf davon vorläufig niemand außer uns beiden wissen. Wie soll ich Ihnen das sagen, was ich Ihnen so gern sagen möchte? Das Papier sagt man, errötet nicht; aber ich versichere Ihnen, das ist nicht wahr, es errötet ebenso, wie ich jetzt über das ganze Gesicht. Lieber Aljoscha, ich liebe Sie! Ich liebe Sie schon von meiner Kindheit an, von Moskau her, als Sie noch gar nicht so ein Mensch waren wie jetzt. Und ich liebe Sie für das ganze Leben. Ich habe Sie mit meinem Herzen auserwählt, um mich mit Ihnen zu vereinen und damit wir im Alter zusammen unser Leben beschließen. Natürlich unter der Bedingung, daß Sie aus dem Kloster austreten. Was unser Alter betrifft, so werden wir so lange warten, wie es vom Gesetz vorgeschrieben ist. Bis zu der Zeit bin ich sicherlich gesund geworden und werde gehen und tanzen können. Darüber ist weiter nichts zu reden. Sehen Sie, wie ich alles bedacht habe? Nur über eines komme ich nicht ins klare: was Sie von mir denken werden, wenn Sie dies lesen. Ich lache immer und treibe Unsinn und habe Sie heute geärgert, doch ich versichere Ihnen, eben, bevor ich zur Feder griff, habe ich vor dem Bild der Muttergottes gebetet. Und auch jetzt bete ich und weine fast.
Mein Geheimnis ist nun in Ihren Händen. Wenn Sie morgen kommen, werde ich nicht wissen, wie ich Sie ansehen soll. Ach, Alexej Fjodorowitsch, was soll werden, wenn ich mich wie eine Närrin wieder nicht beherrschen kann und wie heute bei Ihrem Anblick loslache? Sie werden mich ja für eine gemeine Spötterin halten und meinem Brief nicht glauben. Und darum, Lieber, flehe ich Sie an: Haben Sie Mitleid mit mir, sehen Sie mir nicht allzu gerade in die Augen, wenn Sie morgen zu uns kommen. Denn wenn ich Ihrem Blick begegne, werde ich vielleicht auf einmal loslachen müssen – und außerdem werden Sie diesen langen Rock anhaben. Schon jetzt überläuft es mich kalt, wenn ich an all das denke. Sehen Sie mich darum, nachdem Sie eingetreten sind, eine Weile gar nicht an, sondern blicken Sie Mama an oder schauen Sie aus dem Fenster!
Da habe ich Ihnen nun einen Liebesbrief geschrieben, mein Gott, was habe ich getan! Aljoscha, verachten Sie mich nicht! Und wenn ich etwas sehr Schlechtes getan und Sie betrübt habe, so verzeihen Sie mir! Das Geheimnis meines vielleicht für immer verdorbenen Rufes liegt jetzt in Ihren Händen.
Ich werde heute auf jeden Fall weinen. Auf Wiedersehen, auf ein schreckliches Wiedersehen. Lise.
P. S. Aljoscha, kommen Sie aber bestimmt, bestimmt, ganz bestimmt! Lise.«
1. Vater Ferapont
Am frühen Morgen, noch vor dem Hellwerden, wurde Aljoscha geweckt. Der Starez war aufgewacht und fühlte sich sehr schwach, wünschte aber doch das Bett mit dem Lehnstuhl zu vertauschen. Er war bei voller Besinnung. Sein Gesicht zeugte zwar von großer Ermüdung, war aber klar und fast freudig und der Blick, heiter, freundlich und einladend. »Vielleicht werde ich nicht einmal den heutigen Tag überleben«, sagte er zu Aljoscha. Dann äußerte er den Wunsch, unverzüglich zu beichten und das Abendmahl zu nehmen. Sein Beichtvater war stets Vater Paissi. Nach dem Vollzug der beiden Sakramente begann die Letzte Ölung. Die Priestermönche versammelten sich, die Zelle füllte sich allmählich mit Einsiedlern. Inzwischen war der Tag angebrochen. Auch aus dem Kloster kamen Mönche. Als die heilige Handlung zu Ende war, wünschte der Starez von allen Abschied zu nehmen und alle zu küssen. Da die Zelle sehr eng war, gingen die zuerst Gekommenen wieder hinaus, um anderen Platz zu machen. Aljoscha stand neben dem Starez, der wieder im Lehnstuhl saß. Er redete und sprach Belehrungen aus, soviel er vermochte; seine Stimme war schwach, aber noch ziemlich fest. »So viele Jahre habe ich euch mit Belehrungen versehen und dabei so viele Jahre laut gesprochen, daß es mir förmlich zur Gewohnheit geworden ist, zu reden und redend zu belehren. Es würde mir fast schwerer fallen zu schweigen als zu reden, liebe Väter und lieber Brüder, sogar bei meiner jetzigen Schwäche«, scherzte er und blickte gerührt auf die Umstehenden. Aljoscha erinnerte sich später an dieses und jenes, was der Starez damals gesagt hatte. Obgleich er deutlich sprach und mit einigermaßen fester Stimme, war seine Rede doch ziemlich zusammenhanglos. Er sprach über vieles; er schien vor dem Tod gern noch sagen und aussprechen zu wollen, womit er im Leben nicht fertig geworden war, und zwar nicht nur der Belehrung wegen, sondern auch weil es ihn offenbar drängte, seine Freude und sein Entzücken mit allen und jedem zu teilen und nochmals sein ganzes Herz auszuschütten.
»Liebet einander, ihr Väter!« sprach der Starez, jedenfalls soweit sich Aljoscha später dessen entsann. »Liebet das Volk Gottes! Sind wir doch nicht deswegen heiliger als die Weltlichen, weil wir hierherkamen und uns in diesen Wänden einschlossen, im Gegenteil: Jeder, der hierherkommt, hat schon allein dadurch im stille bekannt, daß er schlechter ist als alle Weltlichen, als alle und jeder auf Erden ... Und je länger er in seiner Zelle lebt, um so fühlbarer muß er sich dessen bewußt werden. Andernfalls hätte er gar nicht zu kommen brauchen. Erkennt er aber, daß er nicht nur schlechter ist als alle Weltlichen, sondern auch allen Menschen gegenüber an allem und jedem Schuld trägt, an allen menschlichen Sünden, die von der ganzen Welt und von einzelnen begangen werden, dann erst wird der Zweck unserer Vereinigung erreicht. Denn wisset, ihr Lieben, daß jeder einzelne von uns an allem und jedem auf Erden Schuld trägt, nicht nur, weil er an der allgemeinen Schuld der Welt teilhat, sondern ein jeder einzeln für alle und für jeden Menschen auf dieser Erde. Dieses Bewußtsein ist die Krone für den Lebenswandel des Mönchs, ja eines jeden Menschen auf Erden. Denn die Mönche sind nicht andere Menschen, sondern nur solche, wie alle Menschen auf Erden es sein sollten. Erst dann wird unser Herz erfüllt sein von jener gerührten, unendlichen, allumfassenden Liebe, die keine Sättigung kennt. Dann wird jeder von euch imstande sein, die ganze Welt durch Liebe zu gewinnen und die Sünden der Welt mit seinen Tränen abzuwaschen. Ein jeder höre auf die Stimme seines Herzens, ein jeder beichte sich selbst unermüdlich. Fürchtet euch nicht vor eurer Sünde, auch wenn ihr euch ihrer bewußt geworden seid; genug, wenn Reue vorhanden ist, aber laßt euch nicht einfallen, Gott Bedingungen zu stellen. Wiederum sage ich euch, seid nicht stolz! Seid nicht stolz gegenüber den Geringen, nicht stolz gegenüber den Großen! Hasset nicht, die euch nicht anerkennen, die euch schmähen, beschimpfen, verleumden! Hasset nicht die Atheisten, die falschen Lehrer, die Materialisten, selbst nicht die Schlechten unter ihnen, geschweige die Guten, denn auch unter ihnen sind viele Gute, besonders in unserer Zeit. Gedenket ihrer in eurem Gebet: ›Rette, Herr, alle, die niemand haben, der für sie betet. Rette auch diejenigen, die nicht zu dir beten wollen!‹
Und fügt sogleich hinzu: ›Nicht in meinem Stolz bitte ich darum, Herr, denn auch ich selbst bin ein schändlicher Mensch, schlimmer als alle und jeder ...‹ Liebet das Volk Gottes, laßt nicht zu, daß Fremdlinge euch die Herde abspenstig machen; denn wenn ihr in Trägheit und geringschätzigem Stolz und vor allem in Eigennutz einschlafet, so werden sie von allen Seiten kommen und euch eure Herde abspenstig machen. Legt dem Volke unermüdlich das Evangelium aus! Wuchert nicht! Liebet nicht Silber und Gold, haltet es nicht in eurem Besitz! Seid gläubig und haltet das Banner fest! Erhebet es hoch!«
Der Starez sprach jedoch weniger zusammenhängend, als hier nach einer späteren Niederschrift Aljoschas wiedergegeben ist. Mitunter hörte er auf zu reden, als müßte er neue Kraft sammeln, und der Atem versagte ihm; aber er befand sich in einer Art von Begeisterung. Man hörte ihm mit Rührung zu, obgleich sich viele über seine Worte wunderten und manches darin dunkel fanden. Später erinnerten sich alle an diese Worte. Als Aljoscha sich zufällig einen Augenblick entfernte, war er überrascht von der allgemeinen Erregung und Erwartung in der Zelle und um sie herum. Die Erwartung trug bei manchen einen fast unruhigen, bei anderen einen feierlichen Charakter. Alle erwarteten, daß sich sofort nach dem Hinscheiden des Starez etwas Großes ereignete. Obwohl diese Erwartung unter gewissen Aspekten beinahe etwas Leichtfertiges hatte, konnten sich ihr selbst die ernstesten und ältesten Mönche nicht entziehen. Am ernstesten war das Gesicht des Priestermönchs Paissi.
Aljoscha hatte sich nur deshalb aus der Zelle entfernt, weil Rakitin ihm einen seltsamen Brief von Frau Chochlakowa aus
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