Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
haben welches, wir haben welches ... Mama, Sie wissen selbst, wo die Flasche steht, in Ihrer Schlafstube, in dem Schränkchen rechts, da ist eine große Flasche und auch Scharpie ...«
»Sofort werde ich alles holen, Lise. Schrei nur nicht so und reg dich nicht auf! Du siehst doch, wie standhaft Alexej Fjodorowitsch sein Unglück erträgt. Wie haben Sie sich nur so furchtbar verwunden können, Alexej Fjodorowitsch?«
Frau Chochlakowa ging eilig hinaus. Darauf hatte Lisa nur gewartet.
»Vor allen Dingen beantworten Sie mir schnell eine Frage«, begann sie hastig. »Wie haben Sie es fertiggebracht, sich so zu verwunden? Doch dann will ich mit Ihnen von etwas ganz anderem reden. Nun?«
Aljoscha fühlte instinktiv, daß Lisa die Zeit bis zur Rückkehr ihrer Mama kostbar war, und erzählte ihr daher rasch, mit vielen Auslassungen und Kürzungen, aber doch genau von seiner seltsamen Begegnung mit den Schulknaben. Als Lisa alles gehört hatte, schlug sie die Hände zusammen.
»Aber wie konnten Sie nur! Wie konnten Sie sich nur, und noch dazu in dieser Kleidung, mit Schulbuben abgeben!« rief sie zornig, als ob sie irgendein Recht über ihn hätte. »Danach muß man ja glauben, daß Sie selbst noch ein Junge sind! Der kleinste Junge, den es überhaupt gibt! Stellen Sie aber unter allen Umständen Nachforschungen nach diesem abscheulichen Jungen an, und berichten Sie mir alles, da steckt irgendein Geheimnis dahinter! Jetzt das andere. Doch vorher eine Frage. Sind Sie, Alexej Fjodorowitsch, trotz Ihrer Schmerzen imstande, über ganz törichte Dinge zu reden? Vernünftig zu reden?«
»Vollkommen. Und ich fühle jetzt auch gar keinen besonderen Schmerz.«
»Das kommt, weil Ihr Finger im Wasser ist. Das Wasser muß gleich gewechselt werden, es wird sofort warm. Julija, hol schleunigst ein Stück Eis aus dem Keller. Und noch einen anderen Napf mit Wasser! So, jetzt ist sie weg, und ich komme zur Sache. Seien Sie so freundlich, lieber Alexej Fjodorowitsch, und geben Sie mir augenblicklich meinen Brief zurück, den ich Ihnen gestern geschickt habe. Augenblicklich, denn Mama kann gleich wiederkommen, und ich will nicht ...«
»Ich habe den Brief nicht bei mir.«
»Das ist nicht wahr. Sie haben ihn bei sich. Ich habe übrigens gewußt, daß Sie so antworten würden. Sie haben ihn in der Tasche. Ich habe diesen dummen Scherz die ganze Nacht bereut. Geben Sie mir den Brief sofort zurück! Geben Sie ihn her!«
»Ich habe ihn dort gelassen.«
»Aber Sie müssen mich ja wegen meines Briefes mit diesem dummen Scherz für ein kleines Mädchen halten, für ein ganz kleines Mädchen! Ich bitte Sie für den dummen Scherz um Verzeihung. Den Brief aber bringen Sie mir, bitte, unter allen Umständen zurück, wenn Sie ihn wirklich nicht bei sich haben. Bringen Sie ihn noch heute, unter allen Umständen, unter allen Umständen!«
»Heute ist es ganz unmöglich. Ich gehe ins Kloster und werde zwei, drei, vielleicht auch vier Tage nicht zu Ihnen kommen können, weil der Starez Sossima ...«
»Vier Tage, so ein Unsinn! Sagen Sie, haben Sie sehr über mich gelacht?«
»Ich habe nicht ein bißchen gelacht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich alles für wahr hielt.«
»Sie beleidigen mich.«
»Durchaus nicht. Als ich den Brief gelesen hatte, sagte ich mir sogleich, daß alles so geschehen wird. Sobald der Starez Sossima gestorben ist, muß ich sofort das Kloster verlassen. Darauf werde ich das Gymnasium absolvieren und das Examen machen. Und wenn der gesetzliche Termin gekommen ist, werden wir heiraten. Ich werde Sie lieben. Obgleich ich noch keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, habe ich mir doch gesagt, eine bessere Frau als Sie werde ich nicht finden. Und der Starez hat mir befohlen zu heiraten ...«
»Aber ich bin ein Krüppel und werde im Rollstuhl gefahren!« sagte Lisa lachend. Eine dunkle Röte hatte ihre Wangen überzogen.
»Ich werde Sie selbst im Rollstuhl fahren. Doch ich bin überzeugt, daß Sie bis dahin gesund sind.«
»Sie sind wohl nicht bei Verstand«, erwiderte Lisa nervös, »daß Sie diesen Scherz gleich zu einem solchen Unsinn ausspinnen! ... Ach, da kommt Mama zurück, vielleicht genau zur rechten Zeit. Mama, wie lange Sie immer wegbleiben! Wie ist das nur möglich? Da bringt Julija auch das Eis!«
»Ach, Lise, schrei nur nicht so, das ist die Hauptsache! Schrei nicht so! Von diesem Schreien wird mir ... Was soll ich denn machen, wenn du die Scharpie selbst an einen anderen Platz gelegt hast! Ich habe gesucht und gesucht ... Ich vermute, daß du es mit Absicht getan hast.«
»Ich konnte doch gar nicht wissen, daß er mit einem zerbissenen Finger zu uns kommt. Sonst hätte ich es vielleicht wirklich mit Absicht getan. Mama, mein Engel, Sie fangen an, außerordentlich geistreiche Dinge zu reden.«
»Meinetwegen geistreich, aber was für Empfindungen muß Alexej Fjodorowitschs Finger, muß alles andere bei mir wachrufen, Lise! Ach, lieber Alexej Fjodorowitsch, was mich tötet, sind nicht die Einzelheiten, nicht so ein Doktor Herzenstube, sondern alles zusammen, alles als Ganzes! Das ist es, was ich nicht ertragen kann.«
»Nun genug, Mama, genug von Doktor Herzenstube!« sagte Lisa lachend. »Reichen Sie mir schnell die Scharpie, Mama, und das Wasser! Es ist einfaches Bleiwasser3, Alexej Fjodorowitsch, jetzt ist mir der Name eingefallen, aber es ist ein vorzügliches Mittel. Mama, denken Sie nur, er hat sich unterwegs auf der Straße mit Schulknaben geprügelt, und ein Junge hat ihn gebissen. Na, ist er da nicht selbst noch ein Junge, der reine Junge? Und kann er unter solchen Umständen etwa heiraten, Mama? Denn können Sie sich das vorstellen, er will heiraten, Mama? Stellen Sie sich ihn als Ehemann vor – na, ist das nicht zum Lachen, ist das nicht schrecklich?«
Lisa brach in ihr nervöses leises Lachen aus und sah Aljoscha dabei schelmisch an.
»Nun, wie er heiratet, Lise, und aus welchem Grund, ist ganz und gar nicht deine Sache ... Vielleicht war dieser Bursche tollwütig?«
»Ach, Mama! Gibt es etwa tollwütige Kinder?«
»Warum nicht, Lise? Als ob ich eine Dummheit gesagt hätte! Diesen Burschen hat ein toller Hund gebissen, und da ist er selber toll geworden und beißt den ersten besten, der ihm nahe kommt. Was für einen schönen Verband sie Ihnen gemacht hat Alexej Fjodorowitsch. Ich hätte das nie so gut fertigbekommen Haben Sie jetzt noch Schmerzen?«
»Nur geringfügig.«
»Und sind Sie nicht wasserscheu?« fragte Lisa.
»Nun hör auf, Lise! Was ich von dem tollwütigen Burschen gesagt habe, war vielleicht wirklich übereilt, aber du nutzt das nun gleich aus. Katerina Iwanowna hatte kaum erfahren, daß Sie hier sind, Alexej Fjodorowitsch, als sie auch zu mir kam. Sie möchte Sie dringend sprechen.«
»Ach, Mama! Gehen Sie allein zu ihr. Er kann jetzt nicht gleich kommen, er hat zu große Schmerzen.«
»Ich habe gar keine großen Schmerzen und kann sehr wohl zu ihr gehen ...«, sagte Aljoscha.
»Wie? Sie wollen fortgehen? Also so sind Sie? So einer sind Sie?«
»Was ist denn? Sowie ich fertig bin, komme ich zurück, und wir können dann wieder miteinander reden, soviel Ihnen beliebt. Es liegt mir aber sehr daran, recht bald mit Katerina Iwanowna zu sprechen, weil ich heute möglichst bald ins Kloster zurückkehren, möchte.«
»Mama, nehmen Sie ihn und bringen Sie ihn schleunigst weg! Alexej Fjodorowitsch, bemühen Sie sich nicht, nach dem Gespräch mit Katerina Iwanowna noch einmal zu mir zu kommen! Gehen Sie direkt in Ihr Kloster, da ist Ihr Platz! Ich möchte schlafen, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«
»Ach, Lise, das sind alles nur Scherze von dir. Doch wie wäre es, wenn du jetzt wirklich ein bißchen schläfst?« rief Frau Chochlakowa.
»Ich weiß nicht, wodurch ich ... Ich werde noch ungefähr drei Minuten bleiben. Wenn Sie wollen, auch fünf«, murmelte Aljoscha.
»Auch fünf! Bringen Sie ihn bloß schnell weg, Mama! Dieses Ungeheuer!«
»Lise,