Der Geheimagent. Joseph Conrad

Der Geheimagent - Joseph Conrad


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tut. In seinen Augen stand Schreck und Empörung: es mußte furchtbar weh tun. Sein Mund klappte auf.

      Michaelis hatte unverwandt ins Feuer gestarrt und dabei das Gefühl von Einsamkeit erlangt, das bei ihm zur Entwicklung einer Gedankenreihe notwendig war. Nun begann er, rosenrote Zukunftsbilder zu malen. Er sah den Kapitalismus schon in der Wiege dem Untergang geweiht, da er von Geburt an von dem Grundsatz des Wettstreits vergiftet war. Die großen Kapitalisten verschlangen die kleinen, sammelten alle Macht und Anlagen zur Erzeugung in ihren Händen, vervollkommneten jede Erfahrung und bereiteten mit allem irrsinnigen Vergrößerungsdrang nur den gesetzlichen Erbantritt des leidenden Proletariats vor. Michaelis sprach das große Wort »Geduld« aus – und sein klarer blauer Blick, zu der niedrigen Decke von Herrn Verlocs Wohnzimmer erhoben, strahlte von inbrünstiger, engelhafter Hoffnung. Stevie unter der Türe schien beruhigt in seinen Stumpfsinn zurückgesunken.

      Das Gesicht des Genossen Ossipon zuckte vor Erregung.

      »Dann ist es also sinnlos, etwas zu tun, vollständig sinnlos –«

      »Das sage ich nicht«, wehrte Michaelis milde ab. Diesmal stand ihm die Wahrheit so klar vor Augen, daß auch der Klang der fremden Stimme nicht daran rütteln konnte. Er blickte weiter in die Glut. Es war notwendig, die Zukunft vorzubereiten, und er war bereit, zuzugeben, daß der große Wechsel sich vielleicht in einem Aufruhr vollziehen würde. Doch übersah er nicht, daß die Revolutionspropaganda eine heikle Arbeit war, die größte Gewissenhaftigkeit verlangte. Sie sollte die Herren der Welt heranziehen und keine geringere Sorgfalt erfordern als die Erziehung von Königen. Ihm schien größte Vorsicht, sogar Ängstlichkeit in der Zielsetzung geboten, angesichts unserer völligen Unkenntnis der Wirkungen, die jede wirtschaftliche Veränderung auf das Glück, die Gesittung, das Gewissen und die Geschichte haben kann. Denn die Geschichte wird mit Werkzeugen, nicht mit Gedanken gemacht; und alles ändert sich mit den wirtschaftlichen Verhältnissen – Kunst, Philosophie, Liebe, Tugend, sogar die Wahrheit selbst!

      Die Glut im Kamin fiel mit leisem Knistern zusammen; und Michaelis, der Einsiedler, der in der Wüste eines Kerkers mit Gesichten begnadet worden war, stand eifrig auf. Rund wie ein aufgepumpter Ballon öffnete er seine kurzen, dicken Arme, als wollte er in hoffnungslosem Überschwang ein aus eigener Kraft geschaffenes Weltall an seine Brust drücken. Er schnappte vor Begeisterung nach Luft.

      »Die Zukunft ist so gewiß wie die Vergangenheit – Sklaverei, Adelsherrschaft, Individualismus, Kollektivismus. Das ist die Feststellung eines Gesetzes, keine leere Wahrsagung.«

      Die Art, wie Genosse Ossipon verächtlich die Lippen aufwarf, unterstrich noch seine negerhafte Gesichtsbildung.

      »Unsinn,« sagte er verhältnismäßig ruhig, »hier gibt es weder Gesetz, noch Gewißheit. Die lehrhafte Propaganda soll der Teufel holen. Was die Leute wissen, ist gleichgültig, und wäre ihr Wissen noch so genau. Das einzige, was für uns in Betracht kommt, ist der Grad von Erregung in den Massen. Ohne Erregung gibt es keine Tat.«

      Er unterbrach sich und fügte dann mit bescheidener Festigkeit hinzu:

      »Ich spreche nun wissenschaftlich mit dir – wissenschaftlich – – wie? Was sagst du, Verloc?«

      »Nichts«, grunzte Herr Verloc vom Sofa her, der beim Klang des verabscheuten Wortes ein inniges »verflucht« vor sich hin gemurmelt hatte.

      Nun ließ sich das häßliche Geifern des alten, zahnlosen Terroristen hören.

      »Wißt ihr, wie ich die jetzigen wirtschaftlichen Verhältnisse nennen möchte? – Kannibalisch! Das sind sie! Die Herrschenden nähren sich vom zuckenden Fleisch und dem warmen Blut des Volkes – das tun sie!« Stevie schlang den furchtbaren Ausspruch mit hörbarem Gurgeln in sich hinein und sank, als wäre es ein schnell wirkendes Gift gewesen, kraftlos in sitzende Stellung auf den Stufen zur Küche nieder.

      Michaelis gab kein Anzeichen, daß er etwas gehört hatte. Seine Lippen schienen aufeinandergeleimt. Seine Backen hingen regungslos. Er spähte unruhig nach seinem runden steifen Hut und setzte ihn auf seinen runden Kopf. Sein runder unförmlicher Leib schien zwischen den Stühlen unter dem scharfen Ellenbogen von Karl Yundt wegzuschweben. Der alte Terrorist rückte mit unsicherer klauenartiger Hand einen großen, schwarzen Schlapphut zurecht, der die Höhlen und Runzeln seines verwüsteten Gesichts beschattete. Er setzte sich langsam in Bewegung und stieß bei jedem Schritt den Stock auf den Boden. Es war recht mühsam, ihn zum Hause hinaus zu bringen, da er immer wieder, wie in Gedanken, stehen blieb und keine Anstalten machte, weiterzugehen, bevor ihn nicht Michaelis vorwärtsdrängte. Der freundliche Apostel hielt ihn brüderlich liebevoll am Arm gefaßt. Hinter ihnen drein schob sich gähnend, die Hand in den Hosentaschen, der kraftvolle Ossipon. Eine blaue Mütze mit wachsledernem Schirm, weit zurück auf sein blondes Kraushaar gesetzt, gab ihm das Aussehen eines norwegischen Seemannes, der nach einer furchtbaren Bierreise mit sich und der Welt zerfallen ist. Herr Verloc begleitete seine Gäste bis zur Haustüre und verabschiedete sich barhäuptig; sein schwerer Überrock hing offen, die Augen hielt er niedergeschlagen.

      Er schloß die Türe hinter ihnen mit verhaltener Wut, drehte den Schlüssel um und schob den Riegel vor. Er war unzufrieden mit seinen Freunden. Im Licht von Herrn Vladimirs Philosophie des Bombenwerfens gesehen, erschienen sie hoffnungslos untüchtig. Da Herr Verloc bisher in der Revolutionspolitik lediglich die Rolle des Beobachters gespielt hatte, so konnte er nicht plötzlich, weder in seinem eigenen Hause, noch in größeren Versammlungen, von sich aus zur Tat drängen. Er mußte vorsichtig sein. Von der gerechten Empörung erfüllt, wie sie ein Mann von über Vierzig empfinden kann, der sich in seinem Teuersten bedroht sieht – seiner Ruhe und Sicherheit – fragte er sich verachtungsvoll, was anders wohl von einem solchen Kleeblatt zu erwarten gewesen wäre, von diesem Karl Yundt, diesem Michaelis – diesem Ossipon.

      Im Begriff, die Gasflamme im Laden abzudrehen, versank Herr Verloc in abgrundtiefe, sittliche Betrachtungen. Mit der Einsicht eines geläuterten Charakters fällte er sein Urteil. Eine faule Bande – dieser Karl Yundt, der sich von einem triefäugigen alten Weibe ernähren ließ, einem Weibe, das er vor Jahren einmal einem Freunde abspenstig gemacht und seither öfter als einmal abzuschütteln versucht hatte. Zum Glück für Yundt hatte sie sich's einmal ums andere in den Kopf gesetzt, zu ihm zurückzukehren, sonst wäre jetzt wohl niemand da, der ihm am Gitter von Green Park aus dem Autobus half, wenn er an einem schönen Morgen dort spazieren kriechen wollte. Wenn die unbändig schnatterhafte alte Hexe starb, dann mußte das wacklige Gespenst mit ihr verschwinden – dann war es mit dem kühnen Karl Yundt vorbei. Auch die Hoffnungsfreudigkeit von Michaelis gab Herrn Verloc Anlaß zu sittlicher Entrüstung; denn der wieder hatte sich an seine reiche, alte Dame gehängt, die sich kürzlich dazu verstiegen hatte, ihn auf ihr Landhaus hinauszuschicken. Der alte Sträfling konnte sich Tag für Tag in köstlicher Untätigkeit auf schattigen Wiesen wälzen. Ossipon nun gar, der Gauner, brauchte sich gewiß um nichts zu sorgen, solange es noch dumme Mädel mit Sparkassenbüchern auf der Welt gab. Herr Verloc, der im Grunde mit seinen Genossen doch so gleichgeartet war, machte innerlich auf Grund kleiner Eigenheiten feine Unterscheidungen. Er machte sie mit einer Art Selbstgefälligkeit, denn das Gefühl für bürgerlichen Wohlanstand war sehr stark in ihm, wenn auch überwuchert von seiner Abneigung gegen jede Art von ehrlicher Arbeit – ein Fehler in der Veranlagung, den er mit vielen revolutionären Reformern einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung gemein hatte. Denn natürlich empört man sich ja nicht gegen die vorteilhaften Möglichkeiten dieser Ordnung, sondern gegen den Preis, der dafür bezahlt werden muß, in Form von sittlicher Selbstbeschränkung und Arbeit. Die Mehrzahl sind Feinde von Zucht und schwerer Arbeit. Es gibt auch andere, für deren Gerechtigkeitssinn der geforderte Preis unverhältnismäßig übertrieben erscheint, verabscheuungswürdig, erpresserisch, blutsaugerisch, unerträglich. Das sind die Fanatiker. Den Rest der Rebellen treibt die Eitelkeit, die Mutter aller edlen und verwerflichen Hirngespinste, die Begleiterin von Dichtern, Reformern, Scharlatanen, Propheten und Brandstiftern.

      Eine volle Minute lang verlor sich Herr Verloc in den Abgründen dieser Erwägungen, ohne ihre letzten Tiefen ergründen zu können. Vielleicht war er dazu nicht fähig. Keinesfalls hatte er die Zeit dazu. Er schreckte auf bei der plötzlichen Erinnerung an Herrn Vladimir, noch einen seiner Bekannten, den er kraft feinster seelischer Verwandtschaft einwandfrei beurteilen konnte. Er hielt


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