Der Geheimagent. Joseph Conrad

Der Geheimagent - Joseph Conrad


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Mitgefühls, das schon in den Tagen ihrer Kindheit durch den Anblick der Leiden eines anderen Kindes krankhaft übersteigert worden war, brachte eine leise Röte in ihre bleichen Wangen und Glanz in ihre großen Augen unter den dunklen Lidern. Frau Verloc sah verjüngt aus; sie sah so jung aus, wie die Winnie früherer Tage, und sehr viel lebhafter, als die Winnie der Belgravia-Pension es sich gestattet hätte, den Junggesellenmietern zu erscheinen. Herrn Verlocs Ängste hatten ihn gehindert, in den Worten seiner Frau irgendwelchen Sinn zu suchen. Für ihn war es, als käme ihre Stimme von der anderen Seite einer sehr dicken Mauer herüber. Erst ihr Anblick brachte ihn zur Besinnung.

      Er schätzte diese Frau, und das Bewußtsein dieser Wertschätzung, durch irgend etwas wie Gefühlserregung aufgerührt, steigerte noch sein inneres Angstgefühl. Als ihre Stimme verstummte, machte er eine Bewegung der Verlegenheit und sagte:

      »Ich habe mich schon die letzten Tage her nicht recht wohl gefühlt.«

      Das war vielleicht als die Eröffnung einer richtigen Beichte gedacht; Frau Verloc aber legte ihr Haupt wieder auf das Kissen, starrte zur Decke und fuhr fort:

      »Der Junge hört zu viel von dem, was da unten gesprochen wird. Hätte ich gewußt, daß die anderen heute abend kommen wollten, so hätte ich ihn mit mir zugleich zu Bett gehen lassen. Er war ganz außer sich über irgendeinen aufgeschnappten Satz von gegessenem Menschenfleisch und getrunkenem Blut. Was hat es für einen Wert, so zu reden?«

      »Frage Karl Yundt,« knurrte er wütig.

      Frau Verloc erklärte Karl Yundt mit größter Entschiedenheit für »einen ekelhaften alten Mann«, machte dagegen kein Geheimnis aus ihrer Zuneigung für Michaelis; über den athletischen Ossipon, in dessen Gegenwart sie hinter äußerlicher Zurückhaltung stets ein inneres Unbehagen verbarg, sagte sie gar nichts und fuhr fort, von ihrem Bruder zu sprechen, der durch so lange Jahre der Gegenstand ihrer Sorgen und Ängste gewesen war.

      »Das, was hier gesprochen wird, taugt nicht für ihn. Er nimmt alles für bare Münze. Er versteht es ja nicht besser, und dann steigert er sich in seine Anfälle hinein.«

      Herr Verloc schwieg dazu.

      »Er stierte mich an, als kennte er mich nicht mehr, als ich hinunter kam. Sein Herz schlug wie ein Hammer. Er kann ja nichts dafür, daß er so erregbar ist. Ich weckte Mutter auf und bat sie, bei ihm sitzen zu bleiben, bis er eingeschlafen wäre. Es ist nicht sein Fehler. Wenn man ihn sich selbst überläßt, fällt er wirklich niemandem lästig.«

      Herr Verloc schwieg dazu.

      »Ich wünschte, er wäre nie zur Schule gegangen«, hob Frau Verloc unversehens wieder an. »Jetzt holt er sich immer die Zeitungen aus dem Fenster zum Lesen. Er wird ganz rot im Gesicht, während er sie durchstudiert. Wir verkaufen ja kein Dutzend davon in einem Monat. Sie nehmen im Ladenfenster nur Platz weg, und Herr Ossipon bringt jede Woche einen Stoß der Z.P.-Flugblätter, die zu einem halben Penny das Stück verkauft werden sollen. Ich wollte keinen halben Penny für den ganzen Pack geben. Es ist lauter Unsinn – das ist es. Und das Zeug ist nicht zu verkaufen. Neulich erwischte Stevie eins von den Blättern, und da stand eine Geschichte von einem russischen Offizier darin, der einem Rekruten das Ohr halb abriß und straflos blieb. Das Vieh! An dem Nachmittag konnte ich mit Stevie gar nichts anfangen. Die Geschichte war ja darnach, um einem das Blut in Wallung zu bringen. Aber wozu braucht man solche Sachen zu drucken? Wir sind ja keine russischen Sklaven hier, Gott sei Dank. Es geht doch uns nichts an – oder?«

      Herr Verloc antwortete nicht.

      »Ich mußte dem Jungen das Vorlegemesser wegnehmen,« fuhr Frau Verloc, nun schon ein wenig schläfrig, fort, »er schrie, strampelte und schluchzte. Er verträgt es nicht, von irgendeiner Grausamkeit zu hören. Er hätte den Offizier sicherlich wie ein Schwein abgestochen, wenn er ihn gerade in die Finger bekommen hätte. Es ist ja auch wahr! Manche Leute verdienen keine Gnade.«

      Frau Verloc verstummte, und der Ausdruck ihrer bewegungslosen Augen wurde während der langen Pause mehr und mehr beschaulich und verschleiert. »Geht es dir nun besser, mein Lieber?«, fragte sie noch leise, wie von weither. »Kann ich jetzt das Licht ausdrehen?«

      Die trostlose Überzeugung, daß es keinen Schlaf für ihn gäbe, lähmte zugleich mit der Angst vor der Dunkelheit Herrn Verlocs Zunge und Glieder. Er nahm sich mit Gewalt zusammen.

      »Ja, lösche aus«, sagte er tonlos.

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