Der Geheimagent. Joseph Conrad
Er machte kein Zeichen eines Grußes, auch Herr Verloc, der seinen Abstand zu wahren wußte, tat dies nicht; doch ein feiner Wechsel in den Umrissen seiner Schultern und seines Rückens ließ unter der weiten Oberfläche seines Überziehers eine leichte Beugung von Herrn Verlocs Rückgrat vermuten. Das ganze wirkte bescheiden und ehrerbietig. »Ich habe hier einige ihrer Meldungen«, sagte der Bureaukrat mit überraschend milder und müder Stimme, während er die Spitze seines Zeigefingers nachdrücklich auf die Papiere legte; er machte eine Pause, und Herr Verloc, der seine eigene Handschrift sehr gut erkannt hatte, wartete in atemlosem Schweigen. »Wir sind nicht sehr zufrieden mit der Haltung der hiesigen Polizei«, fuhr der andere fort, mit allen Anzeichen geistiger Ermüdung.
Herrn Verlocs Schultern deuteten, ohne sich eigentlich zu bewegen, ein Zucken an, und zum erstenmal an diesem Morgen, seitdem er sein Heim verlassen hatte, öffneten sich seine Lippen.
»Jedes Land hat seine Polizei«, bemerkte er nachdenklich, doch da der Beamte der Gesandtschaft ihn unverwandt anblinzelte, fühlte er sich verpflichtet, hinzuzufügen: »Gestatten Sie die Feststellung, daß ich keine Möglichkeit habe, auf die hiesige Polizei einzuwirken.«
»Was gewünscht wird,« sagte der Mann mit den Papieren, »ist irgendein entscheidendes Ereignis, das ihre Wachsamkeit wecken müßte. Das läge wohl in Ihrer Macht, oder nicht?«
Herr Verloc antwortete nur mit einem Seufzer, der ihm unwillkürlich entschlüpfte, und versuchte augenblicklich, seinem Gesicht einen heiteren Ausdruck zu geben. Der Beamte blinkerte stärker, wie angegriffen von dem trüben Licht im Zimmer, und wiederholte tonlos:
»Die Wachsamkeit der Polizei – und die Strenge der Behörden! – Die allgemeine Milde des Gerichtsverfahrens hier und das völlige Fehlen von Unterdrückungsmaßnahmen sind ein europäischer Skandal. Was grade jetzt gewünscht wird, ist die Betonung der Rastlosigkeit – der Gärung, die zweifellos vorhanden ist.«
»Zweifellos, zweifellos«, fiel Herr Verloc ein, in einem tiefen, ehrfürchtigen Volksrednerbaß, so grundverschieden von seinem früheren Sprechton, daß sein Gegenüber lebhaft überrascht schien. »Die Gärung hat einen gefährlichen Grad erreicht, meine Meldungen während der letzten zwölf Jahre beweisen das zur Genüge.«
»Ihre Meldungen während der letzten zwölf Jahre«, begann Staatsrat Wurmt in seinem höflichen und leidenschaftslosen Tone, »sind von mir gelesen worden. Ich konnte nicht entdecken, warum Sie sie überhaupt geschrieben haben.«
Eine Zeit lang herrschte trübes Schweigen. Herr Verloc schien seine Zunge verschluckt zu haben, und der andere starrte auf die Papiere auf dem Tisch. Schließlich gab er ihnen einen leichten Stoß.
»Der Zustand, den Sie hier beschreiben, ist, als Grundbedingung für Ihre Anstellung, als bestehend angenommen; nun ist es nötig, nicht zu schreiben, sondern ein entscheidendes Geschehnis zustande zu bringen – ich möchte fast sagen, ein furchterregendes Geschehnis!«
»Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß mein ganzes Bestreben darauf gerichtet sein wird«, sagte Herr Verloc mit bebender Überzeugung, in seinem heiteren Gesprächston. Das Bewußtsein aber, hinter den Blendscheiben der Augengläser auf der anderen Seite des Tisches wachsam angeblinkert zu werden, beunruhigte ihn. Er brach kurz ab, mit einer Gebärde unbedingter Ergebenheit. Das wichtige, hart arbeitende, wenn auch nach außen hin unbekannte Mitglied der Gesandtschaft schien plötzlich einen Einfall zu haben.
»Sie sind sehr wohlbeleibt«, sagte er.
Diese Bemerkung, von feiner Psychologie eingegeben und mit dem bescheidenen Zögern eines Beamten vorgebracht, der mit Tinte und Papier vertrauter ist, als mit den Anforderungen des tätigen Lebens, traf Herrn Verloc wie ein scharfer, persönlicher Vorwurf. Er trat einen Schritt zurück.
»Wie? Was belieben Sie zu sagen?« rief er aus, heiser vor Kränkung.
Der Siegelbewahrer der Gesandtschaft, mit der Führung dieser Unterredung betraut, schien sich der Aufgabe nicht länger gewachsen zu fühlen.
»Ich glaube,« sagte er, »Sie sollten lieber mit Herrn Vladimir sprechen. Ja gewiß, Sie sollten mit Herrn Vladimir sprechen. Wollen Sie bitte hier warten«, sagte er und tänzelte hinaus.
Sofort strich sich Herr Verloc mit der Hand über das Haar. Ein leichter Schweiß war auf seiner Stirne ausgebrochen. Er ließ die Luft aus den geblähten Lippen aus, wie ein Mann, der auf einen Löffel heißer Suppe bläst. Als aber der Lakai in Braun stumm in die Türe trat, hatte Herr Verloc sich keinen Zoll breit von der Stelle gerührt, die er während der ganzen Unterredung eingenommen hatte. Er war reglos stehen geblieben, als fühlte er sich von Fallgruben umgeben.
Nun schritt er durch einen langen, von einer einsamen Gasflamme erleuchteten Gang, dann eine Flucht gewundener Treppen empor, durch einen verglasten, lichten Flur im ersten Stock. Der Lakai stieß eine Tür auf und trat beiseite. Herr Verloc fühlte einen dicken Teppich unter seinen Füßen. Der Raum war groß, mit drei Fenstern; und ein junger Mann mit glatt rasiertem, großem Gesicht, der in einem geräumigen Armstuhl vor einem mächtigen Mahagonischreibtisch saß, sagte auf französisch zu dem Staatsrat, der mit den Papieren in der Hand hinausging:
»Sie haben ganz recht, mein Lieber, er ist fett – der Bursche.«
Herr Vladimir, der erste Sekretär, war in den Salons bekannt als angenehmer und unterhaltender Mann. Er war ein Liebling der Gesellschaft. Sein Witz gipfelte in der Herstellung lächerlicher Beziehungen zwischen durchaus nicht zusammengehörenden Gedanken. Und wenn er dieses Spiel trieb, so saß er weit vorgebeugt, die linke Hand erhoben, als wollte er seine spaßhaften Beweise zwischen Zeigefinger und Daumen hochhalten, während sein rundes, glatt rasiertes Gesicht den Ausdruck komischer Verwunderung trug.
In dem Blick, den er jetzt auf Herrn Verloc richtete, lag aber weder Heiterkeit noch Verwunderung. Zurückgelehnt in seinem tiefen Armstuhl, die Ellbogen gespreizt und ein Bein über ein dickes Knie gelegt, sah er mit seinem glatten, rosigen Gesicht wie ein übernatürlich rasch gewachsener Säugling aus, der sich von niemand etwas gefallen lassen will.
»Ich nehme an, Sie verstehen Französisch«, sagte er.
Herr Verloc bejahte heiser. Sein ganzer, großer Körper zeigte eine Neigung nach vorne. Er stand auf dem Teppich mitten im Zimmer, Hut und Stock in eine Hand geklemmt; die andere hing leblos an seiner Seite. Er murmelte bescheiden in tiefem Kehltone einiges, wie, daß er bei der französischen Artillerie gedient habe. Sofort wechselte Herr Vladimir mit launischer Nichtachtung die Sprache und fuhr in englischer Mundart fort, ohne den leisesten Anklang fremder Aussprache:
»O ja, natürlich; – sagen Sie nur, wieviel bekamen Sie für die Beschaffung der Zeichnungen zu den verbesserten Verschlußstücken der neuen Feldgeschütze?«
»Fünf Jahre schweren Kerker in einer Festung«, gab Herr Verloc unerwartet zurück, doch ohne jedes betonte Gefühl.
»Da sind Sie billig davongekommen«, war Herrn Vladimirs Antwort. »Und jedenfalls ist Ihnen recht geschehen, weil Sie sich erwischen ließen. Wie sind Sie dazu gekommen?«
Man hörte Herrn Verlocs heisere Gesprächsstimme von Jugend reden, von einer unglücklichen Neigung zu einer unwürdigen – –
»Aha, cherchez la femme«, geruhte Herr Vladimir zu unterbrechen, nachlässig, doch ohne Freundlichkeit. Es lag sogar eine Spur von Grimm in seiner Herablassung. »Wie lange werden Sie schon von unserer Gesandtschaft verwendet?« fragte er.
»Seit den Tagen des verstorbenen Barons Stott-Wartenheim«, antwortete Herr Verloc unterwürfig und schob betrübt die Lippe vor, als Zeichen des Kummers um den verblichenen Diplomaten. Der erste Sekretär beobachtete schweigend dieses Mienenspiel.
»Ah, seit damals ... nun gut, was haben Sie für sich vorzubringen?« fragte er dann scharf.
Herr Verloc gab einigermaßen überrascht zurück, daß er nichts Besonderes zu sagen wisse, er sei brieflich bestellt worden – und dabei griff er geschäftig in die Seitentasche seines Überziehers, ließ aber unter dem spöttischen Späherblick Herrn Vladimirs seine Hand darin stecken. »Bah,« sagte der, »was soll es denn