Handover. Alexander Nadler

Handover - Alexander Nadler


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abzeichneten, andeutete. Deutlich spürte er einen Stich in der Herzgegend, als sich ihre Blicke für Sekundenbruchteile trafen. Im Laufe der nächsten halben Stunde, die sie wiederum zeichnend verbrachte, schielte sie noch einige Male verstohlen zu ihm herüber, wandte sich aber sofort wieder ihrer Arbeit zu, wenn sie feststellte, dass seine Blicke die ihren kreuzten. Eigentlich war es seinerseits ein Starren, ein verzaubertes Starren. Gerne hätte er mit ihr Kontakt aufgenommen, sah sich jedoch schon als Eindringling abgewimmelt; unentschlossen, was er tun solle, ließ er sodann geschehen, dass sie aufstand, ihre Sachen in die lederne Umhängetasche stopfte und - noch einmal sekundenschnell Blickkontakt aufnehmend - schließlich ging. Grüblerisch und sich am liebsten selbst in den Hintern tretend ob seiner Unentschlossenheit, verlor er sie in der Menge aus den Augen, blieb noch eine Weile sitzen und machte sich dann gleichfalls auf den Weg, in der Hoffnung, ihr Bild werde unter dem Eindruck der auf ihn einflutenden neuen optischen Reize allmählich verlöschen. Als er bei Einbruch der Dunkelheit bei seinem Bruder ankam, musste er sich allerdings unumwunden eingestehen, dass der Nachmittag wie im Traum an ihm vorübergezogen war, er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wo er gewesen war, was er gehört, gerochen, gesehen hatte, außer dem einen, nicht aus seinen Sinnen weichenden Bild: ihr Bild, das ständig vor seinen Augen stand, ihn selbst beim gemeinsamen Abendessen mit seinem Bruder zum wortkargen Zuhörer machte, dem, weil er sie aufgrund seiner Geistesabwesenheit nicht verstand, jede Frage zwei-, dreimal gestellt werden musste. Philipp merkte rasch, dass irgendetwas nicht stimmte, bohrte aber nicht weiter. Dies taten beide nicht, da waren sie sich einig: Wer etwas wollte, sagte es, aus freien Stücken. Er war weiß Gott kein guter Gesprächspartner an diesem Abend, sein Beitrag beschränkte sich weitestgehend auf ein gelegentliches Nicken und ein kurz hingehauchtes ‚Ja‘ oder ‚Nein‘. So zog er sich denn beizeiten zurück und sank, noch immer ihr Bild vor Augen, nach längerem Sinnieren in einen traumerfüllten Schlaf, in dem er sie wiedersah, mal ganz nahe, dann wieder ganz fern, so als spiele sie mit ihm.

      Zeitig am nächsten Tag wachte er auf, reicherte als Entschädigung für sein Verhalten am vorangegangenen Abend den Frühstückstisch neben frischen Croissants und Brötchen mit Obst und Müsli an und legte, als dieser zum Frühstück erschien, seines Bruders Lieblings-CD ein. Da es Samstag war und Philipp frei hatte, fuhren sie raus; sein Bruder zeigte ihm die Umgebung. Unter der warmen Frühlingssonne, abgelenkt von regen Diskussionen und der durch Albereien aufgeheiterten Atmosphäre verblasste jenes Bild vorübergehend, das einen bis dato für ihn unbekannten seelischen Druck auf ihn ausgeübt hatte, ohne dass es jedoch völlig wich. Im Gegenteil, in Augenblicken, in denen die äußeren Sinneseindrücke sich abschwächten, bahnte es sich immer wieder aufs Neue Bahn durch das Gewirr der Gedanken und Emotionen, das Hier und Jetzt bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund drängend, um sodann erneut im schemenhaften Zwielicht geistiger Irrungen und Wirrungen zu versinken.

      Das gemeinsam verbrachte Wochenende brachte ihn auf andere Gedanken, und so brach er am Montagmorgen zu neuen Streifzügen auf. Im Nachhinein war er sich nicht mehr klar darüber, ob es Zufall war oder er von blinden Instinkten geleitet wurde, jedenfalls stieß er wiederum auf die Piazza Castello und nahm, als er sich dem Brunnen näherte, die Gestalt jenes Mädchens wahr, die ihm seit der ersten Begegnung nicht mehr aus dem Kopf ging. Ein sechster Sinn schien ihr seine Anwesenheit zu signalisieren, drehte sie sich doch mit einem Mal um und bohrte ihren Blick länger als bei ihrer ersten Begegnung in den seinen. Und erneut registrierte er jenes Stechen in der Herzgegend, seine Kehle schien wie zugeschnürt, ausgetrocknet. Er verspürte derart starkes Verlangen nach ihr in sich aufsteigen, dass er wie von fremder Hand gelenkt geradewegs auf sie zuschritt. Diese zweite Gelegenheit wollte er sich auf gar keinen Fall entgehen lassen, also setzte er sich kaum einen Meter von ihr entfernt auf den Brunnenrand und folgte neugierig, Kontakt suchend, ihrer Zeichenarbeit. Der Stift zwischen ihren schlanken Fingern, deren Nägel zart rot lackiert waren, zauberte filigrane Szenenbilder des Geschehens rings um sie herum aufs Papier. Nagellackfarbe und Bluse waren von gleicher Farbe und auch die Hose war nur eine Nuance dunkler. Seiden glänzte ihr Haarzopf in der frühnachmittäglichen Sonne. Seine Nervosität trieb den Schweiß noch schneller und intensiver in ihm hoch als es die abgestandene Hitze des Platzes ohnehin vermocht hätte. Des Italienischen unkundig, unternahm er schließlich den Versuch, auf Englisch Kontakt mit ihr aufzunehmen, in der Hoffnung, keine Abfuhr zu erhalten. Rückblickend erschienen ihm derlei Bedenken später beinahe als lächerlich, denn sie schien geradezu darauf gewartet zu haben von ihm angesprochen zu werden. Fast erleichtert wandte sie sich ihm zu, zeigte ihm ihre Skizzen, nahm sein anerkennendes Urteil mit in die Wangen schießender Röte entgegen. Ihr Lächeln, ihre Gestik, ihre mit leichter Scham erfüllte Verlegenheit versetzten ihn in einen Taumel glutheißer Gefühle, derer er sich beinahe schämte, glaubte er doch, seine stark auf erotischem Verlangen basierenden Gefühle stünden ihm allzu offenkundig ins Gesicht geschrieben. Wie sich herausstellte, studierte sie an der Kunstakademie und verbrachte ihre Pausen regelmäßig mit dem Zeichnen von Skizzen irgendwo in der Stadt, besonders gerne aber auf diesem Platz. Und wie sie ihm später einmal gestand, war es keineswegs Zufall, dass sie sich an diesem Montag wieder auf der Piazza aufhielt, vielmehr war sie sogar am Wochenende dorthin gegangen, in der Hoffnung, ihn wiederzusehen.

      Da sie noch eine reichliche Stunde bis zu ihrem nächsten Kurs frei hatte, lud er Isabel zu einem Eis ein, das ihm in ihrer Gegenwart doppelt gut schmeckte. Mit den Augen des Fotografen setzte er sie gedanklich in Pose, porträtierte ihr strahlendes Lächeln, umwallt von den kastanienbraunen, momentan zopfartig gebändigten Locken, die ihre hellgrünen Augen nachdrücklich zum Leuchten brachten. Pochenden Herzens blieb er zurück, als sie zu ihrem Nachmittagskurs aufbrach. Voll freudiger Erregung, die jener glich, die er empfunden hatte, als er sich in seinen ersten Schulschwarm vernarrte, bestellte er sich noch einen Cappuccino, den er, die stimmungsgeladene Nachmittagssonne auf dem Gesicht, genüsslich schlürfte. Ihre Person für ihn noch immer unsichtbar anwesend, bat er, die nächsten achtundvierzig Stunden möchten möglichst rasch vorübergehen, konnte er sie doch, da sie in den kommenden beiden Tagen ganztägig in der Akademie beschäftigt war, erst dann wiedersehen. Offensichtlich vermochte man ihm sein Glücksempfinden leicht anzusehen, jedenfalls kam es ihm so vor, als ob die beiden älteren Damen am Nebentisch sich amüsiert über ihn unterhielten, wobei sie ihm ein wohlwollendes, wohlwissendes Lächeln zuzuwerfen schienen.

      Spätestens als er Isabel wiedersah, wusste er, dass es kein Zurück mehr gab. Das um die Taille eng geschnittene, türkisfarbene Kleid unterstrich ihre Weiblichkeit auf gleichsam betörende Art und Weise, der bis in die Höhe der Kniekehlen gerutschte Saum gab ihre langen, gleichmäßig geformten Beine frei. Und zum ersten Mal trug sie ihre Haare offen - ein kastanienbrauner Rauschgoldengel schien ihm vom Himmel gefallen zu sein. Sie nahm ihn mit zu einigen Orten, die er noch nicht kannte, wofür er sich mit einem Mittagessen in einem heimeligen kleinen Hinterhofrestaurant revanchierte, das sie ihm als eine ihrer Lieblingslokalitäten in der Stadt vorstellte. Stundenlang konnte er ihren Erklärungen und Anekdoten lauschen, mit denen sie ihre stadtkundigen Ausführungen während ihres gemeinsamen Spazierganges würzte. Dann, als der abendliche Berufsverkehr anschwoll, nach einem Espresso und einer dieser unvergleichlichen, auf der Zunge zergehenden Eiscremes, hakte sie sich bei ihm unter, unvermutet, insgeheim aber sehnlichst herbeigewünscht, so wie sich nur Menschen unterhaken, in deren Herzen das lodernde Feuer frisch entfachter Liebe prasselt. Ob sie wohl das Hämmern in seinen Schläfen spürte, dessen Ursache das in seinen Adern wallende Blut war, das von einer Kaskade unkontrollierbarer Emotionen angetrieben wie wild durch seine Blutbahnen schoss.

      Während sie weiter durch die einsetzende Abenddämmerung streiften, zog er sie allmählich immer näher an sich heran, wobei sie seinem unausgesprochenen Wunsch nur allzu gerne folgte, ja fast erleichtert schien, als er letztendlich seinen Arm um ihre Schulter legte und sie so in den Abend hineinspazierten. Erst die kühle Brise, die urplötzlich die Straße entlangstrich, weckte sie aus ihren Träumereien, denen beide die letzte halbe Stunde lang wortkarg nachgehangen waren, die Wärme des jeweils anderen am eigenen Körper spürend. Wahrscheinlich erwartete sie, dass er sie beim Abschied küsste, doch beließ er es bei einem Wangenkuss, der jedoch unmissverständlich spüren ließ, welcher Art ihr gegenüber seine Gefühle waren.

      Obwohl er sich im Prinzip darüber im Klaren war, was er ihr gegenüber empfand, spürte er doch den Wunsch nach etwas Bedenkzeit, galt es doch schließlich - im Falle einer Bindung - die ins Auge gefassten Vorhaben zu revidieren beziehungsweise


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