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vergangenen knappen Jahres oft genug durchgesprochen. Wir haben uns, so schwer es auch sein mag, mit dem Unvermeidbaren abgefunden. Das heißt nicht, dass wir nicht das Menschenmögliche unternehmen werden, um unserem Kind zu helfen, doch sollte man realistisch sein. Sie können mir glauben, dass es mir das Herz zerrissen hat, als uns Isabel vor ein paar Tagen ihr Herz ausgeschüttet hat, uns von Ihnen erzählt hat. Ich weiß, dass sie Sie liebt, obwohl sie sich nicht verlieben wollte … den anderen zuliebe. Sie hatte viele Verehrer, was ja auch kein Wunder ist, nicht wahr?“ Mutterstolz klingt aus den letzten Worten. „Und doch hat Isabel es niemals zugelassen, dass daraus mehr wurde als bloße Freundschaft. Es ist nicht leicht, mit sieben-undzwanzig Jahren alle Angebote in den Wind zu schlagen. Die Jugend ist heute so leichtsinnig, so ziellos, so orientierungslos. Sie hat keine Ideale mehr, für die es sich ihrer Meinung nach lohnt Opfer zu bringen. Sie will alles möglichst sofort haben, wobei jeder Einzelne oft, sehr oft nur an sich selbst denkt. Der Nächste bleibt auf der Strecke, soll er doch schauen wie er weiterkommt. Und sie hat zu viel Geld in den Taschen. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Sicher, wir sind wohlhabend, doch haben wir unseren Kindern nie viel Geld gegeben, solange sie nicht damit vernünftig umzugehen wussten. Sie wollten es aber auch gar nicht. Was wir ihnen zu geben versucht haben, war elterliche Liebe und eine gute häusliche Erziehung, Dinge, die heute bedauerlicherweise vielfach arg zu kurz kommen. Derlei kann man mit Geld nicht kaufen, auch wenn die Masse sich heute einbildet, mit Geld sei alles machbar, was letztendlich nur dazu führt, dass einer den anderen großspurig auszustechen versucht. Doch guter Elternwille allein nutzt leider nichts, dies mussten wir schmerzhaft erkennen, auch die Gesellschaft muss ihren Teil dazu beitragen, und bedauerlicherweise versagt sie dahingehend heutzutage viel zu oft. Wir haben uns nie vorstellen können, dass eines unserer Kinder einmal auf die schiefe Bahn gerät. Und dass es ausgerechnet Isabel sein würde... Wenn schon, dann eher einer ihrer beiden Brüder, obwohl auch sie uns niemals wirklich Ärger bereitet haben. Wir waren fassungslos, als wir von Isabels Heroinsucht erfuhren. Wie oft haben wir uns gefragt, was wir falsch gemacht haben. Auch Sie würden sich dies in solch einem Moment fragen. Gegen die verantwortungslose Vergnügungssucht und Gier nach immer neuen Exzessen vieler Jugendlicher - doch nicht nur Jugendlicher - ist man allerdings auch als Mutter und Vater leider kaum gewappnet, zu viele Lockungen und Verlockungen lauern in unseren Tagen allerorten. Und wer von den jungen Leuten traut sich schon noch all den Verführungen zu entsagen, gilt man doch sofort als Sonderling, Schlappschwanz und Feigling, wenn man nicht jeden noch so irrsinnigen und überflüssigen Blödsinn mitmacht. Es ist sicherlich nicht einfach abseits zu stehen, denn wer nicht mitmacht, gilt als Spielverderber und Miesepeter, als Eigenbrötler, den man links liegen lässt. Ethisch-moralische Werte zählen heutzutage leider kaum noch etwas, was ja auch kein Wunder ist angesichts der zwiespältigen Moral derjenigen, die sich gerne als Leitfiguren und Vorbilder ausgeben, oder besser gesagt, sich entsprechend darzustellen wissen, und von der dumpfen Masse auch noch für solche gehalten werden. Aber so sehr es uns geschmerzt hat, was passiert ist, wir haben Isabel keine Vorwürfe gemacht. Dies schien uns keine adäquate Lösung. Wir haben stattdessen versucht ihr all jene Zuneigung zu schenken, die ein Mensch in ihrer Lage benötigt, und sie hat es geschafft - weil sie den Willen dazu hatte. Wir waren alle so glücklich darüber, dass wir es später zunächst ebenso wenig wahrhaben wollten wie sie selbst, als wir erfuhren, dass sie Aids hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach muss sie für ihren Leichtsinn - oder war es Naivität - bitter bezahlen, doch lieben wir unsere Tochter heute mehr als je zuvor, denn jeder Tag, der ihr geschenkt ist, ist ein Geschenk des Himmels, für das wir alle dankbar sind. Daher weiß ich, wie Ihnen zumute ist, wenn sie Ihnen sagt, sie möchte Sie nicht mehr sehen. Sie hat uns bezüglich ihres Verhältnisses zu Ihnen um Rat gefragt, doch haben wir die Entscheidung ihr überlassen. Glauben Sie mir, es war sehr, sehr schwer für sie, sich zu einem Entschluss durchzuringen. Wir, ich meine meinen Mann und mich, wir haben es ihr angesehen, welche Qualen er ihr bereitete, doch möchte ich Sie, auch wenn wir Sie überaus schätzen, hiermit bitten, den Entschluss unserer Tochter zu respektieren.“ Es ergab sich für ihn keine Gelegenheit, sich dazu zu äußern. „Nein, lassen Sie mich bitte ausreden“, kam ihm Isabels Mutter zuvor, „Sie haben wirklich einen überaus positiven Eindruck auf uns gemacht, wir wissen, spüren, dass sie unsere Tochter aufrichtig lieben, dies war unschwer zu bemerken. Möglicherweise, nein, höchstwahrscheinlich sogar, könnten Sie sie in dieser schwierigen Phase auf andere Gedanken bringen. Verzeihen Sie mir meine Offenheit, meine Direktheit, aber Sie müssen sich im Klaren darüber sein, dass Sie Isabel nie so werden lieben können wie Sie dies möchten, ich meine körperlich, als Mann. Seien Sie sich selbst gegenüber ehrlich: Können Sie darauf verzichten? Und platonische Liebe allein würde sie beide auf Dauer nicht glücklich machen! Im Gegenteil, das Nebeneinander, Miteinander würde im Laufe der Zeit für sie beide zur Qual, spätestens zu dem Zeitpunkt, wenn die Krankheit voll zum Ausbruch kommt. Haben Sie schon einmal einen Aidskranken im Endstadium gesehen? Mein Mann und ich, wir waren in der Klinik, haben es uns angeschaut, bewusst, um uns vorzubereiten. Ein Freund von uns ist Chefarzt, er hat Isabel untersucht und uns ein paar Fälle gezeigt, damit wir wüssten, was auf uns zukäme, wie wir dann helfen könnten. Wir, und sicherlich auch Isabel, möchten Ihnen dies ersparen, nicht weil wir Sie nicht für Manns genug halten, dies zu ertragen, sondern um Isabel so in Erinnerung zu behalten, wie sie heute ist, denn nichts ist schlimmer als den Menschen, den man liebt, auf derart schreckliche, qualvolle Art und Weise dahinsiechen, sterben zu sehen, denn dadurch wird so ziemlich alles zerstört, was man in Stunden des gemeinsamen Glücks empfunden hat. Und auch für Isabel wäre es unerträglich, wenn sie wüsste, dass Sie mit ansehen müssten, wie sie vor Ihnen zum hilflosen Bündel Elend verfällt. Sie möchte ganz einfach, dass Sie sie so in Erinnerung behalten wie sie jetzt ist, wie Sie sie lieben gelernt haben. Verzeihen Sie mir diese deutlichen, möglicherweise harten Worte, Herr Duchamp, dass ich anstelle meiner Tochter so offen und schonungslos mit Ihnen darüber spreche, doch wir alle wissen, was auf uns zukommt … und wir haben uns schweren Herzens damit abgefunden. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir machen Ihnen keine Vorschriften, bitten Sie aber inständig, Isabels Wunsch zu respektieren.“

      Ihm war klar, dass hier die um ihre Tochter besorgte Mutter sprach, und dass sie meinte, was sie sagte. Der Appell an die Respektierung des geäußerten Wunsches, der keinem, weder Isabel noch ihren Eltern, leichtgefallen zu sein schien, empfand er zwar verständlich und durchaus nachvollziehbar, ihn aber auch zu akzeptieren, dazu fand er sich so schnell nicht bereit.

      „Würden Sie uns bitte einen Augenblick allein lassen, Frau Alberti.“ Isabels Mutter kam seiner Bitte unverzüglich nach, ging ins Haus voran. „Isabel, willst du wirklich, dass wir uns nicht wiedersehen?“, fuhr er - seiner Geliebten zugewandt - fort. „Glaubst du, ich kann dich so einfach vergessen, dich aus meinem Leben streichen? Die Stunden mit dir haben mir sehr viel bedeutet, sie waren etwas Besonderes! Glaube mir, nie habe ich ein Mädchen mehr geliebt, mehr begehrt als dich! Ich habe keine Angst vor dem, was kommen mag ... und noch gibt es Hoffnung!“

      „Ich habe nichts anderes von dir erwartet, Claude“, erwiderte die Angesprochene, Angeflehte. „Vielleicht kannst du verstehen, wie schwer es mir gefallen ist, dir dies zu sagen, aber glaube mir, ich halte es trotzdem für das Beste.“

      Noch einmal zog er sie zu sich heran, starrte sie flehend an: „Wenn dies wirklich dein Wunsch ist, so werde ich ihn respektieren, obwohl ich es noch nicht glauben kann.“

      „Wenn du mich liebst, und ich weiß, du tust dies, dann versuche mich und meine Eltern zu verstehen. Und bitte, bitte glaube mir, auch ich liebe dich, wider jede Vernunft, und jeden Tag, den wir zusammen sind, wird es nur noch schlimmer. Erspare uns beiden die Qual! Behalte die schönen Stunden, die wir zusammen verbracht haben in Erinnerung ... auch ich werde sie niemals vergessen. Selbst wenn wir uns nicht wiedersehen, so sollten wir in Freundschaft auseinandergehen, sollten uns in Zukunft an das Positive erinnern, das einer dem anderen gegeben hat.“

      Mit zugeschnürter Kehle, die Stimme vom Anbranden unsäglicher Traurigkeit nahezu erstickt, murmelte er ein kaum vernehmbares: „Ja“, schmiegte sie liebevoller als jemals zuvor an sich und verharrte so schluchzend minutenlang mit ihr in der hereinbrechenden Nacht, unfähig sich von ihr zu lösen, ein Kapitel seines Lebens zu schließen, das doch eigentlich gerade erst begonnen hatte. Einander eng umschlungen haltend gingen sie schließlich ins Haus, wo er sie ein letztes Mal nach der Endgültigkeit ihres Wunsches


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